Mit Schopenhauer politische Debatten gewinnen

Mit Schopenhauer politische Debatten gewinnen

Mit Schopenhauer politische Debatten gewinnen

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) hat eine kleine Schrift mit dem Titel „Die Kunst, Recht zu behalten. In 38 Kunstgriffen dargestellt“ verfasst. Unser Autor Udo Brandes hatte diese kleine Schrift in seinem Bücherregal stehen, aber schon lange nicht mehr daran gedacht – bis er den höchst unterhaltsamen französischen Film „Die brillante Mademoiselle Neïla“ sah, in dem Schopenhauers rhetorische Kunstgriffe eine Rolle spielen. Deshalb schaute er wieder rein in das kleine Büchlein von Schopenhauer – und entdeckte rhetorische Kniffe für die politische Praxis, zum Beispiel, um in Talkshows Oberwasser zu gewinnen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Ausgangslage im Film ist wie folgt: Die arabischstämmige Studentin Neïla Salah kommt am ersten Tag ihres Studiums zu spät zur Vorlesung von Juraprofessor Pierre Mazard. Der macht deshalb einige despektierliche Bemerkungen über sie. Als er auch Anspielungen auf ihre arabische Herkunft macht, werfen ihm Studenten Rassismus vor, was über Facebook und andere Medien schnell die Runde macht. Professor Mazard soll sich deshalb vor einem Disziplinarausschuss verantworten. Der Universitätspräsident Grégoire Viviani will seine Entlassung verhindern und schlägt vor, dass Professor Mazard die Studentin Neïla beim jährlichen Rhetorikwettbewerb als Mentor unterstützen soll. Dies soll den Ausschuss milde stimmen. Notgedrungen stimmt Mazard zu. Nach einigem Zögern geht auch Neïla auf dieses Angebot ein.

Scheiß was auf die Wahrheit!“

Ein wichtiger Teil von Prof. Mazards Einzelunterricht sind die rhetorischen Kunstgriffe Schopenhauers. Ein Satz von ihm im Film macht deutlich, was Schopenhauers zentrale These ist: „Scheiß was auf die Wahrheit!“, fordert der Jura-Professor seine Studentin auf. Also mit anderen Worten: Schopenhauer grenzt seine Dialektiklehre (die er „eristrische Dialektik“ nennt) von der aristotelischen Dialektik ab. In Letzterer geht es um Logik und Erkenntnis bzw. Wahrheitsergründung, in Schopenhauers „eristrischer Dialektik“ ausschließlich darum, in einer Debatte als Sieger vom Platz zu gehen. Und das wiederum heißt: Man kann mit sehr guten Argumenten und der Wahrheit in den Augen des Publikums doch im Unrecht sein und als Verlierer der Debatte dastehen. Umgekehrt kann man mit schlechten Argumenten bzw. der Unwahrheit eine Debatte gewinnen. Und in der Tat kann man Schopenhauers rhetorische Kunstgriffe in Talkshows sowie überhaupt in politischen und medialen Debatten beobachten. In Schopenhauers Kunstgriff Nr. 32 heißt es zum Beispiel:

„Eine uns entgegengesetzte Behauptung des Gegners können wir auf eine kurze Weise dadurch beseitigen oder wenigstens verdächtig machen, dass wir sie unter eine verhasste Kategorie bringen, wenn sie auch nur durch eine Ähnlichkeit oder sonst lose mit ihr zusammenhängt.“

Genau dieser rhetorische Kniff wird massenhaft insbesondere vom „linksliberalen“ Milieu eingesetzt. Man geht nicht auf Inhalte eines Arguments oder einer Position ein, sondern ordnet das Argument oder die Position in eine Kategorie ein, die an sich inakzeptabel ist. Wer auf Probleme mit der Integration von Migranten hinweist, ist „rechtsoffen“, „Rassist“, „Faschist“, „ausländerfeindlich“ usw. Wer der Meinung ist, dass es nicht sinnvoll ist, dass man mit einem einfachen Antragsverfahren einmal jährlich sein Geschlecht wechseln kann, ist „transfeindlich“. Ebenso wenn Frauen sich unbehaglich fühlen, wenn Transfrauen, die ursprünglich Männer waren, Frauentoiletten oder Umkleidekabinen von Frauen benutzen können.

Die Verrohung der Sitten bei den politisch Korrekten

Ein Beispiel dazu: Die Schriftstellerin J. K. Rowling wurde wegen eines Essays und eines Romans, in dem sie die Transideologie kritisch beleuchtete, massiv angefeindet und im Netz auf übelste Weise beschimpft. Hier demaskierte sich das angeblich so politisch korrekte Milieu und zeigte sein wahres Gesicht, das von abgrundtiefem Hass, Feindseligkeit und Gewaltfantasien geprägt ist. In einem Interview des Deutschlandfunks Kultur (siehe hier) entblödete sich die „Kulturjournalistin“ Sibel Schick nicht, J. K. Rowling mehrfach als „Täterin“ zu bezeichnen – übrigens ohne dass der Interviewer Massimo Maio ihr auch nur einmal widersprochen oder gesagt hätte, sie möge bitte solche üblen Verleumdungen unterlassen. J. K. Rowling konnte also im öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk als „Täterin“ verleumdet werden. Und das heißt: mit Verbrechern gleichgesetzt werden.

Die scheinheilige Brandmauer-Diskussion

Oder nehmen wir zum Beispiel das Sommerinterview von Friedrich Merz, das sogleich benutzt wurde, um ihn zu bezichtigen, er würde die „Brandmauer“ zur AfD niederreißen wollen. Ich bin wahrlich kein Fan von Merz, aber ich denke, er hat im Grunde nur gesagt, dass der CDU nichts anderes übrigbleibe, als auf kommunaler Ebene projektbezogen mit der AfD zu stimmen. Was die Kritiker von Merz dabei gern verschweigen: Das machen andere Parteien auch. Und es geht ja auch wohl kaum anders. Ein Beispiel: Würden die anderen Parteien den Beschlussvorschlag eines AfD-Bürgermeisters, der vorsieht, den dringend benötigten neuen Kindergarten zu bauen, ablehnen – weil ein AfD-Bürgermeister ihn vorgelegt hat? Natürlich nicht. Und völlig zu Recht. Denn sie würden ja eine kommunalpolitisch sinnvolle Entscheidung, die im Interesse aller Bürger liegt, blockieren, nur um zu beweisen, dass sie völlig reinen Herzens sind und eine unbefleckte weiße Weste haben. Oh, ich muss mich korrigieren. Ricarda Lang, die Vorsitzende der Grünen, würde es tun. Der Focus berichtete Folgendes:

„Im ARD-Sommerinterview wurde Grünen-Chefin Ricarda Lang (29) darauf angesprochen, dass Grünen-Gemeinderäte in ihrem Wahlkreis in Backnang (Baden-Württemberg) vor Monaten einem Antrag der AfD zugestimmt hätten. Es ging um Zuschüsse für ein Theater. Willy Härtner, Fraktionsvorsitzender der Grünen in Backnang, sagte laut ‚Backnanger Kreiszeitung‘ sogar: ‚Wir sind alle per Du und gehen nach der Sitzung auch zusammen ein Bier trinken.‘ Dass diese Aussage auch die beiden AfD-Räte einschließt, ist für ihn nur ehrlich. ‚Warum soll man da was verleugnen?‘, sagte Härtner vor wenigen Tagen gegenüber der Lokalzeitung (Quelle: focus.de).

Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang blieb dabei. „Keine Zusammenarbeit heißt keine Zusammenarbeit.“ Sie werde dies parteiintern mit dem Ortsverband prüfen. Aus den Niederungen der Partei wurde Lang klar und heftig widersprochen. Der Tagesspiegel berichtet Folgendes:

„An der Basis werden Langs Vorgaben jedoch nicht nur positiv aufgenommen. Beispielsweise in der Kleinstadt Burladingen (Zollernalbkreis) in Baden-Württemberg. Dort möchte sich die Grünen-Fraktion über die Ansage aus Berlin gegebenenfalls hinwegsetzen.

‚Einen vernünftigen AfD-Antrag pauschal abzulehnen, ist blanker Schwachsinn‘, sagt der Burladinger Grünen-Fraktionschef Peter Thriemer der ‚Stuttgarter Zeitung‘ (SZ). Der Parteilinie könne man folgen, müsse man aber nicht. ‚Da ist gesunder Pragmatismus gefragt‘, so Thriemer. Seine Parteikollegen und er könnten vor Ort selbst einschätzen, wann man der AfD zustimme – und wann nicht, sagte er der ‚SZ‘. „Wir werden aus Parteienproporz nicht pauschal Nein sagen, das erwarten wir auch von der AfD“. (Quelle: tagesspiegel.de).

Ehrfurcht vor Autoritäten als Argument

Nun zu einem weiteren rhetorischen Kniff aus der Trickkiste von Schopenhauer. In Kunstgriff 30 schreibt Schopenhauer:

„Das argumentum ad verecundiam (an die Ehrfurcht gerichtetes Argument). Statt der Gründe brauche man Autoritäten nach Maßgabe der Kenntnisse des Gegners.“

Dieser rhetorische Trick wird in den Medien massenhaft verwendet, indem Experten mit der „richtigen“ Meinung interviewt werden. Und die müssen es ja wissen. Schließlich sind sie ja Experten. Ein Propagandatrick, der deshalb bei Medien so beliebt ist, weil er wunderbar funktioniert. Denn im Regelfall kann das Publikum ja nicht prüfen, ob der zitierte Experte fachlich gesehen wirklich ein ernst zu nehmender Experte ist. Ganz abgesehen davon, dass auch Experten Interessen und Auftraggeber haben und man bei ihnen keineswegs selbstverständlich davon ausgehen kann, dass sie eine neutrale Information abliefern. Und dann gibt es natürlich auch noch Experten, die keine sind, aber von den Medien dazu gemacht werden (siehe dazu den Beitrag von Florian Warweg zu den ARD-Faktencheckern hier).

Auch Vorurteile können als Autorität genutzt werden

Schopenhauer führt in Kunstgriff 30 weiter aus, dass auch Vorurteile rhetorisch wie Autoritäten genutzt werden können:

„Auch sind allgemeine Vorurteile als Autoritäten zu gebrauchen. (…): ja, es gibt keine noch so absurde Meinung, die die Menschen nicht leicht zu der ihrigen machten, sobald man es dahin gebracht hat, sie zu überreden, dass solche allgemein angenommen sei. Das Beispiel wirkt auf ihr Denken, wie auf ihr Tun. Sie sind Schafe, die dem Leithammel nachgehen, wohin er auch führt: es ist ihnen leichter zu sterben, als zu denken.“

Man denke zum Beispiel daran, wie in der Hochphase der Corona-Zeit auch angeblich hochintellektuelle und zivilisierte Menschen gegen sogenannte „Ungeimpfte“ in einer so enthemmten Art und Weise gehetzt haben, wie man es sich bis dato in einem demokratischen und zivilisierten Land nicht hatte vorstellen können.

Aber auch in ruhigeren Zeiten werden Vorurteile in den Medien und der politischen Debatte gerne für Propaganda genutzt. Bevor ich dies an einem Beispiel veranschauliche, möchte ich dazu noch aus Kunstgriff Nr. 21 von Schopenhauer zitieren. Dort beschreibt er, wie man sophistische (spitzfindige, haarspalterische) bzw. Scheinargumente abwehren soll – und kommt zu dem Schluss, dass man diese nicht inhaltlich widerlegen bzw. deren Scheinhaftigkeit beweisen sollte:

„Denn es kommt ja nicht auf die Wahrheit, sondern den Sieg an.“

Frau Wagenknecht, jetzt haben wir ein Problem“

Sie fühlen sich bei Schopenhauers Empfehlung unbehaglich? Kann ich verstehen. Aber genauso funktionieren politische Debatten in der Realität. Nehmen wir ein Beispiel aus den Medien. Sahra Wagenknecht wurde in einer Sendung von „Hart aber fair“ von den anderen Gästen und Moderator Klamroth hart angegangen, weil sie der Darstellung widersprach, dass im Ukrainekrieg nur die russische Seite Kriegsverbrechen in Form von Vergewaltigungen begehe. Der Spiegel beschreibt dies dann so:

„Nach dieser Relativierung schritt Moderator Klamroth ein und hielt Wagenknecht Aussagen der Vereinten Nationen entgegen, wonach es keine Belege für Vergewaltigungen durch ukrainische Soldaten gebe und dass Vergewaltigungen zur russischen Kriegsstrategie gehörten. In einem weiteren Einspieler hieß es mit Bezug auf die Uno: ‚Beim Thema Vergewaltigungen geht es ohne Ausnahme immer um russische Soldaten.‘ Es sei eine ‚militärische Strategie’. Wagenknechts Reaktion: ‚Das stimmt so nicht.‘ Die Uno habe eindeutig gesagt, dass Kriegsverbrechen in jedem Krieg passierten. Es sei ‚müßig‘ darüber zu sprechen, ‚welche Seite mehr Kriegsverbrechen begeht‘“ (Quelle: spiegel.de)

Moderator Klamroth nutzte diesen Disput, um Wagenknecht zu unterstellen, sie verbreite Falschinformationen. Der Spiegel beschreibt dies so:

„‚Frau Wagenknecht, jetzt haben wir ein Problem.‘ Es sei seine Verantwortung als Moderator, ‚keine Falschmeldung stehen zu lassen.‘ Er habe ihr gezeigt, was die Uno wirklich zu Vergewaltigungen sage.“

Dann wurde ein Film eingespielt, in dem es unter anderem hieß:

„Belege für Vergewaltigungen durch ukrainische Soldaten liegen der UN demnach nicht vor.“
(Quelle: tagesspiegel.de)

Klamroth wie die anderen Medien haben hier Kunstgriff Nr. 30 von Schopenhauer angewendet: die Ehrfurcht vor Autoritäten (in diesem Fall die UN) und das allgemeine Vorurteil, dass die russische Regierung und die russische Armee die Bösen sind. Das Ergebnis: In der Diskussionssendung „Hart aber fair“ stand Sahra Wagenknecht als böse russische Propagandistin da. Denn sie konnte ja nicht wie die Redaktion der Sendung einen Film mit Zitaten der UNO, die ihre Aussage bestätigt hätten, einspielen. Damit war sie eindeutig die Verliererin der Debatte und ihre Integrität infrage gestellt. Ich vermute, diese Attacke gegen Sahra Wagenknecht war von der Redaktion sorgfältig vorbereitet worden, da diese annehmen konnte, dass Sahra Wagenknecht widersprechen würde. Man darf den Machern von „Hart aber fair“ wohl unterstellen, dass es ihnen mit dem Einspieler nicht um Information oder echte Diskussion ging, sondern einzig und allein darum, Sahra Wagenknecht bloßzustellen.

Dass diese aber tatsächlich recht hatte und der WDR sich nach der Sendung korrigieren musste (sich aber nicht entschuldigte), ist zwar im Nachhinein ein Sieg für Sahra Wagenknecht. Aber wer von den Zuschauern bekam dies noch mit? Hätte sie also anders reagieren können und sollen? Nach Schopenhauer ja:

Denn es kommt ja nicht auf die Wahrheit, sondern auf den Sieg an.“ (Kunstgriff Nr. 21)

Bösartige Angriffe ins Leere laufen lassen

Nach meiner Einschätzung wäre es klüger gewesen, Sahra Wagenknecht hätte diesen Versuch ins Leere laufen lassen. Wie das gehen soll? Indem sie sich gar nicht auf das Thema eingelassen hätte oder, wenn man sie auf das Thema angesprochen hätte, einfach gesagt hätte, „Wenn das so stimmt, ist es wirklich schlimm“. Denn Vergewaltigungen sind immer schlimm und ein Verbrechen, und da braucht man, genau wie Sahra Wagenknecht das sagte, nichts aufrechnen. Aber wahrscheinlich hätte Moderator Klamroth weiter nachgehakt und versucht, ihr zu unterstellen, dass sie die Vergewaltigungen durch russische Soldaten leugnen oder relativieren wolle. Was dann? Meiner Meinung nach hätte sie dann eiskalt sagen sollen: „Ich stimme Ihnen zu, das sind schlimme Kriegsverbrechen.“ Sie hätte lediglich darauf verzichten müssen zu sagen, dass es nach UN-Angaben auch Vergewaltigungen durch ukrainische Soldaten gebe. Es setzt allerdings voraus, dass man es aushalten kann, auch mal die eigene Meinung, selbst wenn diese durch Fakten belegbar ist, für sich zu behalten – im Interesse eines politischen Erfolges. Das mag manchem vielleicht unzumutbar vorkommen, aber wenn man ehrlich ist: So gut wie jeder hat schon mal im Leben seine Meinung für sich behalten, weil es vorteilhaft für ihn war. Warum sollte es dann ausgerechnet in der Politik und im öffentlichen Leben anders sein?

Wie dem auch sei: Die Lektüre des kleinen Bändchens von Schopenhauer ist lohnenswert, um die rhetorischen Strategien in politischen und medialen Debatten zu durchschauen. Allerdings muss ich darauf hinweisen: Der Sprachstil ist naturgemäß deutlich anders als bei Texten von heute und seine Beispiele wahrscheinlich für den modernen Leser nicht besonders anschaulich. Aber genau dies regt zum Nachdenken und Suchen nach aktuellen Beispielen an. Deshalb kann ich die Lektüre nur empfehlen. Mademoiselle Neïla jedenfalls hat im oben genannten Film erheblich von Schopenhauers Kunstgriffen profitiert.

Arthur Schopenhauer: Die Kunst, Recht zu behalten. In achtunddreißig Kunstgriffen dargestellt, Hrsg. von Franco Volpi, Insel Taschenbuch 1995, 127 Seiten, 9,00 Euro.

Udo Brandes ist Diplom-Politologe, Journalist und Buchautor. Im Juli erschien sein Buch „Wenn die Jagd nach Erfolg das Leben zur Hölle macht“, das über Amazon bestellt werden kann. Das erste Kapitel können Sie auch hier auf den NachDenkSeiten lesen. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über das Thema „Macht“.

Titelbild: travelview/shutterstock.com

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