Die Rückkehr der Flüchtlingsdebatte und der Elefant im Raum

Die Rückkehr der Flüchtlingsdebatte und der Elefant im Raum

Die Rückkehr der Flüchtlingsdebatte und der Elefant im Raum

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Pünktlich zur Endphase des Wahlkampfs in Bayern und Hessen erlebt die Flüchtlingsdebatte nach rund acht Jahren ein Comeback. Das ist insofern erstaunlich, da die nun beklagte Situation nicht unerwartet kam. Offenbar will man das Themenfeld so kurz vor den Wahlen nicht allein der AfD überlassen. Erstaunlich ist jedoch die Art und Weise, in der diese Debatte – die sich in all ihrer Komplexität ohnehin nicht für zugespitzte Wahlkampfrhetorik eignet – geführt wird. Da wird – zu Recht – beklagt, dass vor allem auf kommunaler Ebene die Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. Dass jedoch allein im letzten Jahr mehr Menschen aus der Ukraine aufgenommen wurden als während der gesamten „Flüchtlingskrise“ von 2014 bis 2016 aus den größten Herkunftsländern Syrien, Afghanistan und dem Irak zusammen, wird tunlichst ausgeblendet. Offenbar eignet sich der Afrikaner im Mittelmeer besser für den Wahlkampf als die Ukrainerin. Vor allem: Sollten die 1,1 Millionen Zuwanderer aus der Ukraine erst einmal von der Bevölkerung als Problem wahrgenommen werden, könnte dies ja zu den „falschen“ Fragen hinsichtlich der deutschen Unterstützung der Fortführung des Krieges führen. Das will man verhindern, und daher trägt man die Debatte lieber auf dem Rücken anderer Flüchtlinge aus. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Seit der großen Flüchtlingswelle, die ihren Höhepunkt im Jahre 2015 hatte, hat sich einiges getan. Zunächst schloss die EU im Frühjahr 2016 ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, durch das die Zahl der über die Ägäis in die EU kommenden Flüchtlinge deutlich reduziert wurde. Der Deal: Die Türkei hindert Flüchtlinge aktiv daran, über die See- oder Landroute nach Griechenland und Bulgarien zu reisen, und die EU schiebt – mal mehr, mal weniger legal – aus der Türkei eingereiste Flüchtlinge in die Türkei ab. Dafür erhält die Türkei politische Zugeständnisse und milliardenschwere Hilfen der EU, um die Unterbringung der Flüchtlinge im eigenen Land stemmen zu können. Und diese Aufgabe war gewaltig, hielten sich vier Jahre nach Beginn des Abkommens doch allein 3,6 Millionen offiziell registrierte Kriegsflüchtlinge aus Syrien in der Türkei auf; die inoffizielle Zahl dürfte weitaus höher gewesen sein. 2020 brach die Türkei dann das Abkommen, da die EU in einigen Punkten vertragsbrüchig war, die Türkei selbst im Frühjahr 2020 immer massiver im syrischen Bürgerkrieg zur Kriegspartei wurde und die Zahl der Flüchtlinge nach einer Ruhephase plötzlich explodierte.

Ähnliche Abkommen gab es auch mit der von der EU als „libysche Regierung“ anerkannten Bürgerkriegspartei und anderen nordafrikanischen Staaten, von denen vor allem Mali und Niger interessant sind, da sich die Militärjunten, die sich dort jüngst an die Macht geputscht haben, diesen Verträgen nicht verpflichtet fühlen.

Oder um es kurz zu machen: Der EU ist es zeitweise gelungen, unter mehr als fragwürdigen Bedingungen im Zusammenspiel mit Drittstaaten die alten Fluchtrouten auszutrocknen. Humanitär war daran übrigens überhaupt nichts. Aber ein in der Wüste verdurstender Flüchtling triggert das deutsche Publikum offenbar weniger als ein im Mittelmeer ertrunkener Flüchtling, der dann auch noch an einen „unserer“ Urlaubsstrände angespült wird. Ist das zynisch? Ja. Doch was erwartet man in Europa? Man hat seit 2015 an den Symptomen herumgedoktert und Flüchtlingsabwehr betrieben. An den Fluchtursachen hat man ganz genau gar nichts geändert, wie bereits Tobias Riegel auf den NachDenkSeiten festgestellt hat. Im Gegenteil. Gerade was die Fluchtursache Nummer eins, den Krieg, angeht, hat man seitdem nur zusätzlich Benzin ins Feuer gegossen. Dass dies mittel- bis langfristig die Flüchtlingszahlen steigen lassen würde, war vorhersehbar.

So kam es, wie es kommen musste. Für das erste Halbjahr 2023 vermeldete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 204.461 Erstanträge auf Asyl. Das ist mehr als in den gesamten Jahren 2018 bis 2021. Setzt sich der Trend im zweiten Halbjahr fort, könnte die Zahl die 400.000er-Marke überschreiten, wie historisch nur in den Jahren 1993, 2014 und 2015. 2015 skandierte die damalige Kanzlerin Merkel, „Wir schaffen das!“. Die NachDenkSeiten widersprachen und behielten recht. Doch 2015 verfügte das Land – anders als heute – noch über ein Aufnahmesystem, das zumindest halbwegs noch verfügbare Kapazitäten hatte.

2023 sind diese Kapazitäten erschöpft. Der Grund dafür sind nicht die Asylanträge, sondern die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die in der offiziellen Asylstatistik des BAMF naturgemäß gar nicht auftauchen. Nach offiziellen Zahlen leben zurzeit 1,1 Millionen Ukrainer in Deutschland. Damit sind die Ukrainer aktuell mit einem Bevölkerungsanteil von 1,2 Prozent hinter den Türken mit 1,6 Prozent die zweitgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Obgleich es für die Ukrainer im Vergleich zu Asylbewerbern möglich – und politisch erwünscht – ist, hierzulande zu arbeiten, sind gerade einmal 18 Prozent erwerbstätig; und diese Zahl bezieht sich freilich nur auf die Erwachsenen, die auch erwerbsfähig sind. Der große Teil der ukrainischen Flüchtlinge ist also voll von Sozialleistungen abhängig. Aber das ist noch das kleinere Problem. Natürlich haben die ukrainischen Flüchtlinge auch ein Recht auf Integration, auf Sprachkurse, Eingliederung, Kinderbetreuung und alles, was dazu gehört. Die Angebote dafür sind jedoch begrenzt, und hier stehen die 1,1 Millionen ukrainischen Flüchtlinge dann in Konkurrenz zu Kriegsflüchtlingen anderer Länder und zu Asylbewerbern.

Um es ganz klar zu sagen: Es wäre vollkommen falsch, dafür die Menschen selbst verantwortlich zu machen. Selbstverständlich ist es humanitär geboten, Menschen aus Kriegsgebieten für die Dauer des Krieges Schutz zu bieten; vor allem dann, wenn man selbst am Zustandekommen dieses Krieges nicht gerade unschuldig ist. Dass nun Ukrainer gegen Syrer, Afghanen und Afrikaner ausgespielt werden, ist jedoch hochgradig zynisch. Ja, man könnte es sogar rassistisch und sexistisch nennen. Bekanntlich sind 80 Prozent der nach Deutschland eingereisten erwachsenen ukrainischen Flüchtlinge weiblich, die meisten dazu jung, und 77 Prozent sind zudem ohne Partner gekommen. Honi soit qui male y pense. Offenbar haben Politik und öffentliche Meinung mit jungen weißen Christinnen weniger Probleme als mit jungen farbigen Muslimen.

Und dieser – meist unterschwellige – Rassismus und Sexismus setzt sich in der derzeitigen Debatte fort. So ist auf dem Cover des SPIEGEL, der sich der Flüchtlingsfrage in seinem aktuellen Titel annimmt, ein Flüchtlingstreck aus afrikanischen Männern zu sehen – ein solches Cover hätte der SPIEGEL übrigens noch vor wenigen Jahren sicher als rechtsextremistisch bezeichnet. Und wenn ein Markus Söder in den Bierzelten auf Touren kommt und von „Ober- und Integrationsgrenzen“ spricht, nimmt er die Ukrainer(innen) wohlweislich aus.

Dass der Elefant im Raum von Politik und Medien ignoriert wird, hat jedoch vor allem einen anderen Grund: Gerade bei den ukrainischen Flüchtlingen liegt die Antwort zur Problemlösung förmlich auf der Hand. Sobald der Krieg beendet ist, können sie in ihre alte Heimat zurückkehren. Und da man in Deutschland ja immer noch glaubt, der Krieg könne erst dann beendet werden, wenn ukrainische Truppen die Krim zurückerobert haben, betreibt man die Debatte um die ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland nach dem Motto der drei Affen – nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Denn würde man die Debatte ernsthaft führen, könnte dies ja einen gewissen Druck erzeugen, sich politisch für eine baldige Verhandlungslösung zur Beendigung des Krieges einzusetzen. Doch die Regierungsparteien samt CDU-Opposition streiten sich ja lieber darüber, wie man möglichst schnell möglichst viele möglichst tödliche Waffen in die Ukraine exportieren kann. Man will den Krieg verlängern und ihn nicht beenden. Und da die Flüchtlinge so lange im Lande bleiben müssen, wie der Krieg fortgeführt wird, ist die Flüchtlingsfrage nicht von der Frage der immer absurderen militärischen Unterstützung der Ukraine zu trennen. Also verschweigt man das Thema lieber.

Aber dafür hat man jetzt wieder den Afrikaner und den Afghanen entdeckt, die über Mittelmeer und Ägäis ins Gelobte Land fliehen wollen. An den Fluchtursachen will man nichts ändern, die Kontrolle der Fluchtrouten entgleitet einem mit jedem geopolitischen Rückschlag mehr, und da die Kommunen bereits mit den Ukrainern an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, muss nun die Abwehr an der EU-Außengrenze forciert werden. Das wird der arme Afrikaner ja sicher verstehen.

Zum Thema auch: Lassen Sie uns doch einmal über das Thema „Flüchtlinge“ reden

Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!