Die fünf Wirtschaftsweisen – Politikberatung nach der Vogel-Strauß-Methode

Die fünf Wirtschaftsweisen – Politikberatung nach der Vogel-Strauß-Methode

Die fünf Wirtschaftsweisen – Politikberatung nach der Vogel-Strauß-Methode

Ein Artikel von Thomas Trares

Die Wirtschaftsweisen haben in der vergangenen Woche ihr neues Jahresgutachten veröffentlicht. Der Titel lautet: „Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren“. Jahrzehntelang war das Gremium ein Hort des Monetarismus und der neoklassischen Orthodoxie. Mit Christoph Schmidt, Lars Feld und Volker Wieland sind seit 2020 jedoch gleich drei Vertreter dieser Denkschule von Bord gegangen. Unter der neuen Vorsitzenden, der Münchener Ökonomin Monika Schnitzer, will der Rat nun pragmatischer daherkommen. Herausgekommen ist bislang jedoch eine Politikberatung nach der Vogel-Strauß-Methode. Aktuelle Probleme werden ignoriert, heikle Themen umschifft und die Regierung vor Kritik verschont. Von Thomas Trares.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wie die Wirtschaftsweisen offiziell heißen, gilt als das wirtschaftspolitische Beratergremium der Bundesregierung, und dies obwohl die Professoren laut Gesetz gar keine Regierungsberater sind, sondern Gutachter. Gleichwohl haben ihre Expertisen Gewicht. Im Gutachten „Zeit zum Investieren“ von 1976 nahmen die Wirtschaftsweisen bereits die spätere Wende zur Angebotspolitik vorweg. Und mit den Voten von 2002 „Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum“ und 2003 „Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren“ ebneten sie der Agenda 2010 sowie der späteren Unternehmenssteuerreform den Weg. Den Fokus auf die Angebotsseite haben sie bis zuletzt beibehalten.

Gremium stellt sich neu auf

Nun jedoch sind die Sachverständigen dabei, sich neu aufzustellen – personell, räumlich und inhaltlich. War der Rat jahrzehntelang eine Männerdomäne, so sind nun drei Frauen in dem fünfköpfigen Gremium vertreten – neben der Vorsitzenden Schnitzer sind dies die Nürnberger Ökonomin Veronika Grimm und die in den USA lehrende Ulrike Malmendier. Außerdem gehören dem Rat der Duisburger Ökonom Achim Truger und der Bochumer Martin Werding an. Auch räumlich kommt es zu Veränderungen. So steht im nächsten Jahr der Umzug von Wiesbaden nach Berlin an. Schnitzer begründete dies mit der „größeren Nähe zu thematischen Debatten und der Möglichkeit zum persönlichen Austausch“. Bei der Gründung 1963 war dagegen noch die räumliche Nähe zum Statistischen Bundesamt und den dort verfügbaren Daten ausschlaggebend.

Und nicht zuletzt will der Rat inhaltlich nicht mehr so dogmatisch daherkommen wie bisher, sondern „mehr praxisnahe Empfehlungen“ geben. „Evidenzbasierte Politikberatung“, sagt Schnitzer. Überrascht haben die Wirtschaftsweisen bereits in ihrem 2022er Gutachten, dem ersten unter Schnitzer, mit dem Vorschlag, einen „Energie-Soli“ für Reiche einzuführen. Dieser sollte die Krisenlasten gerechter verteilen. In Wirtschaft und Wirtschaftspresse hatte dieses Ansinnen umgehend einen „Shitstorm“ ausgelöst. Im neuen Gutachten indes greifen die Weisen wieder tiefer rein in die neoliberale Mottenkiste. So ist gleich ein ganzes Kapitel dem Umbau des Rentensystems gewidmet. Darin fordern sie unter anderem, das Rentenbeitrittsalter an die steigende Lebenserwartung anzupassen und eine Aktienrente einzuführen.

Heikle Themen meiden

Auffällig ist vor allem aber, dass die Wirtschaftsweisen politisch heikle Themen erst gar nicht aufgreifen bzw. eine tiefergehende Diskussion darüber vermeiden. So bringt es der Rat fertig, ein Gutachten über Wachstumsschwäche zu schreiben und dabei den Themenbereich „hohe Energiepreise und Russland-Sanktionen“ komplett auszublenden. Der Trick dabei: Statt die aktuelle Lage zu analysieren, wendet sich der Rat lieber zukünftigen Problemen zu. „Viel bedeutsamer als die konjunkturelle Schwäche sind mittelfristige Wachstumshemmnisse“, hieß es bei der Präsentation des Gutachtens. Aufgetischt wurden danach dann wieder die „ollen Kamellen“ aus der Standortdebatte: Fachkräftemangel, ein veralteter Kapitalstock, fehlende Innovationen, zu viel Bürokratie, lange Planungs- und Genehmigungsverfahren, usw. Kritik an der aktuellen Regierung? Fehlanzeige!

Aufschlussreich ist auch, das Gutachten gezielt nach bestimmten Schlagwörtern zu durchsuchen. So ergab die Suche nach „Sanktionen“ nur einen Treffer, und dieser besagte, dass man sich am liebsten gar nicht mit dem Thema beschäftigen möchte. So heißt es: „Wie in der Frühjahrsprognose 2023 trifft der Sachverständigenrat unverändert die Annahme, dass über den Prognosehorizont keine Normalisierung der Handelsbeziehungen zu Russland stattfinden wird, dass das Sanktionsregime der Europäischen Union bestehen bleibt und somit die Importe an Rohstoffen und Energieträgern aus Russland nicht steigen.“ Der Rat nimmt also die aktuelle Sanktionspolitik als gegeben hin. Ende der Durchsage!

Deindustrialisierung nicht existent

Bemerkenswert ist auch, was die Wirtschaftsweisen zum Thema „Deindustrialisierung“ schreiben – nämlich nichts! Im aktuellen Gutachten findet sich jedenfalls kein einziger Eintrag dazu. Man muss also ein Jahr zurückspringen, zum 2022er Gutachten, um mehr zu erfahren. Dort heißt es dann: „Die Energiepreise dürften in Europa mittelfristig wieder sinken, aber nicht zum Vorkrisenniveau zurückkehren. Energieintensive Wirtschaftszweige, die stark im Wettbewerb mit nichteuropäischen Wettbewerbern stehen, sind davon besonders betroffen. Dies wird den durch die Dekarbonisierung ohnehin anstehenden Strukturwandel in der Industrie beschleunigen, dürfte aber nicht zu einer breiten Deindustrialisierung führen.“ Also, alles kein Problem. Die Botschaft lautet: „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!“

Und nicht zuletzt macht die Anbiederung an den woken Zeitgeist auch vor den Wirtschaftsweisen nicht Halt. Dies verrät allein schon der Titel des 2022er Gutachtens: „Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten.“. Ins Auge sticht hier sofort die Verwendung des Wieselwortes „solidarisch“, das schon in der Corona-Krise für die Rechtfertigung von Maßnahmen herhalten musste, die überhaupt nichts mit Solidarität zu tun hatten. Zudem übernehmen die Weisen in beiden Gutachten durchgängig die im Mainstream gängige Sprachregelung vom „russischen Angriffskrieg“, obwohl es sich dabei um eine wertende Formulierung handelt.

Versagen des Staatsapparats

Der Philosoph Michael Andrick hat vor ziemlich genau einem Jahr mit „War dies möglich, so ist alles möglich“ einen bemerkenswerten Artikel für die Berliner Zeitung geschrieben. Darin ging es um den Umgang der staatlichen Institutionen mit der Corona-Krise „Die Verfassung wurde vom gesamten Staatspersonal verraten, nicht nur von Politikern“, schrieb Andrick. Diese Erkenntnis ist fundamental. Es handelt sich hier inzwischen um das Versagen des gesamten Staatsapparats. Eine effektive Kontrolle der Politik findet nicht mehr statt, auch weil viele Schlüsselpositionen in den Kontrollinstanzen, in den obersten Behörden und Expertengremien mit treuen Gefolgsleuten besetzt sind. Die Wirtschaftsweisen sind da keine Ausnahme. Im Sachverständigenrat wird je ein Mitglied von Gewerkschaften und Arbeitgebern benannt, die restlichen drei kommen auf Vorschlag der Bundesregierung ins Amt. Allzu große Kritik scheint da nicht mehr möglich zu sein. Da ist es einfacher, die Köpfe in den Sand zu stecken. Die Vogel-Strauß-Methode eben.

Titelbild: Screenshot Tagesschau