Die „asoziale Intelligenz“ der regelbasierten Weltordnung

Die „asoziale Intelligenz“ der regelbasierten Weltordnung

Die „asoziale Intelligenz“ der regelbasierten Weltordnung

Ein Artikel von Pentti Turpeinen

Auch in der gegenwärtigen weltpolitischen Krisenbewältigung offenbart sich eine tief verinnerlichte Faszination für das Vollenden von selbst verursachten Katastrophen. Ja, manche Spielregeln der abendländischen Machtgebilde sind im Laufe der Jahrhunderte überschaubar geworden und in einem vorausschauenden Spruch, frei nach einer Fußballer-Weisheit, allgemein nachvollziehbar festzuhalten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg! Um dieser seit Jahrhunderten kultivierten Normalität gerecht zu werden, wussten die zivilisierten Machtsysteme mit Verbreiten von Schimpf und Schande über andere Völker und Kulturen die eigenen Bevölkerungen für die edlen Raub- und Welteroberungsorgien zu motivieren. Von Pentti Turpeinen.

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Diese „asoziale Intelligenz“ bewährte sich als eine hervorragende Legitimationsmethode der Macht. Man lernte die eigenen Ideale und die eigene Lebensweise als allen anderen überlegen zu schätzen. Und es schien selbstverständlich, diese zivilisierten Werte uneigennützig mit den Völkern der Welt zu teilen. Man hat daran hart gearbeitet, viele Kriege geführt. Auch die traditionsbewusste westliche Wertegemeinschaft fühlt sich nun wie ein „Narziss mit Gold im Mund“ bewegt und berufen, diesen alten Traum unserer Zivilisation als regelbasierte Weltordnung unter ihrer Führung endlich zu verwirklichen.

Die „asoziale Intelligenz“ hat sich als eine Grundvoraussetzung der abendländischen Eroberungsmentalität etabliert. Mit dem Selbstwertgefühl, erhaben und außerordentlich zu sein, fühlten sich die zivilisierten Machtsysteme schon in Urzeiten mit gutem Gewissen berechtigt und berufen, die, wie es hieß, primitiven, zurückgebliebenen, barbarischen, ungläubigen, unterwürdigen usw. Völkerschaften zu erobern, zu versklaven und auszubeuten. In der anspruchslosen Logik der „asozialen Intelligenz“ lernten die zivilisierten Bevölkerungen beim Erniedrigen anderer Völker, ohne dies auszusprechen, ihren Stolz und ihre Kampfkraft zu steigern; im Westen nichts Neues.

Unter dem Wahlspruch „Wer andere erniedrigt, wird erhöht“ konnten die abendländischen Nationen sich als Weltmächte stabilisieren. Um die eigenen Bevölkerungen mit ihrem Überlegenheitsgefühl gegen die Fremden fit zu halten, erwiesen sich auch die eigenen ethnischen Minderheiten, Immigranten und Flüchtlinge, die es ja immer gab, als eine willkommene Herausforderung. Dabei haben sich vor allem die USA im Umgang mit ihren Sklaven als besonders einfallsreich beim Kultivieren der eigenen Überheblichkeit erwiesen.

Als Verteidiger von edlen Vorhaben fühlte man sich dazu verpflichtet, die einstudierten Fehlentwicklungen ignorieren zu müssen. Unliebsame Meinungen wurden konsequent ab- und ausgegrenzt. Dieser zivilisierten Tradition ist die westliche Wertegemeinschaft treu geblieben: an Scheinheiligkeit des Westens also nichts Neues.

Im Gegensatz zu der sozialen (!) Intelligenz stellt sich die „asoziale Intelligenz“ auch in den Fragen nach Gerechtigkeit und Empathie in den Vordergrund. Es gilt ja, mit den eigenen Handlungen und Errungenschaften das auserwählt Sein zu bestätigen. In den kreativen technologischen und wissenschaftlichen Erfindungen und Entdeckungen, in den bewundernswerten geistigen Anregungen der Kunst und Kultur, in der sozialen und ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft hin zu einem Paradies der Lohnabhängigen und Wirtschaftsbosse erkennen und jubilieren wir nicht den menschlichen Erfindungsreichtum, sondern unsere Berufung, als außergewöhnlicher Menschenschlag die Menschheit mit „Glück und Seligkeit“ zu bereichern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lernten die abendländischen „Brüder im Geiste“, einander als einigermaßen gleichwertig Zivilisierte zu akzeptieren. Um die eigenen Bevölkerungen unter den gemeinsamen Idealen eines freien Westens zu vereinen, erwies sich der Kampf gegen die Gefahr des Kommunismus als sehr hilfreich. Mit der Schlagfertigkeit der „asozialen Intelligenz“ gelang es, vor allem die Sowjet-Kommunisten, die Russen, als unbeschreiblich böse im öffentlichen Bewusstsein zu verewigen. Ja, es war auch damals eine große Genugtuung, mit dem zivilisierten „Schulhof-Mobbing“ andere Kulturen als minderwertig festzusetzen, um sich als freier und erhabener Bürger des demokratischen Westens zu identifizieren.

Auch im Umgang mit den ehemaligen Kolonien ergaben sich neue Perspektiven. Die martialischen Eroberungskriege und militärisch organisierte Ausbeutung wurden in der nachkolonialen Zeit durch die kapitalistisch zivilisierten Geschäftsbeziehungen ersetzt. Es hatte sich nicht mehr als zeitgemäß angefühlt, im Umgang mit Afrika, Arabien, Asien usw. mit rassistischen Traditionen die eigene Überlegenheit zu verstärken. Dafür ergab sich eine wahrhaft menschenfreundliche Variante. Mit der absoluten Dominanz unserer Geschäftsleute konnten wir die Führungsrolle beim weltwirtschaftlichen Fortschritt übernehmen, wie es heißt: zum Wohle aller. Ja, die Bevölkerungen des Westens freuten sich sehr über die billigen Waren und Rohstoffe aus den fernen Ländern, zollten den westlichen Businessmen Respekt, fühlten sich als eine gehobene Zivilisation bestätigt. Und dass die Regeln des liberalen Weltwirtschaftssystems als Unterstützung der westlichen Vorherrschaft formuliert wurden, bleibt bis heute eine Selbstverständlichkeit.

Die weltpolitische Lage hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Wie schon Bob Dylan mal weise erkannte: the times they are a-changin‘. Aus den ehemaligen Kolonien entstanden unterentwickelte Länder, Entwicklungsländer, Schwellenländer und nun der immer mächtigere Globale Süden, der als BRICS die eigenen Potenziale in sich zu vereinen begann.

Ja, die Zeiten ändern sich. Um sich als eine alleinige Weltmacht zu behaupten, reicht es nicht mehr, das unerschütterliche Selbstwertgefühl der eigenen Bevölkerungen zu kultivieren. Die Raffinesse der „asozialen Intelligenz“ taugt nicht mehr als eine Welteroberungsstrategie. Dem werteorientierten Westen ist die militärisch-wirtschaftliche Vormacht über die Länder des Globalen Südens abhandengekommen. Das hat sich schon in den nutzlosen Kriegen der USA in den letzten Jahrzehnten angedeutet. Aber eine jahrhundertealte Tradition verblendet, engt den Blick auf das vormals Bewährte ein, lässt alte Ideale als realisierbar erscheinen.

Der westlichen Wertegemeinschaft ist es zwar mit den altbewährten Methoden der „asozialen Intelligenz“ gelungen, ihre Bevölkerungen für den Kampf um die eigene Vormachtstellung zu vereinen, aber mangels Durchsetzungskraft wirkt das ganze Treiben wie ein Kampf gegen die Windmühlen; nur sehr, sehr viel gefährlicher!

Nicht nur die Bevölkerungen und die mediale Öffentlichkeit, sondern in erster Linie die politische Elite, seien es Politiker, Thinktanks, Militär, bewähren sich als Repeater der altvertrauten Welteinsichten der „asozialen Intelligenz“. Der Werte-Westen kann nicht aufgeben, hält seinen geistigen Horizont eng auf die Feindbilder fokussiert, findet Siegesgewissheit und Zuversicht in der vormals bewährten Strategie seiner „AI“: Wir sind die Guten, und das soll so bleiben, sei es mit Gewalt. Anders formuliert: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg!

Dass dieses Echokammer-Syndrom sich zu einer intellektuellen Normalität etabliert hat, wird in der gegenwärtigen politisch-medialen Öffentlichkeit als Erreichen einer langersehnten geistigen Reife gefeiert. Kein Wunder, dass man im Allgemeinen nicht in der Lage ist, logisch denkend, nicht mal mit dem natürlichen Menschenverstand die eigenen Machenschaften zu reflektieren.

Obwohl es dem Westen gelungen ist, Russland auf der nach oben offenen „Schimpf und Schande Skala“ in eine rekordverdächtige Höhe zu positionieren, reicht die unerschütterliche und seit Generationen gepflegte Russophobie unter den zivilisierten Bevölkerungen allein nicht, um diesen Komplizen des Globalen Südens zu ruinieren. Es fehlt an dem militärisch-wirtschaftlichen Rückhalt. Die werteorientierte Weltpolitik feiert sich als absurdes Theater.

In den öffentlich-medialen Kommentaren zum G20-Treffen in Indien war das erste Mal eine Verunsicherung über die Welteroberungsfähigkeit des Westens zu spüren. Davor hatte man sich mit Elan auf die Unterstützung der regelbasierten Weltordnung konzentriert. Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Weltbildes und an der Durchsetzungskraft des Westens wurden als Hinterhältigkeit und Verrat öffentlich geahndet. Ja, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu hinterfragen, galt es traditionsbewusst zu vermeiden.

Im werteorientierten Westen verbreitet sich die niederschmetternde Vorahnung, dass all die ehemaligen Kolonien, Afrika, Arabien, Lateinamerika, Asien, all die Länder des globalen Südens sich nicht vom Sinn des regelbasierten Weltbildes überzeugen lassen, sich eher der BRICS zuwenden. Diese Undankbaren! Jahrhunderte haben doch unsere abendländischen Hochkulturen sich und vor allem andere dem Wohle der Menschheit geopfert! Und nun wollen sie unsere unipolare Herrlichkeit in ein multipolares Chaos verwandeln. Das kann und will doch kein zivilisierter Thinktank verstehen!

Statt die Bedingtheit des eigenen Weltbildes zu reflektieren und den eigenen geistigen Horizont für die Potenziale der gegenseitigen Kreativität der Weltkulturen zu öffnen, also die soziale (!) Intelligenz als respektvollen und einander bereichernden Umgang auf der Weltbühne zu kultivieren, murmelt die westliche Elite traditionsbewusst vor ihrem treuen Publikum: Glaubt uns doch, es geht nicht anders, nach dem Krieg ist vor dem Krieg!

Die „asoziale Intelligenz“ hat sich als eine hervorragende Methode der zivilisierten Machtgebilde erwiesen, um unauffällig das gemeinschaftliche Bewusstsein zu lenken. Dazu gehört die Selbstverständlichkeit der Doppelmoral.

Zum Beispiel wird das Töten und Stehlen innerhalb einer Gemeinschaft verachtet und bestraft, aber im Namen des eigenen Herrschaftsgebildes in der Fremde hochgeschätzt und bejubelt. Und wie selbstverständlich schätzt man die Gesetze der Moral innerhalb der eigenen Lebensgemeinschaft; mit freundlicher Unterstützung der Staatsgewalt, versteht sich. Aber all die Verbrechen, die im Namen unserer Kultur in der Welt unendliches Leid und Elend erzeugt haben und erzeugen, lernten wir als werteorientiertes Handeln zum Wohle des eigenen Lebensstils zu akzeptieren.

Zweierlei Maß und Doppelmoral sind als Aspekte der „asozialen Intelligenz“ bei der werteorientierten Lebensgestaltung eine Selbstverständlichkeit. Also: Bloß nicht beim alltäglichen Erniedrigen der Feinde in den Spiegel schauen! Man hat sich im Laufe der Jahrhunderte angewöhnt, das eigene Weltbild als ein weltweit allein gültiges zu glorifizieren. Somit darf es gar nicht auffallen, dass man mit den Regeln der regelbasierten Weltordnung die eigenen Regeln meint.

Unsere zivilisierten Machtgebilde haben sich seit Anbeginn angewöhnt, Illusionen als Antrieb zu vermitteln. Auch das Versprechen von der regelbasierten Weltordnung bleibt ein Wunschtraum, ein jahrhundertelang gepflegtes geistiges Erbe der zivilisierten Welteroberungsideologie, eine Vision, geprägt von der privaten Macht-Profit-Vermehrung, ein Science-Fiction-Drehbuch, mit dem die Wirklichkeit gestaltet werden soll.

Liebe Welteroberer im Geiste der westlichen Werte! Auch ich meine es ja nur gut. Jeder macht Fehler. Aber lasst uns nicht wieder den folgenschweren Fehler machen, die eigenen Fehler nicht zu korrigieren!

Titelbild: Shutterstock / red-feniks

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