Analyse zur Wahl in Argentinien: Der Tag, an dem die Demokratie einen Libertären gebar

Analyse zur Wahl in Argentinien: Der Tag, an dem die Demokratie einen Libertären gebar

Analyse zur Wahl in Argentinien: Der Tag, an dem die Demokratie einen Libertären gebar

Ein Artikel von amerika21

Javier Milei, der von der neoliberalen Rechten unter Führung des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri unterstützt wird, hat die zweite Runde der argentinischen Präsidentschaftswahlen gewonnen. Er schlug den Kandidaten der Regierungspartei und derzeitigen Wirtschaftsminister Sergio Massa um mehr als elf Prozentpunkte und setzte damit ein großes Fragezeichen hinsichtlich der Zukunft Argentiniens und der Region. Milei wird sein Amt am 10. Dezember ohne Gouverneure oder parlamentarische Mehrheiten und mit breiten Sektoren gegen seine Politik und die seiner negationistischen Vizepräsidentin antreten. Es gibt sicher wichtige und komplexe Gründe, um zu erklären, wie eine Gesellschaft in die dunkle Zone der Selbstzerstörung geraten ist. Von Aram Aharonian.

Einmal mehr wichen die Wahlergebnisse von den Umfragen ab, die einen Gleichstand zwischen Javier Milei und Sergio Massa vorausgesagt hatten. Die Realität zeigte einen großen Vorsprung für die Allianz zwischen Libertären und Neoliberalismus. Für einen Wirtschaftsminister mit einer jährlichen Inflationsrate von über 140 Prozent ist es schwierig, eine Wahl zu gewinnen. Seine Kandidatur setzte sich nur in den Provinzen Buenos Aires, Santiago del Estero und Formosa durch.

Die Ultrarechte bekam auch die Stimmen der Neoliberalen von Juntos por el Cambio und nutzte die Wut gegen eine Regierung aus, die ihre Versprechen gebrochen und harte Anpassungspläne angewandt hatte, um dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu genügen. Dadurch verschlechterte sich die wirtschaftliche und soziale Lage, 60 Prozent der Kinder leben in Armut und die jährliche Inflation lag bei fast 150 Prozent.

Die Verlagerung der Stimmen von Juntos por el Cambio auf La Libertad Avanza war vollumfänglich, die Dissidenz der Anführer der Unión Cívica Radical minimiert. Die Wahlbeteiligung war enorm (76 Prozent der registrierten Wähler). Die Zahl der ungültigen Stimmen war nicht einheitlich, und der Sieg des Kirchnerismus in der Provinz Buenos Aires war sehr viel geringer als im ersten Wahlgang.

Die Ultrarechte ist eine böse Überraschung in einem Land, das sein historisches Gedächtnis so gut bewahrt, das Andenken an die 30.000 von der Militärdiktatur Verschwundenen hochgehalten hat und nun entschied, diesen symbolischen Schatz im Austausch gegen einen Ultraliberalen mit einem armseligen Handbuch für Pseudoargumente und eine Vizepräsidentin, die den Kulturkampf um die Verleugnung der Diktatur ernst nimmt, zu verschleudern – meint der Schriftsteller Carlos Ulanosky.

Die Rechten und die Ultrarechten verfolgten obsessiv ein einziges Ziel: die totale und endgültige Zerstörung des Kirchnerismus, des progressiven Flügels des Peronismus, der Néstor Kirchner und zweimal Cristina Fernández de Kirchner (jetzt Vizepräsidentin) im Präsidentenamt hatte. Sie taten alles in ihrer Macht stehende, um den Kirchnerismus aus dem Rennen herauszuhalten, mittels Lawfare und sogar mit einem vereitelten Attentat.

Aber, wie Rubén Armendáriz betont, es war Alberto Fernández, der derzeitige Präsident – angeblich peronistisch, angeblich fortschrittlich –, der auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes von seinen Gefolgsleuten nach China geschickt wurde, der dem Peronismus nach 78 Jahren den Gnadenstoß versetzte.

Es ist das zweite Mal in Folge, dass es einer Partei nicht gelingt, an der Macht zu bleiben. Macrì verdoppelte die Inflationsrate und wurde 2019 besiegt. Alberto Fernández verdreifachte sie und verschlimmerte die Not der am meisten benachteiligten sozialen Schichten, und niemand wollte ihn auch nur als Kandidaten in Betracht ziehen, obwohl er darauf bestand. Sein Wirtschaftsminister zahlte den Preis hierfür.

Nach der Niederlage von Massa bleibt der Gouverneur von Buenos Aires, Axel Kicillof (hätte er der Kandidat der Regierungspartei sein sollen?), der wichtigste institutionelle Vertreter des Peronismus. Kicillof beteiligte sich aktiv am Wahlkampf mit der Botschaft, dass es ohne die nationale Regierung sehr schwierig sein würde, die Provinz zu regieren.

Der ehemalige Präsident Mauricio Macri wurde de facto zum Paten der Regierung von Javier Milei, dem er die Unterstützung und die Mittel für den Sieg im zweiten Wahlgang zur Verfügung stellte.

Wirkung

Die Rechte feierte weltweit zurückhaltend, einige Großunternehmer machten aus ihrer Freude keinen Hehl. Brasiliens ehemaliger Präsident Jair Bolsonaro und der Vorsitzende der spanischen ultrarechten Partei Vox, Santiago Abascal, gratulierten dem Gewinner, während der Gründer des Technologieunternehmens Tesla und Eigentümer des sozialen Netzwerks X (früher Twitter), Elon Musk, versicherte, dass Argentinien „der Wohlstand bevorsteht”.

Die geschäftsführende Direktorin des IWF, Kristalina Georgieva, beglückwünschte Milei und sagte ihm, sie erwarte, mit seiner Regierung an „einem soliden Plan zur Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität Argentiniens” zu arbeiten. Der gewählte Präsident bestätigte, dass er bereits sein erstes Gespräch mit der Organisation hatte und dass der Dialog seit August geführt wird.

Die US-Zeitung Washington Post bezog sich auf die Sympathie, die Milei stets für den ehemaligen Präsidenten Donald Trump gezeigt hat: „Der libertäre Javier Milei, ähnlich wie Trump, gewinnt die Präsidentschaft, schlägt das politische Establishment vernichtend und verursacht den stärksten Rechtsruck in den vier Jahrzehnten der Demokratie in diesem Land.”

„Argentiniens nächster Präsident ist ein libertärer Wirtschaftswissenschaftler, dessen dreister Stil und Hang zu Verschwörungstheorien Parallelen zu Donald J. Trump aufweist”, fügte die New York Times hinzu.

Der Guardian warnte indes, dass „der Sieg eines Fernsehstars, der zum Politiker geworden ist, die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas in eine unkalkulierbare Zukunft katapultiert”. Und El País aus Spanien titelte: „Der Ultra Milei räumt ab und Argentinien macht einen Sprung ins Ungewisse”.

„Der Kandidat der Ultrarechten, Javier Milei, zum Präsidenten gewählt”, titelte die französische Tageszeitung Le monde. „Libertärer Schlag gegen die lange Agonie des Peronismus”, kommentierte La Tercera aus Chile den Sieg Mileis.

Der israelische Außenminister Eli Cohen beglückwünschte Milei und lud ihn zu einem Besuch in Israel ein, um „die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu stärken”. Er griff auch das Versprechen des Libertären auf, der den vom israelischen Staat begangenen Völkermord unterstützt, die argentinische Botschaft in Jerusalem „einzuweihen”.

Die Demokratie hat die Demokratie attackiert

Vielleicht ist kein anderer Begriff, der in der Öffentlichkeit immer wieder verwendet wird, so sehr entwertet worden, dass er nicht nur inhaltsleer geworden ist, sondern auch jeden Bezug zur Realität verloren hat. Heute wird ein völlig reduziertes Konzept von Demokratie verherrlicht, das die Souveränität und Beteiligung des Volkes in einem Präsidentenpalast und einem parlamentarischen Plenarsaal einsperrt und einfriert.

Für unseren Süden ging dieses Modell immer Hand in Hand mit der Rhetorik der Kolonialmächte, bis es jeden Sinn verlor. Und man erinnert sich an so viele Grausamkeiten, Völkermorde, Morde, Invasionen…, die im hochheiligen Namen der Demokratie begangen wurden.

Im Gegensatz zu anderen politischen und ideologischen Strömungen konnten die Ultrarechte und die sogenannten Libertären die Veränderungen in den Gesellschaften besser erkennen, sich die Schwächen und Spaltungen der liberalen Demokratien zunutze machen und die Vorteile der neuen Technologien begreifen – und das zeigen sie vor allem in ihren Kampagnen nicht nur der Fakenews, sondern auch der Shitnews.

Die Ultrarechte hat verstanden, dass die Schwächen und Anfälligkeiten ausgenutzt werden können und dass, indem man die gemeinsame Realität zerlegt und Verwirrung sät, die Gesellschaft noch mehr polarisiert werden kann und man von der Durchsetzung kollektiver Vorstellungen und der Wahlebene profitieren kann. Daher ihr Interesse und ihre Bemühungen, Fakenews zu erzeugen und zu verbreiten – in Europa, den USA, Asien, Ozeanien und Lateinamerika.

Die Ultrarechte vermeidet stets „zivilisierte”, ruhige Debatten und die Gegenüberstellung von Ideen und versucht, an persönliche, emotionale, oft irrationale Aspekte zu appellieren, denn dort hat sie Chancen zu gewinnen, weil ihre Argumentation nicht durch Fakten gestützt ist.

Erste Ankündigungen

Nach seinem Sieg sagte Milei, Argentinien sei die erste Weltmacht, das reichste Land der Welt gewesen, und versprach, dass es dies wieder sein werde. Er verkündete die Erfüllung der von Argentinien eingegangenen Verpflichtungen (zu denen scheinbar auch die Teilnahme am Mercosur gehört) und die Achtung des Privateigentums.

Das scheint ein Dementi der Behauptungen seiner Vizepräsidentin Victoria Villarruel über die Verwendung der Ersparnisse der Argentinier für die Dollarisierung zu sein.

Laut Milei gibt es keinen Raum für eine Politik der kleinen Schritte, Halbherzigkeit oder halbe Maßnahmen, und er warnte, dass er unbarmherzig gegenüber denjenigen sein wird, die sich seinen Maßnahmen widersetzen, die er – mit der Kettensäge in der Hand – als „die Gewalttätigen” bezeichnete.

Milei bestätigte die ersten Namen in seinem Kabinett: Der Medienanwalt Mariano Cúneo Libarona wird Justizminister, die Kongressabgeordnete Carolina Píparo wird für die Nationale Sozialversicherungsbehörde zuständig sein. Er sagte, dass der frühere Innenminister (der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner) Florencio Randazzo Teil seines Teams sein wird und kündigte an, dass er das öffentlich-rechtliche Fernsehen, die Nachrichtenagentur Télam und Radio Nacional privatisieren wird.

Er räumte ein, dass es „fast zwei Jahre dauern wird”, um die Inflation zu beenden, und bekräftigte sein Vorhaben, die Zentralbank zu schließen ‒ „das ist eine moralische Verpflichtung”, sagte er – stellte aber die sofortige Dollarisierung, die er im Wahlkampf gefordert hatte, in Frage.

„Weder das Bildungs- noch das Gesundheitswesen können privatisiert werden”, da die Provinzen dafür zuständig sind, verkündete er in seinen ersten Erklärungen.

Er führte aus, dass sein Vorschlag, Bildungsgutscheine einzuführen, darauf abziele, „die Nachfrage und nicht das Angebot zu subventionieren”, meinte aber, dass „so etwas nicht kurzfristig umgesetzt werden kann”.

Ohne eigene Gouverneure, mit nur wenigen Bürgermeistern und einer geringen Anzahl von Abgeordneten und Senatoren wird Milei aber politische Vereinbarungen treffen müssen, die über Macrì und Bullrich hinausgehen.

Das Wirtschaftsberatungsunternehmen Ecolatina schätzt, dass „die Regierung zwischen 2024 und 2026 Fälligkeiten von mehr als 53 Milliarden Dollar zu bewältigen hat, das heißt im Durchschnitt mehr als 17,8 Milliarden Dollar pro Jahr – Beträge, die für den Staat nicht bezahlbar sind und die Auslandsschulden zu einem Mittel machen, um das Land zu unterjochen und seine Ressourcen auszuplündern.

Niemand kann vorhersagen, was in der nächsten Woche, und noch weniger, was nach dem 10. Dezember passieren wird. Es ist nicht auszuschließen, dass Milei in einer Art von politischem Mobbing beginnen wird, mit Dekreten zu regieren und drastische Maßnahmen ergreift und dass er als symbolische Geste für seine internationalen Manager die Beziehungen zu Kuba und Venezuela und – warum nicht – zu Nicaragua abbrechen wird… aber weder zu Brasilien noch zu China, wie er in seiner Wahlkampagne zum Besten gegeben hat.

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21.

Titelbild: Am 21. November empfing der amtierende Präsident Fernández den designierten Präsidenten Milei in der Casa Rosada zur Einleitung der Amtsübergabe – QUELLE: @GABICERRU

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!