Beratungsresistenz als Kommunikationsideal: Denn sie wollen nicht wissen, was sie tun

Beratungsresistenz als Kommunikationsideal: Denn sie wollen nicht wissen, was sie tun

Beratungsresistenz als Kommunikationsideal: Denn sie wollen nicht wissen, was sie tun

Ein Artikel von Pentti Turpeinen

Es ist nicht das erste Mal in unserer Zivilisationsgeschichte, dass eine stabile Mehrheitsmeinung sich als unfähig und unwillig erweist, ihre Beschränktheit beim Gestalten des gesellschaftspolitischen Geschehens zu reflektieren. Als ein besonders beratungsresistenter Bewahrer von wahren Einsichten hebt sich gegenwärtig die westliche Wertegemeinschaft samt ihrer medialen Öffentlichkeit nach innen und außen hervor. Wurden bis vor Kurzem kritische Stimmen als eine kontrollierbare Bereicherung von der Gesellschaft akzeptiert, als diskussionswürdige Anregungen sogar verbreitet, werden sie nun mit einer tiefen Überzeugung von der Allgemeingültigkeit der eigenen Wahrheiten aus dem öffentlich-medialen Diskurs ausgeschlossen. Die gegenwärtige werteorientierte Politik begreift nicht, dass die kritischen Einwände und Ideen aus der Zivilgesellschaft eine Grundvoraussetzung für das sinnvolle Gestalten der Lebensbedingungen sind. Von Pentti Turpeinen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In der „Echokammer zu wahren Sprüchen“ lauscht man entzückt den Jubelgesängen über die eigene Außergewöhnlichkeit; auch, um das „offene Ohr für andere Ansichten“ zuzudröhnen. Der werteorientierten Beratungsresistenz ist es erstaunlich gut gelungen, das Gespür für die individuelle Redefreiheit mit dem Verbreiten von Mainstream zu vereinen. Somit konnten all die abweichenden Meinungen und Ideen als „anarchistisch-kommunistisch-humanistische Verschwörungstheorien“ mit ihren hinterhältigen Anregungen zum zusammenhängenden Denken aus der Mehrheitsmeinung fast vollständig ausgemerzt werden.

Die werteorientierte Kommunikation hat aus den Legitimationsmethoden der vergangenen Herrschaftssysteme traditionsbewusst gelernt, die „Wahrheitsfindung mit doppelten Standards“ in eine öffentlich-mediale Hochkultur zu verwandeln. Das Ausblenden der weiterführenden Fragen und vor allem der Gegenargumente ist natürlich keine neue Errungenschaft. In einer kultivierten Sprache vorgetragene Eindeutigkeit des eigenen Weltbildes als eine nicht zu hinterfragende Gewissheit zu vermitteln, hatte sich als eine Legitimationsmethode schon in den vergangenen Herrschaftssystemen der christlich-abendländischen Zivilisation bestens bewährt.

Aber auch damals wurde Kritik an die herrschaftlichen Ideologien laut, und aufklärende und anregende Ausführungen fanden Zuspruch und Akzeptanz. Bibliotheken wurden gut gefüllt mit fundierten Analysen und einfühlsamen Berichten über die katastrophalen Folgen der Einengung der gemeinschaftlichen Wahrnehmung auf ideologisierte Gleichschaltung.

Als Zoon politikon treibt uns das Bedürfnis, die eigenen Lebensbedingungen zu verstehen und die Beobachtungen über die Fehlentwicklungen zu kommunizieren. Manche solcher Ideen von den „Weltverbesserern“ hatten großen Einfluss, sind ein Bestandteil der Kulturen geworden. Sogar Herrscher und Herrschaftssysteme von vormals waren für einige Anregungen offen.

In den Demokratien lernte man zuständigkeitshalber, die gesellschaftlichen Erneuerungen den Parteien zu überlassen. Man blieb auch geistig unter sich, meinte, alles im Griff zu haben. Wie engstirnig sie dabei als Vertreter von den Ideologien und Interessen ihrer Anhänger, Gönner und Förderer bleiben können, beweist gegenwärtig die westliche Wertegemeinschaft. Für außerparlamentarische Anregungen, querdenkerische Beobachtungen und systemverändernde Ideen sind die Parteien nur offen, wenn in diesen ihr Programm bereichert wird.

Die Tendenz zum Ignorieren und sogar Verbieten von tiefgreifenden Analysen und Beobachtungen aus der Zivilgesellschaft hat die westliche Wertegemeinschaft mit der wohlwollend aufgeregten Unterstützung der Presse zu einer stabilen Legitimationsmethode ausgebaut. Wie ein Vertreter der „reinen Lehre“ reduziert der Werte-Westen die Gestaltung der gemeinschaftlichen Lebensbedingungen auf seine Ideologie; und dies nicht nur im Inneren, sondern frecher Weise weltweit!

Die Demokratien haben verlernt, die theoretischen und praktischen Anstöße aus der Zivilgesellschaft als kommunikatives Mitgestalten der parlamentarischen Politik zu erkennen. Ihre Philosophie heißt, frei nach Schopenhauer: Die Welt als Wille zum Realisieren der eigenen Vorstellungen!

Das aufklärende Engagement von interessierten Beobachtern, seien es Schriftsteller, Philosophen, Sozialwissenschaftler, Journalisten, kann die westliche Wertegemeinschaft als ein notwendiges und kreatives Mitgestalten der Lebensbedingungen nicht akzeptieren, erkennt kritische Analysen nicht als einen bereichernden Anstoß zum Kultivieren des gesellschaftlichen Wandels.

Es gab immer sachkundige Analysen über die systemimmanenten Fehlentwicklungen. Die gut fundierten warnenden Stimmen vor den Kriegen haben nicht mal die demokratisch gewählten Mächtigen ernst genommen; so wie heute! Ja, es gab doch aufrührende Analysen über die Niedertracht und katastrophalen Folgen des Kolonialismus! Längst bekannt sind auch die wirtschaftspolitischen Gründe für die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen! Und so weiter! Die aufklärenden Beobachtungen aus der Zivilgesellschaft hätten viel Leid ersparen können.

Da die herrschenden Ideologien nie in der Lage waren, das eigene Erkennen und Handeln in einem umfassenden Zusammenhang zu reflektieren, die sozialpolitischen Abhängigkeiten ihrer Wahrheiten nicht erkennen wollten, führten sie ihre Völker von einer Katastrophe in eine andere; so wie heute!

Eine Mehrheitsmeinung hat die Funktion, das Zusammenleben zu ordnen und zu stabilisieren – in einer überschaubaren Stammeswirklichkeit kein Problem. Aber von Natur aus war unser gemeinschaftliches Erfassungsvermögen nicht auf die Herausforderungen der zeiträumlich ausgedehnten Lebensbedingungen vorbereitet. Statt die evolutionäre Anpassung auf die neuen Lebensbedingungen gemeinschaftlich zu kultivieren, wurde das kooperative Erkennen den Interessen der Macht-Profit-Strukturen untergeordnet. Und diese Intelligenz war nie in der Lage, die Folgen ihres gesellschaftlichen Handelns zu überschauen, nicht mal in all den Kriegen, sozialen Ungerechtigkeiten, Sklaverei, Kolonialismus, Naturzerstörung usw. die eigene geistige Beschränktheit zu reflektieren.

Es waren immer einige wache Beobachter, die an den Ideologien, Werten, Regeln, Gesetzen, Obrigkeit, Militär, Kriegshysterien, Selbstverherrlichung usw. eine nicht in ihren Konsequenzen durchdachte Macht-Profit-Stabilisierung erkannten. Und manche von diesen Autoren hatten vormals großen Einfluss, Menschenmassen sogar zu revolutionären Bewegungen vereint. Andere wurden mit ihren weltbewegenden Ideen weltberühmt, unsterblich sogar, indem sie von wichtigen öffentlichen Persönlichkeiten immer wieder zitiert werden; auch wenn es dabei nur um die Untermalung ihrer eigenen Weltsicht geht.

Waren die Abhandlungen über die Fehlentwicklungen unserer Zivilisation vormals von einem ansteckenden Mitgefühl und von einer offenen Ansteckung zu systemimmanenten Veränderungen geprägt, werden weltverändernde Ideen heute dem großen Publikum als Unterhaltung kommuniziert.

Mit dem zeitgemäßen „Bildschirm-Bewusstsein“ betrachten wir interessiert das Elend und die Ungerechtigkeiten in der weiten Welt aus einer sicheren Entfernung und fühlen uns nur zuständig, wenn unsere Werte und Profite in Gefahr sind.

Mit welcher Dämlichkeit die herrschaftlichen Dämel ihre „Werte der Selbstverherrlichung“ all die Jahrhunderte verteidigt haben, kann man in den satirischen Werken rekapitulieren. Aber so, wie die westliche Wertegemeinschaft in solchen Spiegelbildern sich nicht wiedererkennen will, blieben auch die bösesten Persiflagen von vormals ohne einen nachhaltigen Einfluss. Statt sich befreit über das eigene Treiben als absurdes Theater zu amüsieren, wird der Blick auf das geistig-körperliche Erniedrigen von Andersartigkeit gelenkt.

Die Dynamik eines geordneten Zusammenlebens wird durch das Rollenverhalten stabilisiert. Sich in eine jeweilig vorgegebene Rolle einzufühlen, das notwendige Know-how zu lernen, ist eine Grundvoraussetzung des kooperativen Lebens. Dass wir in unsere Rollen mit Leib und Seele aufgehen, ohne dies als Abhängigkeit zu spüren, unsere Texte engagiert vortragen, ohne zu merken, dass sie nicht unsere Gedanken sind, ist ein Lebensgefühl, das schon Shakespeare in Macbeth vorweggenommen hat:

„Life‘s but a walking shadow, a poor player, that struts and frets his hour upon the stage, and then is heard no more; it is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.“

In dieser Art von kritisch-niederschmetternden Beschreibungen ist eine mitfühlende Anregung zum Verändern der eigenen Lebensweise zu spüren. Von so einem „vorzivilisierten“ Mitgefühl getragen, leisten Schriftsteller, Künstler, Journalisten, Forscher usw. ihren Beitrag aus der Verantwortung für Mensch und Natur. Dabei geht es nicht nur um einzelne Missstände, sondern um das Einfühlungsvermögen für das gemeinschaftliche Mitgestalten der Lebensbedingungen.

In einzelnen Auswüchsen die gesellschaftliche Gesamtwirklichkeit sehen! Darin liegt die Reife der außerparlamentarischen Beobachter. Aber nur die Politik kann die konkreten Fehlentwicklungen korrigieren. Wir brauchen einander!

Die westliche Wertegemeinschaft lässt gegenwärtig keine Anzeichen erkennen, ihre Unfähigkeit, das eigene Handeln zu begreifen, einzugestehen. Von den Herrschaftsideologien verblendet, begreift die mediale Öffentlichkeit nicht, was die kritischen Beobachter mit ihren Ideen für die Gemeinschaft leisten und geleistet haben.

Also: Um die Selbstheilungskräfte der aufgeklärten Vernunft ordentlich und geregelt zu beleben, brauchen wir einen herrschaftsfreien Diskurs zwischen Politik und Zivilgesellschaft. Um die Seriosität des Vorhabens zu steigern, wäre es hilfreich, wenn auch die Universitäten Forschungsprojekte über die „Bedingtheit des gemeinschaftlichen Bewusstseins“ ermöglichen. Doktoranden können dann den kreativen Einfluss der Zivilgesellschaft auf das gemeinschaftliche Kultivieren der Lebensbedingungen heute und in der Vergangenheit konkretisieren. Und mit Hilfe der KI-VR-Familie wird es reizvoll, aus all den fantastischen Potenzialen des Zusammenlebens die besten für das Allgemeinwohl zu realisieren. Ja, wie es schon in der Hippie-Epoche im vorigen Jahrhundert hieß: This is the dawning of the age of Aquarius“. Endlich!

Titelbild: Shutterstock / Pixel-Shot