Vom Nationalismus zum Werte-Westen-Nationalismus – So wahr Gott uns helfe!

Vom Nationalismus zum Werte-Westen-Nationalismus – So wahr Gott uns helfe!

Vom Nationalismus zum Werte-Westen-Nationalismus – So wahr Gott uns helfe!

Ein Artikel von Pentti Turpeinen

Dass die Menschheit endlich dabei ist, die Einsicht in die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Überlebensstrategie zu erlangen, feiert der zivilisierte Westen als seinen Erfolg. Ja, die abendländischen Weltmächte haben sich viele Jahrhunderte unermüdlich bemüht, die Völker der Erde unter ihrem fortschrittlichen Geist zu vereinen. Mit heiligen und profanen Eroberungskriegen, Kolonialismus und Imperialismus, Christentum und Kapitalismus usw. ist es gelungen, den entferntesten Kontinenten die westlich geprägten Kulturideale nahezubringen. Von Pentti Turpeinen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Bei der zivilisiert urgewaltigen Vollendung dieses menschheitlichen Vereinigungsprozesses konnte man bis vor Kurzem der militärisch-ökonomischen Power der USA volles Vertrauen schenken. Da sie aber in diversen Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen nicht die Erwartungen an einen soliden Weltpolizisten und empathischen Führer der Freien Welt erfüllen konnten, kam man auf die kreative Idee, die Qualitäten, mit denen die westlichen Nationen ihre Stärke als einzelne Weltmächte schon Jahrhunderte bewiesen haben, zeitgemäß in eine neue, gemeinschaftliche Selbstidentität des vereinten Westens zu kultivieren.

Dabei fühlt man sich wie selbstverständlich dem mitreißenden Chauvinismus und Exzeptionalismus als dem fundamentalen Erfolgsrezept der abendländischen Welteroberung verpflichtet. Und die kühne, zukunftsorientierte Vision, in einem übernationalen Werte-Westen-Nationalismus den altvertrauten, auf die Eigeninteressen orientierten Nationalismus beizubehalten, nimmt Gestalt an; so wahr Gott uns helfe!

Die werte-westlichen Bevölkerungen haben den Ernst der Lage auch schnell verstanden, sehen im Allgemeinen ein, dass ihr vertrauter Lebensstil nur von einer übernationalen westlichen Wertegemeinschaft gegen all die bösen Mächte aus den ehemaligen Kolonien und sonstigen finsteren Feindeslagern verteidigt und weiterentwickelt werden kann.

Die Lenkbarkeit des gemeinschaftlichen Bewusstseins mit einem einvernehmlichen Weltbild ist eben ein bestens bewährtes Kulturerbe. So, wie die weit zerstreuten lokalen Stämme vormals in der Erhabenheit der Kaiser- und Königreiche und später in der Einzigartigkeit der demokratischen Weltmächte die Größe des eigenen Lebens zu schätzen lernten, fühlen sich die aufgeklärten Völker des gegenwärtigen Abendlandes, die phantasievolle Realität der „Werte-Westen-3-D-Brille“ vor den Augen, zuversichtlich, stolz und sicher.

Auch in den kleineren zivilisierten Staaten spürt man die Begeisterung und Opferbereitschaft für die Erweiterung des lokalpatriotischen Nationalbewusstseins in eine westlich-menschheitliche Identität. Das übernationale EU-Bewusstsein konnte zwar die nationalistischen Emotionen bei den europäischen Völkern nicht beflügeln, hat aber als eine engagierte Bürokratie, die das Alltagsleben einheitlich reguliert, die Verbundenheit zu höheren westlichen Werten bestens vorbereitet. Und so streben sogar manche vormals politisch neutralen Staaten wie Finnland und Schweden nach einem postnationalen Schulterschluss mit den „Großen-Weisen-Brüdern“, versprechen sich in der gegenwärtigen Zeitenwende mit der Kraft der regelbasierten Weltordnung, die NATO als das „Passt-bloß-auf“-Hammerargument, das vertraute abendländisch-patriotische Lebensgefühl zu verteidigen.

Als „Vereinter Westen der Werte “ ist es überraschend schnell gelungen, die allgemeine Akzeptanz für eine gemeinschaftliche Identität zu festigen. Mit einer noch nie dagewesenen militärpolitischen und werteideologischen Einheit auf der Weltbühne fühlt man sich auf dem richtigen Wege, die altvertrauten nationalen Macht- und Profitinteressen weltweit zu realisieren; zum Wohle der Menschheit, versteht sich.

In dieser Kampagne, eine vereinende Dynamik des gemeinschaftlichen Werte-Westen-Bewusstseins zu kultivieren, wiederholt sich eine uralte Tradition. Zur Legitimation ihrer Macht wussten die Herrschaftssysteme überall auf dem Globus die sinnlich geprägte, natürliche Heimatverbundenheit mit wohlformulierten Ideologien in eine jeweilige abstrakte sozialpolitische Identität zu verwandeln; heute heißt es, die emotionale Treue zum Werte-Westen-Nationalismus zu bejubeln.

Das Erkennen der sozioökonomischen Wirklichkeit mit schlicht formulierten öffentlichen Statements zu identifizieren lernt man, nicht als eine geistige Abhängigkeit zu ertragen, sondern als einen pflichtbewussten Beitrag zur Stabilisierung des heimatlichen Zusammenlebens zu verinnerlichen. Die geistige Wachheit und selbständiges Denken werden erst als kreatives Repetieren der allgemein akzeptierten Einsichten gelobt und gewürdigt.

Jahrhunderte durften unsere abendländischen Völker ihren geistigen Horizont als ergebene Diener ihrer Kaiser- und Königreiche und der demokratischen Nationen erweitern, sich einprägsam vorgetragene Werte aneignen, das Treiben ihrer edlen Herrscher bewundern, und für die armen Bauern- und Arbeitersöhne ergab sich sogar die einmalige Möglichkeit, auf den Eroberungsfeldzügen die weite Welt und ihre Menschen leibhaftig kennenzulernen. Heute schätzt man progressiverweise gerne auch die Frauenpower dabei.

Die Herrscher im Abendland fühlten sich seit Anbeginn von ihrer Interpretation des Verwaltungsmodells des christlichen Schöpfergottes beflügelt und strebten danach, ihre Machtbereiche mit einem ausgeprägten Ich-bin-der-Herr-Bewusstsein zu gestalten; so wahr Gott uns helfe! Damit gelang es, die eigene Unfehlbarkeit in Rat und Tat zu beglaubigen. Und von den zeitraubenden Überlegungen über die Konsequenzen und weitreichenden Folgen des eigenen Handelns befreit, fühlt sich auch der Werte-Westen-Nationalismus in vollem Vertrauen an die Dynamik der zukunftsorientierten Unbekümmertheit von höheren Kräften berufen, sich als Retter der Menschheit zu profilieren.

Dieses „besser sein als die anderen“ hat seit Jahrhunderten den zivilisatorischen Traumtanz der Herrschaftsgebilde untereinander geprägt. Kein Wunder, dass auch die gegenwärtige weltumfassende Live-Show „Die Menschheit sucht den Superretter“ mit großem Interesse verfolgt wird.

Da die Jury dieser Supershow traditionell mit den Vertretern von diversen Westmächten besetzt wurde und der Werte-Westen noch nicht für den Auftritt bereitstand, schienen die Gewinnchancen der USA bis vor Kurzem gebongt. Überraschenderweise gibt es aber nun einen neuen Konkurrenten: den Globalen Süden. Und der ist auch dabei, seine weltmehrheitliche Anhängerschaft für die Abstimmung zu mobilisieren. Als Besserwes(t)is sieht man aber weiterhin gute Chancen, unschlüssige Global-Ossis auf die richtige Seite der Geschichte zu gewinnen.

So, wie der abendländische Weltgeist sich nun im Werte-Westen-Nationalismus eine zeitgemäße Identität sucht, lernt auch der wirtschaftspolitisch verstärkte Globale Süden als eine Reaktion auf die Jahrhunderte dauernden Demütigungen, eine eigene Identität als eine souveräne weltpolitische Kraft zu kultivieren.

Ja, von euch lassen wir uns nie mehr ausbeuten, unterdrücken und erniedrigen! Diese Einstellung kennt man gut aus den Kämpfen der sozialen Bewegungen um Gerechtigkeit. Und weil der Westen, zutiefst überzeugt von der eigenen Unfehlbarkeit, eben nie Fehler gemacht hat, allen Völkern immer nur Gutes wollte, sich ungerecht als unfähiger Erziehungsberechtigter verurteilt und existenziell bedroht fühlt, wird auch dieser menschheitlich innerfamiliäre Streit lange, sehr lange dauern; auch, weil die weisen Weißen in ihren ehemaligen Kolonien vorzügliche Strukturen für Korruption und Gewalt der Ethnien untereinander geschaffen haben.

Die fortwährende Instabilität der Herrschaftssysteme haben die abendländischen Mächte souverän zu meistern gelernt. Imperien und Reiche mögen fallen, aber die Macht- und Profitsucht bleiben! Die Mächtigen und die Profiteure bewiesen immer wieder ihre Flexibilität und schafften es, die Macht- und Profitabhängigkeit zu einem gemeinschaftlichen Ideal zu erheben; sei es in der Demokratie. Dass die Reichen auch letztes Jahr immer reicher geworden sind und die Armen ärmer, wird mit unaufgeregter Coolness zur Kenntnis genommen. Die geistige Stabilität der Allgemeinheit können nur Nachrichten über die Bösen auf der Welt erschüttern.

Das Verwandeln der eigenen Lebensbedingungen umfassend und zusammenhängend zu erkennen, um in der Echtzeit darauf zu reagieren, ist eine naturgegebene Überlebensstrategie der Lebensformen. Vor dem Sprachvermögen hatten die Urmenschen dies voll im Griff und überlebten. Mit dem Sprachvermögen sieht es nicht so gut aus.

Als Sprachbegabte haben wir uns angewöhnt, das gemeinschaftliche „geistig-körperliche Hier und Jetzt“ auf die Dynamik eines jeweiligen Herrschaftssystems zu reduzieren. Das Erkennen und das Handeln suchen nach ihrer Identität in der Macht-Profit-Maximierung; so wahr Gott uns helfe.

Das dazugehörige Versagen, an die Konsequenzen des eigenen Handelns zu denken, braucht man gar nicht zu verheimlichen. Die aufgeklärte Öffentlichkeit vermag nach wie vor in den vergangenen und gegenwärtigen und kommenden Kriegen und Katastrophen keine systemimmanente Fehlentwicklung erkennen.

Da wir unseren Alltag sprachlich kooperierend gestalten, hat das vorsprachliche Erfassen der Gegenwärtigkeit kaum eine praktische Bedeutung mehr. Aber als unser Wesensmerkmal möchten wir die steinzeitliche geistig-körperliche Wachheit nicht vermissen, genießen und kultivieren die Freuden an dieser Präsenz vor allem in künstlerischer und sportlicher Kreativität.

Auch in unserem emotionalen Miteinander vertrauen wir der außersprachlichen Entscheidungsfähigkeit, verlieben uns, ohne dies begründen zu wollen, lassen unsere innere Gewissheit immer wieder entscheiden, was in einer Situation richtig, was falsch ist – und das nicht aus einem egoistischen Vorteil!

Ihre alleinige Zuständigkeit für die gesellschaftlichen Moralvorstellungen haben die Herrschaftssysteme seit Anbeginn mit einer erfolgreichen Erziehung zur Wortgläubigkeit durchgesetzt. Es gilt: Der Mensch, damit meint man die anderen, ist böse, muss kontrolliert werden.

Ohne Staatsgewalt würde in unserem zivilisierten Zusammenleben tatsächlich nichts funktionieren. Rechtlich nicht legitimierter Mord und Totschlag, unheilige und nicht werteorientierte Kriege, moralisch unbegründetes Bombardieren von Kindern, unrechtmäßiger Lug und Betrug, nicht gesetzeskonforme Bereicherung auf Kosten der andern usw. bleiben ein echtes Ärgernis.

Jenseits der Treue zu den niedergeschriebenen Moraltafeln lassen sich manche „Freigeister“ auch heute intuitiv von einem steinzeitlichen, inneren Mitgefühl leiten, finden das Einander-Töten und Ausbeuten instinktiv widernatürlich, kommen nicht mal auf die von der Gesellschaft empfohlene Idee, ihr emotionales Urteil über richtig und falsch mit einer vorgekauten nationalistischen Werte-Sprache oder ideologisiert-religiösen höheren Idealen zu begründen, können nur über die Wortgläubigkeit des Zweierleimaß-Bewusstseins des Werte-Westen-Nationalismus staunen.

Um meinen gestammelten Gedanken doch etwas Seriosität zu verleihen, und als Anregung zum weiteren Nachdenken, ein Zitat von einem kundigen Beobachter aus dem vorigen Jahrhundert, Bob Dylan: „‘cause something is happening and you don’t know what it is, do you …?”

Titelbild: Shutterstock / Nadia Snopek