Balticconnector – Chronologie einer geplatzten Verschwörungstheorie

Balticconnector – Chronologie einer geplatzten Verschwörungstheorie

Balticconnector – Chronologie einer geplatzten Verschwörungstheorie

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Als am 8. Oktober die Finnland und Estland verbindende Gaspipeline „Balticconnector“ wegen eines Lecks abgeriegelt werden musste, ließen Verschwörungstheorien nicht lange auf sich warten. „Der Russe war’s“, so viel schien von Anfang an klar zu sein. Angeheizt wurde diese Verschwörungstheorie von – wohl absichtlich – missverständlichen Äußerungen der Offiziellen in den beiden beteiligten Ländern und willfährigen Medien. Dabei stand wohl bereits sehr früh fest, dass die Pipeline durch den Anker eines chinesischen Containerschiffes beschädigt wurde. Auch deutsche Medien beteiligten sich munter an den Spekulationen und glänzten einmal mehr durch Desinformation. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Nacht vom 7. auf den 8. Oktober war stürmisch im Finnischen Meerbusen – Windstärke 6 mit Wellen bis zu drei Meter. Bei einem solchen „Schietwetter“ meiden Schiffe gerne die Fahrt auf offener See und gehen abseits des Fahrwassers erst einmal vor Anker, bis sich die See wieder beruhigt hat. Das ist jedoch nicht ungefährlich. Die Anker von größeren Containerschiffen wiegen viele Tonnen und sind an massiven Ankerketten befestigt, die mehrere hundert Meter lang sind. Wird ein solch großes Schiff von einer Strömung erfasst, kann es passieren, dass es den Anker hinter sich herzieht und welchen Schaden ein solches Ungetüm auf dem Meeresboden anrichten kann, wird sich wohl jeder vorstellen können. Daher ist das Ankern außerhalb des Fahrwassers auch an Stellen, an denen beispielsweise Wracks, Munitionsreste, Unterseekabel oder gar Pipelines liegen, verboten. Doch bekanntlich hält sich nicht jeder Kapitän an Regeln und oft ist das Kartenmaterial veraltet.

Als am 8. Oktober die ersten Meldungen über eine Beschädigung der Balticconnector-Pipeline über die Ticker liefen, hätte daher für jeden, der sich mit der Materie beschäftigt, ein solcher Ankerunfall die erste Arbeitshypothese sein müssen. Wie später bekannt wurde, kannten die finnischen und die estnischen Behörden bereits am Folgetag, dem 9. Oktober, die exakte Position des Pipeline-Lecks und über öffentlich zugängliche Positionsdaten ließ sich bereits an diesem Tag feststellen, dass zum Zeitpunkt der Beschädigung mindestens sechs große Schiffe ohne Fahrt in der Nähe der Unglücksstelle lagen – wie viele davon zeitweise den Anker gesetzt hatten, lässt sich aus diesen Daten jedoch nicht herauslesen. Später reduzierte sich die Zahl der infrage kommenden Schiffe auf zwei – das nuklear angetriebene russische Frachtschiff Sevmorput und das chinesische Frachtschiff Newnew Polar Bear; beide lagen in der Nähe des Pipelinelecks vor Anker, beide sind wirklich groß und verfügen über tonnenschwere Anker, die eine Pipeline beschädigen können.

Das Alles war den Behörden mit sehr großer Sicherheit bereits am 9. Oktober bekannt. Dennoch unterließ man es, diese Informationen zu veröffentlichen und so schossen seitens der Medien die ersten Fake News ins Kraut. So meldete beispielsweise der SPIEGEL am 10. Oktober unter Berufung auf einen angeblichen Experten, es habe „wahrscheinlich“ eine „Explosion“ gegeben und es sei „unwahrscheinlich“, dass es sich um etwas anderes gehandelt habe. Fake News, wie einen Tag später die finnischen Behörden mitteilten, die ihrerseits eine Explosion ausschlossen und von einer „mechanischen Krafteinwirkung“ als Unglücksursache ausgingen. Anstatt dies zu erklären und die damals bereits vorliegende – und auch naheliegende – Erklärung zu veröffentlichen, dass ein schleifender Anker die allerwahrscheinlichste Ursache für eine solche „mechanische Krafteinwirkung“ war – was außer Godzilla soll auch sonst eine 50 cm dicke, mit Betonwand verstärkte Pipeline wegreißen? -, heizten die finnischen Behörden lieber selbst die Spekulationen an, indem sie behaupteten, dass die Schäden „höchstwahrscheinlich absichtlich herbeigeführt wurden“. Das war die Steilvorlage für die Medien – in Finnland, Estland und auch in Deutschland.

Die Süddeutsche griff am 10. Oktober die Spekulationen ihrer finnischen Kollegen auf und zeigte gleich auf, in welche Richtung die Spekulationen gehen:

Nach Informationen des Rundfunksenders Yle soll es sich nicht um einen Unfall handeln. Die Zeitung Iltalehti berichtet gar, Regierung und Militär vermuteten, dass Russland die Leitung angegriffen habe.

Die FAZ titelte gar „Hinweise auf mögliche russische Urheberschaft“ und präzisierte das Geraune ihrer finnischen Kollegen:

Die Zeitung „Iltalehti“ hatte am Dienstag unter Berufung auf einen polnischen Verteidigungsfachmann berichtet, das „Forschungsschiff“ Sibirjakow der russischen Ostseeflotte habe sich an der Stelle des Schadens im Golf von Finnland Mitte September aufgehalten. Demnach handelt es sich um just jenes Schiff, das sich zuvor auch in der Nähe jener Stellen aufgehalten haben soll, an denen im Herbst 2022 die Nord-Stream-Pipelines explodiert waren. Es soll in der Lage sein, Unterwasserfahrzeuge einzusetzen.

Dazu ist einiges zu sagen:

  1. Die Iltalehti ist eine Boulevardzeitung, also die finnische BILD und keinesfalls eine journalistische Quelle.
  2. Ein von diesem Blatt zitierter anonymer „polnischer Verteidigungsfachmann“ taugt als belastbare Quelle schon gar nicht.
  3. Die RFS Sibiryakov ist ein Vermessungsschiff des russischen hydrografischen Dienstes.
  4. Dass die RFS Sibiryakov regelmäßig in der Ostsee kreuzt, ist normal, da ihre Aufgabe die stetige Kartierung der baltischen Gewässer ist. Und da ihr Heimathafen St. Petersburg ist, ist es auch vollkommen normal, dass sie „Mitte September“ (und nicht Anfang Oktober zum Zeitpunkt der Beschädigung von Balticconnector) den Finnischen Meerbusen passierte.

Oder um es kurz zu machen: Finnische Medien haben wilde Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt, die von deutschen Medien willfährig aufgenommen wurden – klar, es ging ja gegen Russland. Es ist wirklich peinlich, welche Qualitätsstandards selbsternannte Qualitätszeitungen wie die SZ oder die FAZ heutzutage an ihre Berichterstattung anlegen. Interessant ist diesem Zusammenhang, dass die taz am gleichen Tag bereits einen Artikel mit der Überschrift „Anker-Theorie verfestigt sich“ publizierte, in der es der Skandinavien-Korrespondent des Blattes jedoch auch nicht unterlassen konnte, trotz mangelnder Logik auf vermeintliche russische Motive hinzuweisen.

Es wäre jedoch zu einfach, nur mit dem Finger auf die Medien zu zeigen. Wohl wider besseres Wissen wurden die Verschwörungstheorien von den finnischen und estnischen Behörden kräftig angeheizt. So titelte der staatliche estnische Sender ERR unter Berufung auf den estnischen Verteidigungsminister, man ginge von einer „absichtlichen Beschädigung“ der Pipeline aus. Der estnische Außenminister verbreitete sogar die klare Lüge, man könne die Beschädigung nicht auf ein Schiff zurückführen, das mit eingeschalteten Positionierungssystem zur Tatzeit vor Ort war. Ähnliche Aussagen kamen von finnischen Offiziellen. NATO-nahe finnische „Experten“ legten noch einmal eine Schippe drauf und machten klar Russland für die Beschädigung verantwortlich und spielten dabei rhetorisches Pingpong mit der finnischen Regierung. „Es wurde zwar nicht ausdrücklich gesagt, dass es Russland ist, aber das hat sich herausgestellt, wenn man zwischen den Zeilen liest. Finnland ist jedoch ein Rechtsstaat, und wir gehen davon aus, dass zuerst die Beweise vorliegen müssen. Erst dann werden die Namen der Schuldigen bekannt gegeben“, so ein von den Medien zitierter finnischer „Russland-Experte“.

Im Nachlauf wurde die NATO eingeschaltet und sicherte Finnland und Estland ihre volle Unterstützung zu und Lettlands Präsident Rinkevics forderte sogar, die Ostsee künftig für Russland zu einem geschlossenen Gewässer zu erklären – also eine völkerrechtswidrige Seeblockade für die russischen Ostseehäfen auszurufen.

Doch dann brach das Lügengebilde Stück für Stück zusammen. An diesem Wochenende fanden die finnischen Ermittler einen „kürzlich gebildeten großen Erdklumpen, der wahrscheinlich ein extrem schweres Objekt enthält“. Was soll das sein, außer einem Anker? Am gleichen Tag lief auch eines der verdächtigen Schiffe, die chinesische Newnew Polar Bear, im russischen Arktishafen Archangelsk ein – und das, wie man auf Fotos klar erkennen kann, ohne Anker und mit teils umgestürzten Containern an Oberdeck. Damit dürfte das Mysterium, das eigentlich nie eins war, aufgeklärt sein und die ganzen antirussischen Verschwörungstheorien wie ein Kartenhaus zerfallen.

Was ist wirklich in der Nacht zum 8. Oktober passiert? Im Straßenverkehr würde man wohl von einer Fahrerflucht oder genauer „unerlaubtem Entfernen vom Unfallort“ sprechen. Und der Kapitän hatte sogar ein Motiv. Die Newnew Polar Bear war nämlich auf einer Art Premierenfahrt. Das als Eisbrecher zugelassene Containerschiff wurde erst vor wenigen Monaten von der chinesischen Reederei NewNew gekauft und absolvierte gerade als erstes Containerschiff den ersten Teil der künftigen Direktverbindung zwischen Shanghai und St. Petersburg über die kürzere Arktisroute. Die Eröffnung dieser Route wurde erst vor wenigen Monaten von Chinesen und Russen mit großem Tamtam gefeiert. Da ist es natürlich politisch höchst peinlich, wenn der Kapitän auf der Premierenfahrt auf dieser Route die Karten nicht richtig liest, bei Sturm mitten über einer Pipeline, die in der Tat russischen Interessen zuwiderläuft, ankert und dann die ganze Pipeline mit sich reißt. Der arme Kapitän wird sich gedacht haben, dass es das Beste ist, schnell weiterzufahren und so zu tun, als sei nichts geschehen. Offenbar war er sich der politischen Bedeutung des von ihm verursachten Schadens nicht bewusst. Eine Zukunft als Binnenschiffer auf dem Jangtsekiang scheint da vorprogrammiert und auch die Schadensregulierung dürfte noch interessant werden. Zahlt eigentlich eine Versicherung für den Milliardenschaden, der durch eine fahrlässig beschädigte Pipeline entsteht?

Wie dem auch sei. Gestern mussten die Finnen vermelden, dass sie den Anker gefunden haben und es doch nicht die Russen waren. Immerhin hält man sich als „Ehrenrettung“ nun noch die Verschwörungstheorie offen, die Chinesen könnten den Anker mutwillig als Sabotageakt auf die schöne Pipeline fallengelassen haben. Und selbst dieser Blödsinn ist deutschen Medien nicht zu abwegig, um ihn aufzugreifen. Um von Nordstream abzulenken, kann anscheinend keine Geschichte zu abwegig sein.

Titelbild: Die Newnew Polar Bear am 22. Oktober beim Einlaufen in Archangelsk. Fotografiert von Vashutkin Vitaliy, publiziert auf dem Portal FleetPhoto.ru