Warum wir uns vor Moralisten hüten sollten

Warum wir uns vor Moralisten hüten sollten

Warum wir uns vor Moralisten hüten sollten

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Unsere Regierung betreibt eine „wertegeleitete“ Politik und wird darin von großen Teilen der Politischen Klasse und den Medien unterstützt. Dass diese Politik Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach wirtschaftlich ruinieren wird und den Ukrainekrieg zu einem dritten Weltkrieg eskalieren könnte: das ist einem Robert Habeck und seinen politischen Freunden entweder egal oder sie sind nicht dazu in der Lage, es zu begreifen. Diese Problematik analysiert der Politikwissenschaftler Michael Lüders in seinem neuen Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen“. Unser Autor Udo Brandes hat es für die NachDenkSeiten gelesen und stellt es vor.

Was mir persönlich an der Lektüre von Michael Lüders’ Buch Spaß gemacht hat, ist seine Bezugnahme auf den Klassiker der politischen Philosophie, Niccolò Machiavellis „Der Fürst“. Denn ich bin ein Fan von Machiavellis Schriften und studiere sie immer wieder neu, und das, obwohl er den Ruf eines ganz „Bösen“ hat – und seine Name heute ein Synonym für skrupellose Machtpolitik ist, etwa wenn man über einen Politiker sagt, dieser sei ein „Machiavellist“. Dies aber wird Machiavelli ganz und gar nicht gerecht. Er ist vermutlich aus einem anderen Grund verschrien: Weil er im „Fürsten“ die Betriebsgeheimnisse der Politik ausgeplaudert hat und Politik so analysiert und beschreibt, wie sie wirklich ist. Lüders schreibt über ihn:

„Vorneuzeitlich war Politik mit Religion und Moral verschmolzen. Mit Beginn der Neuzeit (…) vollzog sich in Europa an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert sukzessive die Trennung von Politik und Moral. (…) Der entscheidende Impulsgeber für diesen Bruch des Politischen mit der Moral war der Florentiner Philosoph und Politiker Nicolò Machiavelli (1469-1527). Nachgerade traumatisiert von der Zersplitterung Italiens in Kleinstaaten, beschwor er ein vereintes Land unter Führung des von ihm idealtypisch beschriebenen ‚Fürsten‘, italienisch ‚il Principe‘. Das gleichnamige Buch gilt als das erste Werk politischer Philosophie“ (S.97).

Aus Machiavellis Sicht macht politisches Handeln nur dann Sinn, wenn es dem Staat nützt. Dabei habe Moral nichts zu suchen, denn eine moralische Haltung könne in einem Umfeld aus Habgier, Hinterlist und Heuchelei nur von Nachteil sein. Oder anders ausgedrückt: Ein Herrscher, der versucht, moralisch zu sein, wird schnell das Opfer seiner Gegenspieler, weil diese eben nicht moralisch handeln. Dass in der Politik die Unmoral herrscht – auch bei denen, die die Moral für sich reklamieren – wer wollte das ernsthaft bezweifeln?

Aus Machiavellis Sicht eine Idiotie

Wie würde Machiavelli die deutsche und westliche Politik gegenüber Russland beurteilen? Lüders schreibt dazu Folgendes:

„Aus Machiavellis Sicht wäre daher die westliche Antwort auf ‚den russisch geführten Angriffskrieg in der Ukraine‘ wenig mehr als eine verantwortungslose, weil die Grundlagen des Staates und des Gemeinwohls beschädigende Idiotie“ (S. 97-98).

In der Tat eine Idiotie, denn:

„Was insbesondere europäische Entscheider entweder nicht verstehen oder aus Gründen der Selbstinszenierung nicht wahrhaben wollen: Es ist unmöglich, russische Energieressourcen umfassend zu boykottieren. Also wird das russische Erdöl neu etikettiert und erreicht beispielsweise Deutschland als indisches Benzin. Natürlich zu fantastischen Aufpreisen“ (S.43).

Und wer profitiert davon? Zum einen natürlich Indien. Aber auch noch ein anderer Staat:

„Der Markt ist offenbar dermaßen lukrativ, dass laut Bloomberg große US-Konzerne wie Exon Mobil und Chevron bereitstehen, in großem Umfang in den Ausbau der indischen Öl- und Gasindustrie zu investieren, die dank der westlichen Sanktionen gegen Russland einen Aufschwung sondergleichen nimmt. So sehr, dass amerikanische Investoren erwägen, auch US-Erdöl in Indien raffinieren zu lassen. Washington hat übrigens keine Einwände gegen diese Umweg-Geschäfte – sie stabilisieren die Weltmarktpreise für Erdöl. Kapitalismus in Gestalt von Dadaismus: eine konsequent betriebene Irrationalität – auf Kosten der Umwelt, zugunsten eines voranschreitenden Klimawandels“ (S.43).

Wie war das doch noch gleich? Was antwortete Mephisto Doktor Faust, der ihn fragte, „Nun gut, wer bist du denn?“. Mephisto antwortet:

„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft“ (Goethe, Faust, Eine Tragödie, Szene im Studierzimmer, Vers 1135-1137).

Und damit wären wir auch schon bei den Moralisten und Gutmenschen. Denn: Mephistos Satz lässt sich nicht nur umkehren. In der Politik ist diese Umkehrung nur allzuoft Realität:

„Ich bin ein Teil jener Kraft, die stets das Gute will, und stets das Böse schafft“.

Moral hat in der Politik nichts zu suchen

Was kann man aus all dem schließen? Moral hat in der Politik nichts zu suchen, weil sie nicht zu Lösungen führt, sondern Konflikte eskalieren lässt. Die Geschichte zeigt immer wieder, dass Menschen, die überzeugt sind, für das Gute und Richtige zu kämpfen, und sich im Besitz der Wahrheit wähnen, das schlimmste Unheil angerichtet haben. Es ist kein Zufall, dass die christlichen Kirchen, die für sich in Anspruch nehmen, anderen Menschen Moral predigen zu können, die schlimmsten Verbrechen begangen haben. Um ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte bzw. Gegenwart zu nennen, möchte ich an die Verbrechen an Heimkindern in katholischen wie evangelischen Heimen erinnern. In vielen Fällen waren die Kinder dort grausamer körperlicher, sexualisierter und seelischer Gewalt ausgesetzt und wurden auch als Arbeitskräfte ausgebeutet. Das war jetzt ein Beispiel von mir. Lüders selbst benennt in seinem Buch etliche historische Beispiele für moralgeleitete Politik, die zu Verbrechen führten. Eines davon will ich hier nennen:

„(…) die Historie jedenfalls ist randvoll mit Verbrechern und verbrecherischen Ideologien, die Millionen Menschen auf dem Gewissen haben und sich dabei stets auf eine höhere Moral zu berufen wussten. Bevorzugt, indem sie die Welt in Gut und Böse unterteilten. (…) Die Konquistadoren etwa beriefen sich auf Gott und das Christentum, als sie die Inkas und Mayas massakrierten“ (S.119).

Lüders kommt dann zu dem Schluss:

„Nichts ist gefährlicher als eine ideologisierte Moral. Im Zweifel führt sie ins Massengrab. Was keineswegs bedeutet, dass Politik nicht ethisch fundiert sein könnte. Indem sie beispielsweise auf die großen Herausforderungen der Gegenwart lösungsorientiert antwortet. (…) Dabei darf es keine Tabus geben. Keine Ausgrenzung. Keine Denkverbote. Es geht um nichts weniger als eine Neuformatierung der Welt“ (S. 121).

Diesem Ideal stehe aber, so Lüders, die Realität deutscher Politik entgegen. Die Bundesregierung reagiere auf den Ukrainekrieg vorwiegend auf der Grundlage einer hochgradigen Moralität, weitgehend ohne Rücksicht auf die eigenen nationalen Interessen. Gleichzeitig sei die Wahrnehmung Russlands in Politik und Medien keine kritische mehr, sondern eine dämonisierende. Russland werde als das Reich des Bösen angesehen. Putin werde als irre, größenwahnsinnig oder die Wiedergeburt Stalins oder Hitlers gesehen. Lüders stellt dem einen Politikansatz entgegen, der sich an den nationalen Interessen orientiert:

„Nationale Interessen, ethisch begründet, orientieren sich zunächst am Wohlergehen der eigenen Bevölkerung. Das ist der entscheidende Maßstab jenseits moralbasierter Bekenntnisse“ (S.125).

Dies bedeute aber nicht, einer naiven Weltsicht das Wort zu reden:

„Nationale Interessen ethisch zu vertreten ist kein Plädoyer für Naivität im Umgang mit Widersachern und Gegnern. Weder gegenüber Russland noch gegenüber China. Wohl aber für den Dialog und wider jede Dämonisierung. Auch reale oder vermeintliche Schurkenstaaten können durchaus legitime (Sicherheits-)Interessen verfolgen. Kompromisse und Konfliktlösungen sind ausschließlich im Geben und Nehmen zu finden, niemals im Säbelrasseln“ (S.126).

In diesem Zusammenhang erinnert Lüders an die Krisenjahre 1961 (Bau der Berliner Mauer) und 1968 (Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei):

„Ungeachtet einer scharfen Verurteilung und einer deutlichen Erhöhung des Militärbudgets setzte insbesondere die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt auf die Fortsetzung, ja, sogar auf die Intensivierung der Kontakte zu Moskau und Ost-Berlin, auf allen Ebenen. Kein politischer Entscheider in Bonn wäre auf die Idee gekommen, Sanktionen zu verhängen oder gar einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen. Ganz bewusst hatte sich die Politik dem Pragmatismus verschrieben, setzte man auf kleine Schritte und fortwährende Verhandlungen, etwa zugunsten humanitärer Erleichterungen im deutsch-deutschen Reiseverkehr“ (S.126).

Ein Jahrhundertfehler deutscher Politik

Lüders lässt keinen Zweifel daran, dass aus seiner Sicht die Beendigung der Energiepartnerschaft mit Russland ein Jahrhundertfehler deutscher Politik ist, der zu einem (selbstverschuldeten) wirtschaftlichen Niedergang führen werde. Er kommentiert dies so:

„Wer im Nachhinein die für die deutsche Seite über Jahrzehnte hinweg mehr als profitable Energiepartnerschaft mit Moskau glaubt geißeln zu müssen, sollte gleichzeitig den bisher erlebten deutschen Wohlstand anprangern. Das eine bedingt das andere“ (S. 67).

Lüders weist darauf hin, dass in Deutschland und der EU bereits ein Drittel der Bevölkerung zum Prekariat gehöre, worunter die untere Mittelschicht und die Unterschicht zu verstehen seien. Menschen, die meist nur befristet angestellt seien, den Mindestlohn oder wenig darüber hinaus an Einkommen hätten und über keine oder nur geringe finanzielle Reserven verfügten. Die hohe Inflation könne dazu führen, dass diese Menschen irgendwann nur noch die Alternative Heizen oder Essen hätten. Oder auf der Straße zu landen. Dies sei ein gesellschaftlicher Sprengsatz, den man nicht unterschätzen dürfe. Nutznießer davon müsse nicht unbedingt die AfD sein (was sie aber im Moment zweifellos ist; UB). Noch fehle den „Patrioten“ hierzulande eine charismatische Führungspersönlichkeit à la Jörg Haider:

„Sobald ein solcher Anti-Habeck die Bühne betritt, wird die Zweiteilung der Gesellschaft zügig voranschreiten. Daran zu zweifeln, besteht wenig Anlass“ (S.117).

Was passiert, wenn das grüne Bullerbü ein Ende hat?

Der Wohlstandsverlust werde auch ein Problem für die Grünen werden, so Lüders. Zwar beteuerten deren Wähler in Befragungen, sie seien bereit, eigene Wohlstandsverluste hinzunehmen, wenn es der guten Sache diene. Lüders stellt dazu ganz nüchtern fest:

„Dergleichen Bekundungen sind wohl in erster Linie Rhetorik. Sie dienen der Selbstbestätigung und werden in dem Maß abnehmen, wie auch die Mittelschichten die Folgen von Preisanstieg und Wohlstandszerstörung zu spüren bekommen“ (S.113).

Und Lüders führt dafür gute Gründe auf:

„Das Gutmenschentum bewohnt vorzugsweise ein geistig moralisches Bullerbü und hat nur wenig Gespür für wirtschaftliche und (geo)politische Realitäten. Offenbar glauben Angehörige solcher Milieus, nichts und niemand könne ihr als naturgegeben angesehenes Anrecht auf ein gutes Leben gefährden. Am eigenen Leib zu erfahren, dass dem nicht so ist, dürfte in Kreisen, die bislang keine substantielle Not und kaum Lebenskrisen jenseits subjektiver Befindlichkeiten zu meistern hatten, mit einer tiefen, ja, existenziellen Verunsicherung einhergehen. Wie werden Grünen-Wähler reagieren, sollten sie Angst bekommen vor ihrem eigenen sozialen Abstieg? Wenn ihre Wohlfühl-Welt ins Wanken gerät und sie erkennen müssen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Sein und Bewusstsein?“ (S.113).

Lüders verweist dann auf ein Interview der Zürcher Zeitung mit dem US-Autor Michael Shellenberger. Dieser vertrete die Ansicht, dass die Grünen aus genau diesem Grund (dass auch das grüne Wohlstandsmilieu vom Abstieg bedroht sein wird) den Zenit ihrer Macht erreicht hätten und künftig an Bedeutung verlieren würden. Weil ihre Wähler sich aus Enttäuschung und Ernüchterung von ihnen abwenden würden. Und der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands wird zweifelsohne kommen. Er ist schon im Gange (siehe dazu auch Jens Bergers Analyse).

Resümee

Ich konnte im Rahmen dieser Besprechung längst nicht alle Facetten des Buches von Michael Lüders beschreiben. Er liefert mit seinem Buch eine umfassende politische Analyse der aktuellen Politik in Deutschland. Gekonnt seziert er die Folgen, die die Moralisierung der Politik nach sich zieht und zeigt deren selbstzerstörerische Wirkung für unser Land auf. Wer wissen will, was in unserem Land los ist und was auf uns zukommt: dem empfehle ich neben den NachDenkSeiten das neue Buch von Michael Lüders.

Michael Lüders: Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen, Goldmann-Verlag 2023, 256 Seiten, 18,00 Euro.

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