„War es sinnvoll, Millionen von COVID-19-Fällen mit milden Symptomen verhindern zu wollen?“

„War es sinnvoll, Millionen von COVID-19-Fällen mit milden Symptomen verhindern zu wollen?“

„War es sinnvoll, Millionen von COVID-19-Fällen mit milden Symptomen verhindern zu wollen?“

Ein Artikel von Karsten Montag

In mehreren Publikationen setzt sich der Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin Günter Kampf mit dem Umgang der Coronakrise in Deutschland auseinander. In seiner neuesten Veröffentlichung mit dem Titel „CoroFluenza“ vergleicht er COVID-19 auf der Basis von Kennzahlen aus Studien und der öffentlichen Berichterstattung mit anderen bekannten pandemischen viralen Atemwegserkrankungen. Im Interview mit Karsten Montag legt er dar, dass sich COVID-19 im Großen und Ganzen nicht von den bekannten Grippewellen unterscheidet, dass die verwendeten Kennzahlen zur Steuerung der Krise unangemessen waren und dass es aufgrund der Vermeidung einer sachlichen Aufarbeitung in einer ähnlichen Situation womöglich erneut zu den Maßnahmen kommt, wie wir sie in den letzten drei Jahren erlebt haben.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Karsten Montag: Herr Professor Kampf, seit Beginn der Coronakrise haben Sie fünf Fachbücher unter anderem zur Effektivität und Sinnhaftigkeit von staatlich angeordneten Maßnahmen wie die 2G-Regel, die Maskenpflicht sowie die Impfpflicht veröffentlicht. In Ihrem neuesten Buch mit dem Titel „CoroFluenza“ vergleichen Sie anhand von epidemiologischen Kennzahlen die Auswirkungen von COVID-19 auf die öffentliche Gesundheit mit denjenigen anderer Atemwegserkrankungen wie der Grippe. Welche Kennzahlen haben Sie sich genauer angesehen und verglichen?

Günter Kampf: Ich habe mir alle Fallzahlen von pandemischen viralen Atemwegsinfektionen angeschaut. Es ist also noch ein bisschen enger gefasst als Atemwegserkrankungen, weil es hier nur um virale Atemwegsinfektionen geht und nur um solche, die auch entweder schon eine Pandemie ausgelöst haben oder pandemisches Potenzial haben. Und zu diesen Viren zählen die Coronaviren und die Influenzaviren. Der Hintergrund des Ganzen war, dass COVID politisch und medial immer wieder als besonders schwerwiegend dargestellt wurde und ich mir hier ein eigenes Bild machen wollte. Also habe ich mir die Fallzahlen auf Basis der gültigen Falldefinition angesehen. Außerdem habe ich mir die Übertragbarkeit angeschaut und die Fallzahlen nach Schweregrad geclustert. Das bedeutet, es gibt Fälle, die keine Symptome haben, die sogenannten asymptomatischen Fälle. Dann gibt es solche, die milde oder moderate Symptome haben. Das sind also alle die, die tatsächlich symptomatisch sind, aber keine Krankenhausbehandlung benötigen. Dann kommt die Fallzahl schwerer Infektionen. Das sind all die, die hospitalisiert wurden. Darauf folgen die kritischen Verläufe, die im Krankenhaus auf einer Intensivstation behandelt werden mussten, und am Ende die Rate tödlicher Infektionen.

Diese Zahlen kann man sich heraussuchen, einmal aus Studien und aus der öffentlichen Berichterstattung. Zu den Coronaviren gehören auf jeden Fall COVID, das SARS-Coronavirus aus dem Jahr 2003 und das MERS-Coronavirus, das in Saudi-Arabien und im Mittleren Osten vor einiger Zeit Infektionen ausgelöst hat. Und dann gibt es natürlich noch die sonstigen Coronaviren, die im Grunde endemisch kursieren und immer wieder auch zu Infektionen führen. Bei den Influenzaviren habe ich mir die Schweinegrippe (H1N1) angeschaut, die auch damals als Pandemie deklariert wurde, dann die Spanische Grippe von 1918 und dazu noch die schwere Grippewelle aus dem Jahr 2017/2018, die hier in Deutschland immer noch als eine besonders schwere Infektionswelle in den Wintermonaten gilt. Das habe ich mir angesehen und verglichen.

Und zu welchen Ergebnissen sind sie bei dem Vergleich gelangt?

Hinsichtlich der Ausbreitung kann man feststellen, dass COVID tatsächlich eine sehr hohe Fallzahl hatte. Wir hatten allein im Jahr 2022 circa 30 Millionen Fälle in Deutschland. Auch wenn Personen sicherlich mehrfach getestet wurden, dann kommt man immerhin auf 36 Prozent der Bevölkerung. Und das ist schon eine sehr hohe Zahl für 2022. Beim SARS-Coronavirus im Jahr 2003 gab es hingegen in Deutschland keinen einzigen bestätigten Fall. Von daher ist das schon bemerkenswert. Wenn man sich die Grippeviren anschaut, dann haben wir einmal die Schweinegrippe (H1N1) in 2008/2009. Damals gab es in Deutschland in dieser Saison insgesamt circa 223.000 Fälle. Das entspricht 0,3 Prozent der Bevölkerung, ist also deutlich weniger als das, was wir bei COVID im Jahr 2022 gesehen haben. Und die schwere Grippewelle in 2017/2018 hatte etwa 334.000 Fälle, das entspricht 0,4 Prozent der Bevölkerung. Daran kann man sehen, dass die Übertragbarkeit bei COVID sehr hoch war und es dadurch zu vielen Fällen in Deutschland gekommen ist. Wenn man sich dann die Fallzahlen nach Schweregrad anschaut, was mein besonderes Interesse geweckt hat, dann war ein hoher Anteil asymptomatischer Fälle zu erkennen. Bei COVID liegt dieser in der Größenordnung zwischen 18 und 44 Prozent. „Asymptomatisch“ bedeutet, dass am Untersuchungstag keine Symptome vorlagen.

Es gibt noch eine weitere Kategorie von asymptomatischen Fällen, die auch im weiteren Verlauf ohne Symptome geblieben sind. Da findet man jedoch praktisch keine Vergleichszahlen. Deswegen habe ich meine Untersuchung auf die Fälle reduziert, die am Untersuchungstag keine Symptome aufwiesen. Überraschenderweise gilt das auch für das SARS-Coronavirus, bei dem 18 bis 37 Prozent der Fälle am Untersuchungstag keine Symptome hatten. Und interessanterweise gilt das auch für das Influenzavirus, bei dem Raten zwischen 19 und 44 Prozent beschrieben wurden. Von daher ist das im Großen und Ganzen vergleichbar. Ein ähnliches Gesamtbild findet sich für milde und moderate Verläufe. Die fallbezogene Häufigkeit milder oder moderater Verläufe lag bei COVID zwischen 82 und 98 Prozent. Das heißt, die meisten Fälle hatten Symptome, mussten aber nicht im Krankenhaus behandelt werden. Diese Rate ist zum Beispiel bei Influenzaviren mit 40 bis 43 Prozent deutlich geringer. Das heißt, bei Influenza kommt es offenbar seltener zu milden oder moderaten Verläufen, unabhängig von der absoluten Fallzahl.

Zu den Fallzahlen: Dies sind ja Einflussgrößen zur Berechnung der Kennzahlen wie die Fallsterblichkeits- und Infektionssterblichkeitsrate. Diese wurden bei COVID-19 durch die massenhaft eingesetzten PCR- und Antigen-Tests sowie die Zählweise der Opfer fundamental anders erhoben als beispielsweise bei der Influenza oder anderen viralen Atemwegserkrankungen. Sind die jeweiligen Kennzahlen für COVID-19 und die Grippe daher tatsächlich vergleichbar?

Die Definition der Influenza-Infektion basiert primär auf Symptomen und sekundär auf der Labordiagnostik, anlasslose Massentests wie bei COVID-19 mit insgesamt 150 Millionen PCR-Tests allein im Jahr 2022 hat es bei Influenza-Infektionen nie gegeben. Die Falldefinition für COVID war von Anbeginn an mehr oder weniger an einen positiven Test geknüpft, unabhängig davon, ob die Person Symptome hatten oder nicht. Deshalb sind die Fallzahlen nur bedingt vergleichbar. Doch bessere Zahlen liegen leider nicht vor.

Heißt das, dass COVID eher harmloser ist als die Grippe? Oder habe ich das falsch verstanden?

Sagen wir mal, COVID führt vergleichbar häufig zu asymptomatischen Fällen am Untersuchungstag, und es gibt häufiger milde oder moderate Verläufe. Allerdings, und deswegen muss ich das dann doch einschränken, ist die Rate von Todesfällen im Jahr 2020 und im Jahr 2021 bezogen auf die Fallzahl bei COVID höher gewesen. Sie war erst im Jahr 2022 wieder niedrig, und zwar so niedrig, wie man das von Influenza-Infektionen kennt. Von daher kann man nicht sagen, dass COVID harmloser war, je nachdem, was man als Endpunkt nimmt. Sagen wir mal so: Ich sehe bei COVID einerseits einen Ausschlag bei milden Infektionen, die häufiger vorkommen als bei der Influenza. Auf der anderen Seite gibt es auf jeden Fall eine deutlich höhere Gesamtfallzahl als bei der Influenza, vor allem im Jahr 2022, und eine höhere Rate der fallbezogenen Sterblichkeit bei COVID in den Jahren 2020 und 2021, aber nicht mehr im Jahr 2022. Das liegt vermutlich auch daran, dass vor allem die Omikron-Variante kursierte, von der man ja weiß, dass sie eher zu milderen Verläufen führt. Und man kann ab 2021 wahrscheinlich auch den Nutzen der Impfung sehen, der im Jahr 2020 nicht vorhanden war.

Könnte man also sagen, dass COVID mit der Omikron-Variante harmloser geworden ist als die wiederkehrende Grippe?

Wir sehen ja jedes Jahr virale Atemwegsinfektionen. Ich habe hier nur auf die pandemischen geschaut, und da würde ich sagen, dass dies spätestens seit 2022 gilt, als es nur noch eine relative fallbezogene Sterblichkeitsrate von 0,2 Prozent gab. Die ist jetzt nicht so hoch. Doch der Unterschied zur Influenza ist, dass es 2022 30 Millionen COVID-19-Fälle gab, und von denen sind knapp 48.000 verstorben. In der schweren Grippewelle 2017/2018 waren es etwa 25.000 Todesfälle, von denen man ausging. Es kommt also darauf an, worauf man schaut. Die relative Sterberate mag niedriger sein, die absolute Zahl der Todesfälle ist wahrscheinlich deutlich höher. Und das muss man dann im Gesamtbild sehen.

Bei der Grippe wurden viele Todesfälle nicht erfasst, da in den Totenscheinen andere Mortalitätsursachen vorrangig genannt wurden. In der Coronakrise wurden die Ärzte angewiesen, bei einem vorliegenden positiven Labortest immer COVID-19 als Todesursache anzugeben. Könnte das der Grund für die unterschiedlich hohen Todesfälle sein?

Ja, das kann man nicht ganz vergleichen. Wenn man in den offiziellen Berichten vom Robert Koch-Institut nachliest, stellt man fest, dass die Übersterblichkeit in der Grippewelle 2017/2018 im Vergleich zu den Vorjahren geschätzt wurde. Da wurden nicht die Fallzahlen ausgewertet, sondern da wurde die Methode angewendet, mit der man heute die Übersterblichkeit aufgrund der Impfung nachzuweisen versucht. Das basiert also auf einer Schätzung und nicht auf den tatsächlichen Fallzahlen.

Es ist also schwierig, die Kennzahlen von COVID-19 mit denen der Grippe zu vergleichen, da sie anders ermittelt wurden. Sehe ich das richtig?

Im Detail ja. Aber ich will an dieser Stelle einmal die fallbezogene Sterblichkeit von der Ebolavirus-Infektion nennen. Da gibt es ja auch Zahlen in der wissenschaftlichen Literatur. Diese liegen immer um die 50 Prozent. Wir reden bei COVID und der Influenza jedoch über Werte zwischen 0,1 und 3 Prozent. Das ist einfach eine ganz andere Dimension. Mein Anliegen war, ein Gesamtbild zu zeichnen, in dem zwar Unterschiede bei einzelnen Parametern zu sehen sind, aber im Gesamtbild war die Gefährlichkeit von COVID für mich unabhängig von der absoluten Fallzahl nicht wirklich so überzeugend hoch, wie es anfangs und auch in den gesamten zweieinhalb Jahren immer wieder dargestellt wurde.

Sie haben in Ihrem Buch COVID-19 hinsichtlich des Schweregrads und der Ausbreitung mit anderen Atemwegserkrankungen verglichen. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Dass das im Großen und Ganzen ähnlich ist. Die Rate asymptomatischer Verläufe hatte ich schon geschildert. Diese sind durchaus vergleichbar. Milde Verläufe waren häufiger im Vergleich zur Influenza. Die Hospitalisierungsrate der COVID-Fälle war im ersten Jahr höher als danach. Sie ging dann zurück, wahrscheinlich auch aufgrund der Dominanz der Omikron-Variante. Bei saisonalen Coronaviren liegt die Hospitalisierungsrate ähnlich hoch. Da hat man nur weniger Fälle. Und bei Influenza-Infektionen in Deutschland lag die Hospitalisierungsrate zwischen 14 und 22 Prozent, wohingegen sie im Jahr 2020 für COVID bei 10,1 Prozent lag. Auch daraus kann man nicht ableiten, dass COVID so schwerwiegend war, dass die Krankheit weit über das hinausgeht, was wir jedes Jahr mit anderen viralen Atemwegsinfektionen erleben.

Wenn Sie Ihre Ergebnisse rekapitulieren, wo sehen Sie Unterschiede zwischen COVID-19 und anderen epidemischen Atemwegserkrankungen, und wo sehen Sie Ähnlichkeiten? Oder kann man das überhaupt unterscheiden?

Ich sehe auf jeden Fall einen Unterschied bei der Übertragbarkeit, wenn man sich die Zahlen aus 2022 mit über 30 Millionen Fällen anschaut. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals so viele Fälle einer bestimmten viralen Atemwegserkrankung in Deutschland gegeben hat. Da sehe ich durchaus einen Unterschied. Ich sehe auch einen Unterschied in der fallbezogenen Sterblichkeitsrate in den ersten zwei Pandemiejahren. Aber ansonsten ist das Bild für mich weitestgehend ähnlich. Ich will es mal so formulieren: Im Grunde haben wir diese ganzen viralen Atemwegsinfektionen und eine hohe Übertragbarkeit in den Wintermonaten ja immer. Wir erleben das auch dieses Jahr, und das ist an und für sich ja nichts Neues.

Im zweiten Teil Ihres Buches haben Sie sich mit der Frage beschäftigt, welche Kenngrößen zur Steuerung von Epidemien in Deutschland sinnvoll sind. Wie bewerten Sie die Kenngrößen „Fallzahlen“ und „Inzidenzwert“, die während der Coronakrise als Grundlage zum Greifen verschiedener Maßnahmen verwendet worden sind?

Diese beiden Kenngrößen sind nicht wirklich geeignet. Die Fallzahlen basieren ja auf der Falldefinition, und die Falldefinition basierte auf einem Labortest, unabhängig von Symptomen. Das war zwar ein gangbarer Weg, aber das Vorhandensein von Symptomen und die Höhe der Virenlast nicht zu berücksichtigen, ist nicht wirklich sinnvoll. Das hätte Sinn gemacht, wenn wir einen pandemischen Ausbruch der Ebolavirus-Infektion gehabt hätten, mit einer fallbezogenen Sterblichkeitsrate von 50 Prozent. Da mag das sinnvoll sein. Aber bei dem, was wir hier an viralen Atemwegsinfektionen erlebt haben, ist das aus meiner Sicht nicht sinnvoll. Der Inzidenzwert ist auch nicht wirklich geeignet, so wie er genutzt wurde. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat ja schon vorgeschlagen, diesen um den Inzidenzwert „Neuaufnahmen pro 100.000 Einwohner“ im Sinne schwerer Verläufe und um den Inzidenzwert „COVID-Patienten auf Intensivstation“, sprich kritische Verläufe, zu ergänzen. Das wäre differenzierter gewesen. Ein differenzierteres Bild wurde auch von einer Arbeitsgruppe vorgeschlagen, die noch das Alter der Patienten, den Impfstatus und die Grundkrankheiten ergänzt haben wollten. Das wäre für mich sinnvoller gewesen, weil man dann ein differenzierteres Bild für die Gesamtsituation in Deutschland bekommen hätte.

Hat man da mit Kanonen auf Spatzen geschossen und die Krankheit als viel zu gefährlich eingeschätzt?

Das mag sein. Es gab ja im März 2020 dieses Szenarien-Papier. Da wurde ein Worst Case bis Ende Mai 2020 angenommen, mit 1,2 Millionen Toten und 57 Millionen Infizierten allein in Deutschland. Das ist ja bei Weitem verfehlt worden. Zum Glück ist es weit verfehlt worden. Wenn natürlich die Entscheider zu der Zeit unter diesem Eindruck und dieser Erwartung gestanden haben, dann kann ich zumindest verstehen, warum man im Frühjahr 2020 ziemlich rigide vorgegangen ist. Man hat allerdings dann im Sommer 2020 versäumt, diese Szenarien mit der Realität abzugleichen und zu klären, welche Maßnahmen wirklich sinnvoll gewesen sind und welche nicht.

Man wusste ja letztendlich schon Mitte bis Ende 2020, dass die Krankheit bei Weitem nicht so gefährlich war wie ursprünglich angenommen. Das haben ja alle Zahlen, insbesondere die Auswertung der unterjährigen Krankenhausabrechnungsdaten, gezeigt. Die Gretchenfrage ist jetzt, warum die Politik zu diesem Zeitpunkt nicht gegengesteuert hat, in Deutschland nicht und in fast allen anderen Ländern nicht. Was ist denn der Grund dafür?

Ja, da habe ich leider keine Ahnung. Ich kann nur so sagen: Wenn ich Politiker gewesen wäre und von Epidemiologie und viralen Atemwegsinfektionen nicht wirklich Ahnung gehabt hätte und ich hätte dann ein Szenarien-Papier vorgelegt bekommen, in dem von 1,2 Millionen Toten innerhalb von zwei Monaten gesprochen wurde und in dem davon ausgegangen wurde, dass möglicherweise 80 Prozent der beatmungspflichtigen Patienten an der Krankenhaustür abgewiesen werden müssen, weil die Kapazität nicht reicht, dann hätte ich Verständnis dafür, dass man in der Situation rigide vorgeht. Was ich allerdings nicht verstehen kann, ist, warum man nicht im Sommer die Chance genutzt hat, alle Zahlen auf den Tisch zu legen und zu fragen: Ist es jetzt so gekommen? Und wenn nein, haben wir die Gefährlichkeit überschätzt? Und wenn wir sie überschätzt haben, was wäre dann ein sinnvoller Weg, damit umzugehen? Das ist leider nicht erfolgt.

Im Rahmen der Bewertung der Kenngröße „Fallzahlen“ schreiben Sie in Ihrem Buch: „Ist es wirklich ein sinnvolles Ziel des öffentlichen Gesundheitswesens, Millionen milder Verläufe von Atemwegsinfektion zu verhindern (wenn dies überhaupt möglich ist)? Ist es ein sinnvolles Ziel, Millionen von Fällen ohne Symptome zu verhindern? Ist es ein sinnvolles Ziel, Hunderttausende moderater Verläufe verhindern zu wollen, die keine Krankenhausbehandlung erfordern? Und ist es ein sinnvolles Ziel, Hunderttausende oder Millionen falsch-positiver Fälle verhindern zu wollen?“ Damit stellen Sie die gesamte Corona-Politik in Deutschland und in vielen anderen Ländern in Frage. Wie hätten die verantwortlichen Entscheidungsträger aus Ihrer Sicht die Krise steuern sollen?

Nun, dadurch, dass man sich nur darauf festgelegt hat, die Fallzahlen zu reduzieren, sind diese Fragen leider berechtigt. Hätte man den Inzidenzwert von schweren Verläufen hinzugenommen, dann hätte man gezielter steuern können. Dann hätte das Ziel sein können, die Zahl schwerer Verläufe, sprich die Krankenhausbehandlungen zu reduzieren. Das wäre eine sinnvollere Größe gewesen, die ja auch vorgeschlagen, aber leider nicht berücksichtigt wurde. Man hätte darüber hinaus auch die Zahl der COVID-Intensivpatienten, sprich kritische Verläufe, betrachten können. Diese hätte man dann vielleicht gezielter reduzieren können. Man hätte den Personen, die einfach ein deutlich höheres Risiko für einen schweren oder für einen kritischen oder sogar einen tödlichen Verlauf haben, Maßnahmen anraten können. Aber war es sinnvoll, Millionen von COVID-19-Fällen mit milden Symptomen verhindern zu wollen? Das läuft alles mit hinein in die Gesamtgröße „Fallzahl“, und deswegen hätte ich mich für ein anderes Verfahren ausgesprochen, welches ja auch von Schrappe et al. vorgeschlagen wurde. Diese Vorgehensweise hätte die tatsächliche Krankheitslast besser berücksichtigt, unabhängig von einer Fallzahl, die mit einem Labortest festgestellt wurde.

Wie sieht dieses Verfahren aus, das Schrappe et al. vorgeschlagen haben?

Nach diesem Verfahren hätte man die Hospitalisierungsrate und die Todesrate hinzugenommen, stratifiziert nach Alter, Impfstatus und Grundkrankheiten. Dann hätte man viel besser gesehen, wer gefährdet ist. Es macht nun einmal einen Unterschied, ob tatsächlich junge Leute ohne Vorerkrankungen durch einen schweren Verlauf gefährdet sind. Dann darf und muss man auch anders agieren, als wenn es vorwiegend ältere Menschen sind, die ungeimpft sind, an mehreren Grundkrankheiten leiden und somit ein nachweislich höheres Risiko für einen schweren Verlauf haben. Auf diese Weise hätte man viel gezielter intervenieren können. Ich glaube, das wäre der sinnvollere Weg gewesen, statt die Gesamtbevölkerung einheitlich zu behandeln.

Ein gezielter Schutz der Risikogruppen letztendlich.

Die Fallzahl schließt alle ein, vom Neugeborenen bis zum Greis. Aber eine andere Falldefinition mit Berücksichtigung von Symptomen, wie es bislang immer bei der Influenza-Infektion der Fall war, hätte nur tatsächlich Erkrankte eingeschlossen. Und das macht einen Unterschied.

Das ist jetzt eine hypothetische Frage, aber hätte man erstens mit einem solchen Vorgehen mehr Menschen schützen können, die wirklich gefährdet waren, und zweitens die Kosten der Maßnahmen deutlich reduzieren können?

Die rigorosen Maßnahmen der Politik haben alle Menschen eingeschlossen und nicht differenziert, ob eine bestimmte Personengruppe stärker für einen schweren Verlauf gefährdet ist. Wahrscheinlich wäre es kein epidemiologischer Vorteil gewesen, wenn man eine ausgewählte, besonders gefährdete Personengruppe mit den gleichen Maßnahmen geschützt hätte, während die anderen Menschen im Grunde frei hätten leben können. Für mich macht es aber in der Hinsicht einen Unterschied, dass einige der Maßnahmen recht rigoros in die Grundrechte eingegriffen haben, auch für die Personen, die eigentlich kein erhöhtes Risiko hatten. Und aus meiner Sicht haben die verantwortlichen Entscheidungsträger, wie Sie es in der Frage formuliert haben, ein wichtiges Versäumnis auf ihrer Liste. Denn sie haben die Maßnahmen nicht permanent auf ihren tatsächlichen gesundheitlichen Nutzen überprüft. Das ist nicht erfolgt, und das hätte man, glaube ich, tun sollen.

Für wie groß halten Sie derzeit die Gefahr, dass beim nächsten neuartigen Erreger von Atemwegserkrankungen, der sich weltweit verbreitet, die gleichen Maßnahmen wie in der Coronakrise angeordnet werden?

Nun, das ist jetzt meine persönliche Einschätzung: Ich halte es für denkbar bis eher wahrscheinlich, dass man nochmals in den gleichen Topf der Maßnahmen greift. Ich habe momentan, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht den Eindruck, dass die Entscheider das eigene Handeln im Rückblick kritisch reflektieren. Es gibt zwar immer kleinere Themen, wo man sagt „Na ja, mit den Schulschließungen, das war wahrscheinlich nicht so sinnvoll“, aber das große Ganze, da hat man doch eine Scheu, sich noch einmal rückblickend sachlich damit auseinanderzusetzen. Und da diese Aufarbeitung fehlt, halte ich die Gefahr, dass es noch einmal so kommt, für durchaus gegeben.

Die Frage ist, ob die Menschen das noch einmal in dieser Größenordnung mit sich machen lassen. Man sieht ja beispielsweise, dass die Impfbereitschaft trotz Empfehlung sehr stark zurückgegangen ist. Die Angst vor der Krankheit ist auch zurückgegangen.

Die Angst mag zurückgegangen sein, weil das Thema auch medial nicht mehr so präsent ist. Die Angst mag auch deshalb zurückgegangen sein, weil viele zumindest eine Grundimmunisierung haben und eine natürliche Immunität dazu. Es gibt ja durchaus einen hohen Anteil von Geimpften, die inzwischen erkrankt sind. Das heißt, sie verfügen über eine Kreuzimmunität. Nach allem, was man weiß, ist das der beste Schutz, den man haben kann. Dann stellt sich tatsächlich die Frage, ob es für die Gesamtheit der Bevölkerung noch sinnvoll ist, sich immer weiter impfen zu lassen. Zumal ja auch immer mehr Fragen über die Sicherheit dieser Impfstoffe in der wissenschaftlichen Debatte auftauchen. Ich glaube, das spielt auch eine Rolle.

Was motiviert Sie letztendlich, sich für eine Aufarbeitung der Coronakrise einzusetzen?

Meine Hauptmotivation ist, mir ein eigenes Bild zu verschaffen. Ich bin einfach skeptisch geworden bei dem, was ich hier und da gelesen und gehört habe. Ich wollte mir ein eigenes Bild von den Daten verschaffen, soweit ich sie denn auswerten kann. Und da lerne ich viel. Da schaffe ich mir mein eigenes Bild der Situation. Denn wenn ich, wie für mein Buch „CoroFluenza“, die offiziellen Daten sowie Ergebnisse aus Studien und medizinischen Datenbanken heranziehe, dann ergibt es ein weitgehend vollständiges Bild zu einer Fragestellung. Das ist nicht mehr so ohne Weiteres umzukippen. Dies war meine Hauptmotivation. Ich möchte mir ein eigenes Bild zu den verschiedenen Fragen machen, sei es der Nutzen von 2G, sei es die Impfpflicht oder die Maskenpflicht und jetzt hinsichtlich der Kenngrößen. Diese Beiträge möchte ich im Grunde zur Diskussion stellen und bin gespannt, was an Reaktionen kommt, ob ich etwas Wichtiges übersehen habe oder ob man mir im Großen und Ganzen zustimmt. Ich bin sehr dankbar, dass der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene die Bücher alle gelesen und als durchaus wichtige Beiträge angesehen hat, um noch einmal zurückzublicken. Und ich hoffe, dass es noch mehr Kollegen in der Fachwelt und Interessierte in der Bevölkerung gibt, die sich in dieser Hinsicht ein Bild verschaffen wollen. Da könnten meine Ausarbeitungen hoffentlich ein interessanter Gedankenanstoß sein.

Nur zur Vollständigkeit: Sie haben sich in anderen Veröffentlichungen mit 2G, Impfpflicht und Maskenpflicht beschäftigt. Dort haben Sie sich, wie in Ihrem aktuellen Buch, auch einen Überblick über die Studienlage verschafft.

Genau. Ich habe die Studien eingeordnet, und ich habe die Methode der Studien bewertet, ob sie beispielsweise lediglich eine Korrelation beschreiben oder ob man daraus auch eine Kausalität ableiten kann. Das sind ja für die Bewertung eines möglichen Nutzens einer Maßnahme ganz entscheidende Fragen. Wenn man an evidenzbasierte Medizin glaubt, dann kommt man um diese Fragen nicht herum. Alles andere wird dem nicht mehr gerecht. Das ist dann eher ein Glaube, aber kein Wissen.

Zum Interviewpartner: Professor Günter Kampf ist Mediziner, hat in der Chirurgie, der Inneren Medizin sowie der Klinischen Pharmakologie gearbeitet, hat sich zum Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin weitergebildet und war lange Jahre für ein Unternehmen der Hygienebranche tätig, zuletzt als wissenschaftlicher Direktor in der zum Unternehmen gehörenden Forschungseinrichtung. Seit 2016 ist er selbstständig als Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin sowie als Fachbuchautor tätig. Hinsichtlich der Publikationen in Fachzeitschriften hat er zunächst Fachbeiträge zu nosokomialen Infektionen verfasst, also zur Übertragung von Erregern, die Patienten im Zusammenhang mit einer medizinischen Maßnahme wie beispielsweise in einem Krankenhaus erwerben. Später war sein Schwerpunkt die Händehygiene, die Flächendesinfektion sowie Resistenzen gegenüber Wirkstoffen aus Desinfektionsmitteln. Seine aktuelle Veröffentlichung „CoroFluenza“ ist unter anderem hier erhältlich. Weitere Veröffentlichungen finden sich auf seiner Webseite. Günter Kampf und Karsten Montag haben im Zeitraum der Coronakrise gemeinsam drei Beiträge in internationalen medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht.

Titelbild: creativeneko/shutterstock.com

Günter Kampf: CoroFluenza – Pandemische Atemwegsinfektionen im Vergleich, Books on Demand, 2023, 146 Seiten, Paperback, 16,00 Euro.