Zinskritik ist kein Denkfehler

Zinskritik ist kein Denkfehler

Zinskritik ist kein Denkfehler

Norbert Häring
Ein Artikel von Norbert Häring

Weil mit steigenden Zinsen die grundsätzliche Zinskritik wieder Auftrieb bekommt, hat der Chefredakteur der NachDenkSeiten, Jens Berger, seine schon 2011 erstmals erschienene Kritik an der Zinskritik nochmals publiziert. Aus meiner Sicht ist seine Gegenkritik zu sehr im kapitalistischen System verhaftet und berücksichtigt zudem systemische Effekte nicht ausreichend. Von Norbert Häring.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Anmerkung Jens Berger: Schönen Dank an den lieben Kollegen Norbert Häring für dessen Replik auf meinen Text, die zahlreiche gute Denkansätze enthält, die zur Debatte förmlich einladen. Mit seinem Kernargument, ich argumentiere „systemimmanent“, hat er freilich recht. Sinn und Zweck des Artikels ist es ja auch, unseren kritischen Lesern das Rüstzeug mit an die Hand zu geben, um die aktuellen ökonomischen Debatten zu verstehen. Mir ging es auch an keiner Stelle darum, die Vergabepraxis oder sämtliche Kreditgeschäfte im Finanzsystem zu verteidigen. Es ging vielmehr darum, die m.E. kontraproduktive Fundamentalkritik am Zins zu entkräften. In den nächsten Tagen werde ich die Debatte mit einer Replik an Norbert Häring gerne fortführen und werde auch in einer kommentierten Leserbriefsammlung auf Ihre Zuschriften eingehen.

Jens Berger nimmt für sich in Anspruch, mit dem Artikel „Kritik an der Zinskritik“ von August 2011 die „Argumente“ der Zinskritiker im Kern widerlegt zu haben, wobei er „Argumente“ sogar in Anführungszeichen setzt, so als hätten die Zinskritiker gar keine richtigen Argumente. Ich finde, sie haben durchaus einen Punkt, auch wenn diejenigen, die ihre Kritik im Rahmen des kapitalistischen Systems formulieren, schnell an Grenzen stoßen. Deshalb hat Jens Berger auch recht mit der Feststellung, dass es ein Trugschluss wäre zu meinen, man könne durch ein Zinsverbot – wie auch immer man das erreichen möchte – die ökologischen und sozialen Mängel des derzeitigen Systems beheben.

Im Folgenden wird zur Vereinfachung von einer Situation ohne Inflation ausgegangen oder – gleichwertig – von einem um die Inflationsrate reduzierten „Realzins“. Bei einem Zins in Höhe der Inflationsrate bekommt man als Kreditgeber, in Kaufkraft gerechnet, so viel zurück, wie man gegeben hat.

Der Zins für Unternehmenskredite

Die sehr systemimmanente Sichtweise Bergers wird schon deutlich, wo er zu Anfang erklärt, was Zins aus Sicht des Kreditnehmers und Kreditgebers ist. Er schreibt:

„Unternehmen nutzen Kredite meist dazu, Investitionen vorzunehmen, mit deren Hilfe sie bessere wirtschaftliche Ergebnisse erzielen. Der Zins ist aus Sicht dieser Kreditnehmer eine Prämie dafür, mit Hilfe von Fremdkapital Investitionen vorzunehmen, um die eigene Ertragssituation zu steigern.“

Das ist richtig. Wichtig zu erwähnen wäre aber auch, dass der Zins ein Mittel ist, um im Sinne des kapitalistischen Systems zu steuern, wer bevorzugt auf gesamtwirtschaftliche Ressourcen zugreifen darf, um „Investitionen vorzunehmen und die eigene Ertragssituation zu steigern“. Es sind diejenigen, die die höchste Zahlungsfähigkeit und das größte verwertbare Vermögen (als Sicherheit) haben.

Es ist mitnichten garantiert, ja es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass diejenigen, die (dank großer Marktmacht) den höchsten Gewinn erwarten dürfen und (dank verwertbarem Vermögen) die besten Kreditsicherheiten bieten können, die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ertragreichsten Investitionen tätigen. Das kreditzinsgesteuerte System sorgt aber dafür, dass sie Kredit zu günstigen Konditionen bekommen und andere, kleinere, weniger reiche und marktmächtige, weniger etablierte Unternehmen entweder gar nicht oder nur zu schlechteren Konditionen bedient werden.

Es gibt andere Möglichkeiten der Zuteilung. Stellen wir uns zum Beispiel eine Konsumgenossenschaft vor, die einen Betrieb gründet, um die Produkte herzustellen, die die Mitglieder der Konsumgenossenschaft haben wollen. Die Konsumenten strecken dem Produzenten die nötigen Betriebsmittel vor, damit er für sie gemäß Vereinbarung Waren produziert.

Oder stellen wir uns ein vergesellschaftetes Kreditsystem vor, in dem Kredite nach gesellschaftlichen Kriterien vergeben werden. Der Zins muss dann vielleicht dafür sorgen, dass die Kreditgeber keine Verluste machen, aber er wäre idealerweise nicht das Hauptzuteilungsinstrument.

Das soll vor allem deutlich machen, dass es ganz andere Sichtweisen gibt, wenn man die Prämissen des kapitalistischen Systems verlässt. Das Pro und Kontra der skizzierten Alternativen ist ein zu weites Feld, um es hier zu beackern.

Zins für Immobilienkredite

Was Berger über den Zins für Kredite an private Haushalte schreibt, ist ein Beispiel für eine nicht ausreichend systemische Sicht. Er schreibt:

„Privatleute ziehen mit Hilfe von Krediten meist Ausgaben vor, die ihnen einen wie auch immer gearteten Nutzen versprechen. (…) Wer beispielsweise ein Haus bauen will, hat zwei Möglichkeiten – entweder er spart und kauft sich das Haus, wenn er den nötigen Kapitalstock zusammengespart hat, oder er nimmt einen Kredit auf, mit dem er seine Investition vorzieht. (…) Für die Möglichkeit, sein Eigenheim bereits zu nutzen, lange bevor man es komplett bezahlt hat, muss man einen Preis bezahlen. Diese Prämie ist jedoch keine „Zinsknechtschaft“, sondern die freiwillig entrichtete Zahlung für die den gewonnenen (vorgezogenen) Nutzen. Wer den Zins verbieten will und den Menschen somit die Möglichkeit auf einen Kredit nehmen will, nimmt ihnen auch die Möglichkeit, Investitionen, die ihnen sinnvoll erscheinen, zeitlich vorzuziehen. Der Besitz eines Eigenheims wäre somit de facto ein Privileg für Erben und Spitzenverdiener.“

Was hier fehlt, sind die Auswirkungen massenhafter und zunehmender Vergabe von Immobilienkrediten. Diese sind inzwischen das Hauptgeschäft der privaten Geschäftsbanken, nicht die Investitionskredite an Unternehmen. Auf dem Markt für bebaute oder unbebaute Grundstücke, deren Angebot nur sehr begrenzt erweiterbar ist, kommt der zum Zug, der den höchsten Preis bietet. Da nur wenige ohne Kredit den vollen Kaufpreis für Haus und Boden aufbringen können, macht der das Rennen, der den höchsten Kredit bekommt. Das sind nicht die Eigenkapitalschwachen, die laut Berger die Hauptnutznießer des Immobiliarkredits sind, sondern die begüterten Privatpersonen und Institutionen.

Wenn über beständig wachsende Immobilienkredite bei begrenztem Angebot an Grundstücken immer mehr Geld in den Immobilienmarkt fließt, steigen dort die Preise überproportional. Das führt dazu, dass die Käufer mehr Kredit brauchen, um ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen. Steigende Immobilienkredite schaffen dadurch die Notwendigkeit für weiter steigende Immobilienkredite und gleichzeitig treiben sie die Preise in die Höhe. Gerade für eigenkapitalschwache junge Familien ist es bei den heutigen Immobilienpreisen kaum noch möglich, das geforderte Eigenkapital für einen Immobilienkredit aufzubringen.

Es gibt Alternativen

Auch hier berücksichtigt Berger alternative Wirtschaftssysteme nicht. Die Alternative ist keinesfalls, dass man erst ein Eigenheim oder eine Wohnung erwerben kann, wenn man den Kaufpreis zusammengespart hat, wie Berger das darstellt. Stellen wir uns vor, privaten Banken würde das Immobilienkreditgeschäft ganz verboten, oder sie dürften es (inflationsbereinigt) nicht mehr ausweiten. Was würde passieren?

Es wurden bereits verschiedene, bessere Lösungen entwickelt. Sie heißen Bausparkasse, Kreditverein auf Gegenseitigkeit und Bau- und Vermietungsgenossenschaft. All diese alternativen Arrangements haben das Problem, dass die Banken Rosinenpicken betreiben und den attraktivsten Kreditnehmern besonders gute Angebote machen können. Kommt dann noch hinzu, dass der Zins stark schwankt, dann kommen solche Institutionen, die nicht mit einem (variablen) Zins operieren, immer dann in die Klemme, wenn der Marktzins besonders niedrig und damit das Angebot der Banken besonders günstig ist. Da Bausparkassen und Co. auf eine langfristig stabile Mitglieder- bzw. Kundenentwicklung angewiesen sind, tun sie sich sehr schwer, wenn es daneben Geschäftsbanken mit Immobiliengeschäft gibt. Würde das unterbunden, müssten die Leute nicht den ganzen Kaufpreis ansparen, sondern sie bekämen alternative Angebote, um einen vermutlich niedrigeren Kaufpreis teilweise vorzufinanzieren. Das kann auch mit sehr niedrigen oder ganz ohne Zinsen funktionieren.

Zins aus Sicht des Kreditgebers

Als Rechtfertigung für den Zins aus Sicht des Kreditgebers hat Berger die Standarderklärung der Ökonomielehrbücher parat, die Warteprämie und die Risikoprämie:

„Für den Kreditgeber stellt der Zins nicht nur einen Inflationsausgleich, sondern vor allem eine Risikoprämie und schlichtweg den Preis für das Warten dar. (…) Wer  würde einem Unbekannten zinsfrei Geld leihen, ohne zu wissen, ob man das Geld auch wiederbekommt? Zum Wesen des Kredits gehört nun einmal auch der Kreditausfall. (…) Gäbe es nur einen Einheitszins oder gar keinen Zins, würde wohl niemand sein Geld an ein ertragsschwaches Unternehmen oder eine Person mit Zahlungsschwierigkeiten verleihen.“

Hier wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass derjenige, der etwas angespart hat oder Vermögen vererbt oder geschenkt bekommen hat, eine kostenlose Möglichkeit hat, dieses Vermögen werterhaltend aufzubewahren. Das ist aber keine realistische Referenzsituation.

Das sieht man besonders leicht, wenn man sich in eine geldfreie Welt begibt. Wer Getreide übrig hat und einlagert, hat dafür mit Kosten und beträchtlichem Schwund zu rechnen. Wenn er Glück hat, findet er stattdessen einen vertrauenswürdigen Menschen, der das Getreide heute braucht und ihm für die Zukunft glaubwürdig etwas von Wert versprechen kann. Im Zweifel wird diese Person sich diesen Dienst durch einen Rabatt bei der Rückgabemenge bezahlen lassen. Jedenfalls gibt es nichts, was von vorneherein dafür sorgen würde, dass der Besitzer des Überschusses für „das Warten“ (welches Warten) bezahlt wird und nicht der Abnehmer für seinen wertvollen Dienst am Besitzer.

Warum sollen wir in der Geldwelt demjenigen, der einen Überschuss hat, ein Grundrecht auf kostenlosen Transfer dieses Überschusses in die Zukunft zubilligen? Das mit dem Warten ist ja nicht wirklich der typische Fall, jedenfalls mengenmäßig nicht. Mühsam angesparte Geldvermögen sind in der Regel klein. Das mit Abstand größte Volumen an Geldvermögen gehört Menschen, die geerbt haben oder so viel verdienen, dass sie das viele Geld nicht sinnvoll konsumtiv ausgeben können.

Geld ist ein Anspruch an die Gesellschaft. Ob die Gesellschaft sich dafür bezahlen lässt, diesen Anspruch in die Zukunft zu transferieren, oder ob man dafür bezahlt wird, den Anspruch erst später geltend zu machen, hängt von gesellschaftlichen Konventionen ab und den Machtverhältnissen, die diese Konventionen hervorgebracht haben.

Irrtümer der Zinskritiker und ihres Kritikers

Der laut Berger „blanke Unsinn“ der Geschichte des Jesuspfennigs, der sich über 2.000 Jahre durch Zins und Zinseszins zu einem unermesslichen Vermögen mehren würde, illustriert in diesem Lichte nicht nur, was die Zinskritiker übersehen, dass nämlich der Kredit, für den man Zins bekommt, risikobehaftet ist und das Vermögen wegen Kreditausfällen eben nicht unendlich groß wird. Sie illustriert auch, was Berger übersieht, dass es nämlich in der realen Welt keine sichere Alternative zur Kreditvergabe gibt, die einem ermöglichen würde, reale Werte kostenlos und garantiert in die ferne Zukunft zu übertragen.

Keine automatische Geldmengenaufblähung

Recht hat Berger, wenn er argumentiert, dass der Zins nicht zu einer exponentiellen Steigerung der Geldmenge führe, auch wenn seine Begründung nicht ganz korrekt ist, oder mir nicht richtig verständlich.

Der Zinszahler muss einen Überschuss erwirtschaften und auf sein Konto einzahlen. Dieses Guthaben in Höhe der Zinsschuld streicht die Bank. Es wird nicht auf ein anderes Konto gebucht, denn die Bank hat kein Konto bei sich selbst. Die Geldmenge sinkt also im ersten Schritt. Durch die Guthabenstreichung erzielt die Bank einen Betriebsüberschuss, Dieser ermöglicht es ihr zum Beispiel, ohne Verlust eine Mitarbeiterin im Kreditgeschäft zu bezahlen. Dies geschieht normalerweise im Wege der Geldschöpfung, indem die Bank den entsprechenden Betrag auf dem Konto ihrer Mitarbeiterin gutschreibt. Die Geldmenge sinkt also zuerst und steigt dann wieder um den Betrag der Zinszahlung. Die Zinszahlung hat keine Auswirkung auf die Geldmenge.

Indirekter Wachstumszwang

Komplizierter ist es mit dem Vorwurf, dass Zinsen zu einem „Wachstumszwang“ führten. Berger meint den Denkfehler dahinter mit dem Hinweis zu enttarnen, dass nicht hohe, sondern niedrige Zinsen die Konjunktur ankurbeln, also das Wachstum erhöhen. Ich würde hier einwenden, dass es hier vor allem auf die Zinsänderung ankommt, nicht so sehr auf das Niveau, aber das will ich hier nicht vertiefen.

Auf einer grundlegenderen, weniger systemimmanenten Ebene kann man dem Zins durchaus diese Wirkung zuschreiben. Zuvor sei allerdings noch der letzte Irrtum erwähnt, den Berger zu entkräften meint, der Vorwurf, dass der Zins zu Umverteilung von unten nach oben führe. Den er hängt mit dem Wachstumszwang-Argument zusammen. Diesem begegnet Berger mit dem Argument:

„Empirisch lässt sich der Zusammenhang von Zins und Vermögenskonzentration jedoch relativ einfach widerlegen, wenn man sich die Periode von 1945 bis 1980 anschaut. Diese Periode wird auch als „große Kompression“ bezeichnet. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sich nicht nur die Einkommens-, sondern auch die Vermögensschere in allen westlichen Industrieländern immer weiter geschlossen hat. Während dieser Periode hat sich jedoch kaum etwas am Geld- oder Zinssystem verändert. Was diese Periode auszeichnete, war vielmehr ein klares Bekenntnis seitens der Politik, mittels Gesetzen und des Steuersystems für eine Angleichung der Lebensverhältnisse zu sorgen.“

Dass es in der Nachkriegszeit Zinsen gab, stimmt ja. Aber sie waren stark reguliert, mit dem Ziel, sie niedrig zu halten. Man nennt das, was damals stattfand, unter Ökonomen heute „finanzielle Repression“. Am Beispiel der Regulation Q in den USA lässt sich das besonders leicht zeigen. Die 1933 erlassene Vorschrift legte Höchstgrenzen für Zinsen von verschiedenen Arten Bankguthaben fest. Ab Mitte der 70er Jahre wurden Umgehungen der Regulierung zunehmend legalisiert und die Zinsobergrenzen außer für Girokonten bis 1986 nach und nach aufgehoben.

Wegen des dollarbasierten Festkurssystems der Nachkriegszeit wirkte sich Regulation Q auch in Deutschland zinssenkend aus. Aber auch in Deutschland selbst galten in der von Berger angeführten Periode Zinsobergrenzen und andere Regulierungen, die mit finanzieller Repression bezeichnet werden, darunter Goldbesitzverbot, Kapitalverkehrskontrollen, Zwangsanleihen und der Betrieb von Staatsbanken.

Abgesehen davon entstehen Wachstumszwang und Vermögenskonzentration durch den Zins auf einer anderen Ebene. Der Zins ist das Schlüsselelement des kapitalistischen Finanzsystems. Der vermeintlich risikolose Zins von Staatsanleihen ist sein Dreh- und Angelpunkt. Über das „Abzinsen“ kann der Finanzsektor allem, was sich in Geld bewerten lässt, auch wenn es weit in der Zukunft stattfindet, einen heutigen Wert, einen „Barwert“, geben und es so handelbar machen und handeln. Der risikolose Zins ist die wichtigste Zutat in den imaginären „Kapitalkosten“, mit denen die Zunft der Unternehmensberater und Buchhalter eine Untergrenze für den kurzfristigen Unternehmensgewinn setzt, den das Management jedes Unternehmens erzielen muss. Einen niedrigeren Gewinn definieren sie auf diese Weise in einen Verlust um. Die Finanzbranche setzt diese Gewinnuntergrenze in der Breite durch, indem Unternehmen, die sie nicht erreichen, zum Beispiel wegen einer zu großen Betonung langfristiger Stabilität und Nachhaltigkeit, feindlich übernommen oder anderweitig ausgeschlachtet werden, wenn sie nicht rechtzeitig ihr Management austauschen.

Gäbe es keinen Zins, gäbe es auch keinen aufgeblähten Finanzsektor dieser Art. Würde das nötige Kapital auf andere Weise zugeteilt, wie oben bereits angedeutet, ohne dass die Vermögenszuwächse einer immer reicher werdenden Schicht mit den Erträgen finanziert werden müssten, dann könnte und würde die Gesellschaft mit erheblich weniger Wirtschaftswachstum auskommen. Sehr vieles, was zwar Gewinn bringt, aber keine originären Bedürfnisse der Menschen befriedigt, würde nicht stattfinden.

Dagegen kann man nicht – wie Berger es tut – anführen, dass in ausgeprägten Niedrigzinsphasen das Wachstum typischerweise gering ist. Das ist eine Folge der Krisenanfälligkeit des Systems, das nach übersteigertem Wachstum gern in den Krisenmodus übergeht und dann mit stark gesenkten Zinsen wieder aufgepäppelt werden muss. Auf die Zinsänderung kommt es dabei an, nicht auf das Zinsniveau.

Auch über die massive Verteuerung von Boden und damit des Wohnens sorgt der Zins indirekt für Wachstumszwang. Denn indem es die Wohnkosten überproportional steigen lässt, sorgt das zinsgetriebene Immobilienkreditgeschäft dafür, dass die Menschen bei steigendem Wohlstand nicht aufhören, mehr Geld verdienen zu wollen. Ein Durchschnittshaushalt mit Kindern wird auch in einem reichen Land aufgrund der Kosten einer Wohnung im Mittelschichtstandard genötigt, mit vollem Einsatz an der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts mitzuarbeiten.

Fazit

Ja, viele der Argumente der Zinskritiker überzeugen nicht, wenn diese versuchen, sie systemimmanent vorzutragen. Kapitalismus ohne Zins kann tatsächlich kaum funktionieren. Aber wenn man den Rahmen erweitert und andere Wirtschaftsmodelle zulässt, kann man sehr gut zu dem Ergebnis kommen, dass solche ohne Zins vorzuziehen wären.

Wirtschaftsmodelle, die ohne oder mit sehr niedrigem Zins auskommen, sind Elemente einer Zurückdrängung des Kapitalismus. Ein Zinsverbot als Allheilmittel wäre dagegen eine unrealistische Wunschvorstellung. Mit einem Federstrich lässt sich der Kapitalismus nicht abschaffen.

Titelbild: TippaPatt/shutterstock.com

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