Die Bildungsmisere – nur ein Symptom generellen gesellschaftlichen Versagens

Die Bildungsmisere – nur ein Symptom generellen gesellschaftlichen Versagens

Die Bildungsmisere – nur ein Symptom generellen gesellschaftlichen Versagens

Ein Artikel von: Redaktion

Der Schock sitzt tief: Deutschlands Schüler zeigen sich in immer größeren Teilen nicht in der Lage, Grundfähigkeiten bei der Lesekompetenz, der Mathematik und den Naturwissenschaften nachzuweisen. Im internationalen Bereich ist Deutschland unterdurchschnittlich. Das Wehklagen füllt die Medien, Experten quillen aus jedem Loch, die Politik behauptet ihre Kompetenz, die Probleme lösen zu können, und die Lobbyisten derer, die mit ihren mit Milliarden geförderten (Nicht-)Leistungen die Probleme nicht abbauen konnten, flüstern der Politik ins Ohr, wie man es nun richten könnte, wozu es eines Wesentlichen aber bedarf: mehr Geld. Die NachDenkSeiten haben sich zu der Thematik mit Bernd Liske unterhalten, der sich seit vielen Jahren mit der generellen gesellschaftlichen Verfasstheit Deutschlands beschäftigt. Von Redaktion.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

NachDenkSeiten: Die Misere war abzusehen?

Bernd Liske: Sicher doch. Seit ich seit 1998 bemüht bin, Projektideen im Bildungsbereich zu platzieren, konnte ich viele Erfahrungen mit Ministern, Beamten, IT-Beiräten, Instituten wie dem BIBB, dem BITKOM und anderen Netzwerken sammeln und musste die Resistenz der Strukturen gegenüber Ideen außerhalb des etablierten Denkens und außerhalb der sich schon länger gefundenen Interessen feststellen. Primäre Gründe sind die Verteidigung von als Erbhöfen angesehenen Themengebieten und ein Denken, dem es schwerfällt, aus den eingefahrenen Mustern auszubrechen. Immer wieder treibt man die gleichen Säue durchs Dorf, ohne dass sie geschlachtet – die Probleme gelöst – werden: so die unzureichenden Kompetenzen in den MINT-Fächern, der Lehrermangel, die soziale Ungerechtigkeit, marode Schulen, unzureichende Digitalisierung. Verbunden ist das mit dem schönen Effekt, die Anstrengung für neue Ideen in Grenzen halten zu können, doch dafür mehr Geld zu bekommen.

Wenn ich von „immer wieder“ spreche, dann muss man berücksichtigen, dass die Aufmerksamkeit für die Probleme nicht wie die Reaktion auf ein plötzliches Naturereignis entsteht: Das Wissen über die Probleme im Bildungsbereich ist seit Langem gegeben und kontinuierlich vorhanden. Nein, die plötzliche Aufmerksamkeit ist oftmals Teil von Marketinginitiativen, um im Hintergrund schon längst von Lobbyisten platzierte Absichten zu verwirklichen und dafür mit einem durch die Medien verbreiteten Mangel einen öffentlichen Druck auszulösen, der einen vermeintlichen Handlungsdruck der öffentlichen Hand erzeugt und dieser freie Hand gibt, die Mittel dafür bereitzustellen.

Besonders anfällig zeigt sich die Politik, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine Misere so groß wird, dass sie sich veranlasst sieht, etwas zu tun, um den Unmut in der Bevölkerung einzudämmen. So war es 2021. In der Folge der Pandemie kam es über ein Jahr lang zu massiven Unterrichtsausfällen, und das Bemühen, dies durch Online-Unterricht zu kompensieren, erwies sich als großer Reinfall. Das ifo-Institut veröffentlichte dazu im April 2021 eine Studie, wie sich die Schließung der Schulen auf den weiteren Unterricht auswirkte. Danach waren die Schüler durchschnittlich 4,3 Stunden mit schulischen Tätigkeiten beschäftigt. Bei fast jedem vierten Kind waren es nicht mehr als zwei Stunden. Nur ein Viertel der Schüler hatte täglich gemeinsamen Unterricht und 39 Prozent maximal einmal pro Woche. Nachhilfeunterricht wurde nur von 21 Prozent der Schüler genutzt. Digitalisierung hieß vielfach, wöchentlich Aufgaben per E-Mail zu versenden oder zum Download bereitzustellen.

In dieser Situation verabschiedete die Bundesregierung ein Milliardenprogramm, mit dem die pandemiebedingten Lernrückstände abgebaut werden sollten. Den (Miss-)Erfolg der damit verbundenen Vielzahl kleinteiliger Maßnahmen können wir uns in der aktuellen PISA-Studie anschauen, und wir haben definitiv eine Corona-Generation, die es am Arbeitsmarkt schwer haben wird. Doch sicher war das Programm eine Gelddruckmaschine für die Netzwerke, aus denen heraus es initiiert wurde und die nun erneut angeworfen werden kann. Für sie ist die Studie ein riesengroßes Weihnachtsgeschenk.

Was Sie da analysieren, klingt plausibel, und man muss annehmen, dass sich die Politik bewusst ist, was sie da tut, und dass sie oftmals mit einer Schrotflinte auf einen ausgewachsenen Elefanten schießt. Warum sucht man nicht nach substanzielleren Lösungen?

B. L.: Aspekt unserer auf Eigennutz statt Gemeinnutz orientierten Gesellschaft ist es, dass die Systemrelevanz der Bildung immer mehr zurücksteht gegenüber dem, ein zu bedienender Markt und eine schöne Spielwiese für endlose politische Debatten und substanzarme Reformen zu sein, deren wesentliches Ziel es ist, den Markt und die Erbhöfe – so die aus dem Föderalismus heraus erwachsenen Strukturen – zu erhalten.

Dabei müssen wir uns bewusst werden, dass eine wesentliche Grundlage für die Gestaltung unserer Zukunft nicht ausreichend zur Verfügung steht – das Humankapital –, wenn es uns nicht gelingt, das Bildungsniveau der heranwachsenden Jugend auf einen Stand zu bringen, der international wettbewerbsfähig ist, sodass wir sowohl hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft als auch der Innovationskraft mithalten können. Insbesondere mit China ist ein Wettbewerber erwachsen, der uns mehr und mehr aus dem schieren Ausstoß an überaus gut ausgebildeten Arbeitskräften, der wachsenden Finanzkraft und einer Leistungsbereitschaft, die schon im Kindesalter anerzogen wird, überlegen ist. Hinzu kommt, dass der Druck auf die Sozialsysteme nicht zu groß werden darf. Darauf mit Handauflegen und provinziellem Egoismus antworten zu wollen, erscheint mir wenig hilfreich.

Die Bildung unserer Gesellschaft muss zu den primären Bereichen permanenten politischen Handelns gehören, aus denen wesentliche Teile unserer Resilienz gegen äußere und innere Gefahren erwachsen – wie der soziale Frieden, die Bindung der Gesellschaft an gemeinsame Ziele, die Innovations- und Leistungsfähigkeit sowie nicht zuletzt das existenziell wesentliche Verständnis, dass wir ein Volk sind, das nur gemeinsam eine Zukunft hat. Dafür brauchen wir eine „Zeitenwende“: nicht dafür, der Militarisierung Deutschlands den Weg zu bereiten.

Wie kann das erreicht werden?

B. L.: Wohin wir auch schauen, müssen wir doch zunächst mal feststellen, dass wir eine Kompetenz besonders entwickelt haben: zu versagen. Schauen wir dazu auf die „Zeitenwende“, wie sie vorangetrieben wird: Sie legt Zeugnis davon ab, wie wenig deutsche Politiker in der Lage sind, die Souveränität Deutschlands zu sichern, und wie sehr sie devot die Militarisierung, die Ausgrenzung alternativen Denkens und die monokulturelle Verblödung vorantreiben – was natürlich auch auf die Fähigkeit und die Kraft wirkt, Probleme zu lösen, zu innovieren, gemeinsam etwas zu erreichen. Dass die Politik derart handeln kann, liegt jedoch auch an einer Gesellschaft, die nicht über die Substanz verfügt, um dem erfolgversprechend entgegenzutreten. Wie sagte Gabor Steingart mal bei ANNE WILL: Der Kapitalismus hat einen großen Magen. Insofern haben wir es auch mit einem gesamtgesellschaftlichen Versagen zu tun. Die Folgen dessen sind allgegenwärtig: explodierende Energiekosten, Inflation, Rezession, zunehmende Armut, zunehmende Insolvenzen. Deutschland wird wieder zum kranken Mann Europas.

Schauen wir auf die Bewältigung der Pandemie, die Unpünktlichkeit der Bahn, die explodierenden Kosten und Zeitverzögerungen bei Projekten wie Stuttgart 21, dem BER und der Autobahn A14, dem Breitbandausbau: Das Versagen ist allgegenwärtig. Wenn wir uns einem dieser Phänomene zuwenden, um es nachhaltig bewältigen zu wollen – die Bildungsmisere ist also nur eines von vielen –, so zeigen alle Erfahrungen, dass die üblichen Herangehensweisen nicht ausreichen, um das erfolgreich zu tun.

Sie wollen zum Ausdruck bringen, dass wir nach tiefer liegenden Problemen für die Vielzahl unserer Probleme suchen müssen?

B. L.: Richtig. Wir müssen uns mit der generellen Verfasstheit unserer Gesellschaft beschäftigen. Die Dominanz des Eigennutzes gegenüber dem Gemeinnutz stellt für die Lösung hochkomplexer Probleme ein Problem dar, da er auf die Befriedigung individueller Ziele ausgerichtet ist, Probleme aus dem Gesichtspunkt der individuellen Nutzenmaximierung und nicht ihrer nachhaltigen Lösung betrachtet und Kooperationen nur so weit vorantreibt, wie sie ihm dienen und ansonsten darauf konzentriert ist, sich im Wettbewerb durchzusetzen. Dadurch werden die Freiheitsgrade bei der Problembewältigung massiv eingeschränkt. Wir haben das bei der Klimakonferenz gesehen: Die reichen Länder sind die größten Umweltverschmutzer, sind aber nur unzureichend bereit, für die von ihnen verursachten Schäden geradezustehen und den anderen Ländern eine Entwicklung auf ihr Niveau zu ermöglichen. Ihr Bemühen ist es, aus dem Problem für ihre Wirtschaft neue Impulse wie auch in der Welt neue Abhängigkeiten zu schaffen, sodass sich so die Spaltung in der Welt weiter vertiefen würde. In der Folge entwickeln sich Konfrontationslinien, weil der Rest der zunehmend erstarkenden Welt nicht bereit ist, das weiter zuzulassen.

Das auf Eigennutz ausgerichtete Denken wird insbesondere von einem Aspekt begleitet: fehlender Achtung. Das Maß an Achtung ist ein maßgeblicher und von immer größerer Bedeutung werdender Faktor für individuelle und gesellschaftliche Wirksamkeit – was insbesondere an der zunehmenden Komplexität der zu bewältigenden Herausforderungen liegt. Weil Alexander Flemming einer Petrischale Beachtung entgegenbrachte, in der Schimmelpilze, aber um sie herum keine Bakterien wuchsen, wurde das Penizillin entwickelt, und weil der amerikanische Präsident in Der Anschlag auf einen Analysten der CIA hörte, der sich mit dem Denken des russischen Präsidenten beschäftigt hatte, wurde ein Weltkrieg verhindert. Weil auf der anderen Seite ein amerikanischer Vizepräsident in The Day After Tomorrow nicht auf einen Wissenschaftler hörte, der eine nächste Eiszeit voraussagte, nahm die Geschichte ihren Lauf, und weil in Don’t Look Up die – wieder amerikanische – Präsidentin nicht auf eine Wissenschaftlerin hörte, die einen Kometeneinschlag auf der Erde voraussagte, wurde die Menschheit vernichtet, und die in einem Raumschiff geflüchteten Eliten wurden von Dinosauriern aufgefressen. Derartige Erfahrungen fehlender Achtung – wenn auch nicht ganz von dieser Dramatik – sind in Deutschland zur Normalität geworden und verursachen erhebliche volkswirtschaftliche Schäden.

Hinzu kommt die Trägheit. Da wir es nicht gewohnt sind, uns mit Gedanken abseits der gewohnten Spuren substanziell zu beschäftigen, fehlt die Erfahrung, sich mit Gedanken abseits der gewohnten Spuren substanziell zu beschäftigen. Sowohl die fehlende Achtung als auch die Trägheit konnte ich während der NSA-Affäre feststellen, als ich aus dem Arbeitskreis Verteidigung des BITKOM heraus mein gedankliches Konstrukt eines Re-Designs der Netze zur Diskussion stellen wollte. Nach dem Versagen in der NSA-Affäre haben wir diese Fähigkeit in der Corona-Pandemie und der „Zeitenwende“ weiter vervollkommnet, sodass wir in der Lage sind, das auch bei neuen Problemen zu erreichen.

Eine Folge fehlender Achtung ist auch die Diskrepanz zwischen der Politik und verschiedenen Interessengruppen auf der einen Seite und dem Volk. Das Volk wird nur als zu bemutterndes Objekt statt als kreativ-schöpferisches Subjekt betrachtet, das nicht nur Ziel aller Bemühungen sein sollte, sondern aus dem substanzielle Beiträge für jegliche Problemstellungen erwachsen können und das sich so weiterentwickeln könnte, aufgrund fehlender Berücksichtigung aber in sich verharrt, erstarrt und als Problemlöser ausfällt, sodass das Versagen fast sicher seinen Lauf nimmt – mit all seinen Folgen. Wir müssen die kognitive Diversität unserer Gesellschaft stärken und besser nutzen: Wir müssen die Lagen vor den Lagen in den Griff bekommen. Von einer lernenden Organisation Deutschlands, in der die politische Führung als Spinne im Netz wirkt, sind wir jedoch weit entfernt.

Lassen Sie uns die Tiefe der Auseinandersetzung für den Rahmen dieses Interviews wieder auf den Bildungsbereich reduzieren. Meinen Sie, dass es diesmal gelingen wird, die Probleme substanzieller zu lösen?

B. L.: Ich zweifle daran. Für die Bildung wird man wieder und noch sehr viel mehr Geld verlangen, um mehr Lehrer, mehr Sozialarbeiter, mehr Hardware, mehr Breitbandausbau, mehr Digitalisierung und eine Modernisierung der Schulen zu bekommen. Doch diese Vorschläge und ihre Absegnung erwachsen aus einer Kultur, die einer nachhaltigen Problembewältigung im Weg steht. Das fängt schon damit an, dass die immer gleichen Personenkreise – die auch für das Versagen Verantwortung tragen – über das weitere Herangehen entscheiden und für die Verteilung wie auch die Nutzung der zur Verfügung gestellten Mittel entscheiden. In solchen Netzwerken wird sicher keiner auf den Gedanken kommen, die Übernahme von Verantwortung für die Misere zu fordern. Was aus christlichem Verständnis noch nachvollziehbar wäre, gehört in einem solchen Umfeld zum Fundament, aus dem Selbstbedienungsmentalitäten und erneutes Versagen erwachsen und die Suche nach nachhaltigen Lösungen, mit denen man mal eine Weile ein Häkchen hinter ein Problem machen kann, selbst dem Denken fremd ist und aktiv behindert wird.

Sie haben Anfang 2021 einen eigenen Vorschlag erarbeitet, wie der Bildungsmisere begegnet werden kann. Was hat es damit auf sich?

B. L.: Wir müssen berücksichtigen, dass die Bildungsmisere in Deutschland ein vielschichtiges Problem ist: Wir haben die Corona-Generation mit ihren Lernrückständen, den Lehrermangel, die Überalterung der Lehrerschaft, einen hohen Krankenstand, viele Fehlstunden, unzureichende Motivation, Distanzunterricht mit fragwürdiger Qualität. Jedes einzelne dieser Probleme ist selbst schon so komplex, dass es uns in der Art, wie wir in Deutschland an Probleme herangehen, zunehmend schwerer fällt, sie schon separat zu lösen. Sie müssen aber gelöst werden, wenn die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nicht auch darüber noch weiter Schaden nehmen soll.

Mein allgemeiner Lösungsansatz für Derartiges ist: Verlasse die Spur und erhöhe die Komplexität – was zwei wesentliche Vorteile hat: Manches singuläre Problem entfällt, und das komplexere Szenario wirkt übergreifend auf verschiedene Aspekte. Insofern habe ich vorgeschlagen, dass die ARD den gesamten Unterricht aller Klassenstufen entlang der Lehrpläne mit den am besten dafür geeigneten Lehrern in verschiedener Weise abbildet und dauerhaft in ihrer Mediathek zur Verfügung stellt. Ich sehe dabei verschiedene Nutzen: Kompensation von Lehrerausfall, permanente Möglichkeit der Reflektion beliebigen Lehrstoffs, Qualifizierung der Prüfungsvorbereitung über alle Lebenssituationen hinweg, Unterstützung des lebenslangen Lernens, Qualifizierung des Präsenz- und Distanzunterrichts durch Best Practice, Einfluss auf die Leistungsbereitschaft der Lehrer, verfügbares digitales Gedächtnis für die nächste Katastrophe. Eine Folge dessen wäre sicher auch, dass begleitende Angebote eine ganz andere Qualität und Wahrnehmung sowie Bindung an konkrete Lernziele hätten.

An wen haben Sie sich mit ihrem Vorschlag gewandt?

Bernd Liske: Nachdem ich den Vorschlag aufgrund zurückliegender Erfahrungen Anfang 2021 zunächst getwittert hatte, wandte ich mich an den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Dr. Reiner Haseloff, seinen Bildungsminister und die Intendantin des MDR. Als es von dort keine Reaktion gab, bemühte ich mich u.a. auch um die Fraktionen im Landtag von Sachsen-Anhalt – die hatten kurz vorher den Lehrermangel thematisiert–, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und die Sendung Campus & Karriere des WDR – nachdem der Bundeselternrat am 21. Januar bei Campus & Karriere Probleme thematisierte –, den Intendanten des NDR – der in einem Interview zum Ausdruck gebracht hatte, er wolle die Menschen zum Nachdenken anregen, Gärungsprozesse initiieren, Meinungsvielfalt schaffen und Leute schlauer machen –, und den Bundeselternrat.

Wir müssen Worte auf ihre Belastbarkeit hin prüfen. Es ist meine Überzeugung, dass wir als Bürger nicht allgegenwärtiges Versagen bemängeln können, ohne uns selbst zu fordern, engagiert und mit eigenen Beiträgen Lösungen für identifizierte Probleme anzubieten. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier hat mal sehr schön zum Ausdruck gebracht: „Als Bewohner ist man noch kein Bürger. Wenn jeder nur das täte, was er muss, wäre unsere Gesellschaft kälter und ärmer.“

Welche Erfahrungen konnten Sie machen?

B. L.: Es wiederholten sich die Erfahrungen, die ich schon in der NSA-Affäre und bei anderen Gelegenheiten sammeln konnte. Es wurde überwiegend gar nicht reagiert, oder es wurden eigene Leistungen herausgestellt – die uns erst in die Misere geführt haben –, ohne sich mit meinem Vorschlag überhaupt konkret auseinanderzusetzen. Von Campus & Karriere hieß es, „dass wir nicht jede Perspektive aufgreifen können“.

Nun gut: Könnte es eventuell sein, dass ihr Vorschlag einfach unausgereift, ja weltfremd ist?

Bernd Liske: Ich versichere Ihnen: Ich fände es toll, Argumente zu hören, aus denen sich das ergibt. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass mir Derartiges hilft, meine Analysen und Konzepte substanziell anzureichern. Kritik ist einer der wertvollsten und leider in unserer Gesellschaft unzureichend genutzten Impulsgeber. Kritik ist wie ein Schmerz, mit dem Ihr Körper Ihnen signalisiert, dass Sie sich um etwas kümmern sollten, dass Ihnen bisher nicht bewusst ist.

Es wäre im Übrigen ja auch schon ein Effekt, wenn der geäußerte Vorschlag zu Ideen führt, die vielleicht praktikabler sind. Mein Herangehen ist es doch nicht, meinen Gedanken zwanghaft so durchsetzen zu wollen. Ich suche nach Lösungen für bestehende Probleme und habe mir aufgrund der Freiheit, mit der ich das praktiziere, vielfältige Möglichkeiten geschaffen, dabei originär, originell und substanziell zu sein. Jede andere Leistung hat für mich aber einen Wert, den ich anerkenne – auch dadurch, ihn mit eigener Leistung werthaltiger machen zu wollen.

Haben Sie es insofern aufgegeben, ihren Vorschlag weiterzuverfolgen?

B. L.: Nein. Ich versuche immer wieder, ihn ins Spiel zu bringen, und bemühe mich auch gegenwärtig. So habe ich meinen Ministerpräsidenten und die Fraktionen im Landtag von Sachsen-Anhalt erneut angeschrieben, und ihn hier zu diskutieren, enthält implizit ja die Bereitschaft, mich mit wem auch immer gern über ihn auszutauschen. Ganz allgemein ist mein Tun auch daran gebunden, mich ständig zu überwinden – darin zu trainieren –, für Werte und Möglichkeiten zu kämpfen, von deren Nutzen für unsere Gesellschaft ich überzeugt bin, um so meiner Vorstellung vom Menschsein Substanz zu geben. Daher ist Aufgeben keine Option, die von mir berücksichtigt wird. Da habe ich sicher ein echtes Defizit.

Meinen Sie, dass nun anders reagiert wird – zumal ja offensichtlich ist, dass etwas getan werden muss?

B. L.: Eigentlich nicht – doch wie schon Don Quijote bin ich im Kampf gegen die Windmühlen unermüdlich und nehme den Umgang mit mir in großer Demut an (1, 2). Die mir vermittelten Erfahrungen kann ich derart interpretieren, dass man mir klarzumachen versucht: Du kannst uns mal, und selbst wenn du dreimal im Kreis springst, haben wir kein Interesse an irgendwelchen Änderungen und schon gar nicht, wenn sie von dir initiiert werden. Ich denke, dass viele Menschen aber ähnliche Erfahrungen machen: Die von ihnen Angesprochenen gerieren sich wie Automaten, in die Geld – Aufwand, Herzblut, Ideen – hineingeworfen wird, in der Regel aber nur bunte Bildchen zur Anzeige bringen, die in ihrer Kombination keinen Gewinn bedeuten. Sie törnen ab und legen nahe: Es macht keinen Sinn, sich einzusetzen. Da muss man sich nicht wundern, wenn sich die Verdrossenheit der Bürger vertieft.

Daher muss man wohl Ausschau halten, ob anderes Personal unserer Gesellschaft neue Impulse geben kann, und in einem kürzlich veröffentlichten Artikel, in dem ich mich entlang dem Film DIE MATRIX mit dem Schein und dem Sein unserer Gesellschaft auseinandersetzte, habe ich die Suche nach dem Neo thematisiert, der unsere Gesellschaft aus ihrer Agonie holt.

Sie haben darin darüber spekuliert, ob Neo vielleicht eine Frau sein könnte, und haben sicher an Sarah Wagenknecht gedacht.

B. L.: Ja. Die Umfragen zeigen, dass Millionen Menschen ihre Hoffnungen an sie binden. Im Kontext der diskutierten systemischen Probleme Deutschlands erscheint mir der Erfolg oder Misserfolg ihres Wirkens zunehmend von existenzieller Bedeutung für unser Land zu sein. Ob sie den Hoffnungen aber gerecht werden kann, ist nicht sicher.

Wo sehen Sie Probleme?

B. L.: Man muss sich die Haltungen, die Absichten und die Handlungen konkret anschauen. Alter Wein in neuen Schläuchen dürfte zwar in dem Fall tatsächlich zum Einzug in die Parlamente reichen, weil die stille Unzufriedenheit mit der deutschen Politik erheblich ist, und die Erfahrungen der AfD zeugen von den auch in Deutschland möglichen Veränderungen, doch das dürfte kaum für einen nachhaltigen Erfolg reichen. Entscheidend für die Partei, aber eben auch für uns alle, und da kommt die Dialektik zum Tragen, wird sein, ob sich aus dem Programm und aus dem Handeln die so dringend benötigten Impulse ableiten, die den Substanzwert Deutschlands wieder stärken, um so bei jedweden Problemen diese tatsächlich erfolgreich und nachhaltig lösen zu können. Das wird weder durch Parolen noch herkömmliches politisches Handeln noch durch Konzepte gestärkt, die in irgendeiner Weise die Gesellschaft spalten. Um es mit einem sachsen-anhaltinischen Gedanken auszudrücken: Wir brauchen zwingend ein #modernDenken, und wir müssen uns gemeinsam darüber Gedanken machen, wie sich das darstellen muss und was davon aus der diskutierten Verfasstheit heraus schrittweise möglich ist, gesellschaftlich zu implementieren.

Über den Autor: Bernd Liske ist Analyst, Berater und Philosoph sowie Inhaber von Liske Informationsmanagementsysteme. Neben Artikeln, Konzepten und Produkten hat er auch mehrere Bücher geschrieben. Während „PRISM – Ein Lehrstück für unsere Demokratie“ seinen persönlichen Einsatz in der NSA-Affäre aufarbeitet, um aus dem damaligen politischen Versagen auf die zugrunde liegende gesellschaftliche Verfasstheit Deutschlands zu schließen und aus dem entstehenden Lagebild gesellschaftliche Impulse abzuleiten, stellen die „Aphorismen für die Menschwerdung des Affen“, ausgehend von Friedrich Engels‘ Arbeit über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, grundlegende Gedanken für die Entwicklung der Demokratie und mit den Aphorismen einen Werkzeugkasten von nachhaltigen Wert- und Handlungsmustern zur individuellen, unternehmerischen und gesellschaftlichen Nutzung zur Verfügung.

Dem Bildungsbereich widmet er sich analytisch-konzeptionell schon über zwei Jahrzehnte. Daraus erwuchsen das Konzept eines multimedialen Zentrums in der alten Post der Lutherstadt Wittenberg – das Wittenberger Telematikum –, die Lesemaschine MIRAKEL, ein Konzept mirakel@school für die Qualifizierung des Deutsch- und Geschichtsunterrichts der Klassen 11 und 12 und Gedanken im Arbeitskreis Bildung des BITKOM, wie der Bildung mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit ermöglicht wird. Seit 2021 protegiert er einen Vorschlag, wie den Problemen in der Bildung grundsätzlich begegnet werden kann.

Titelbild: Cherries/shutterstock.com

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