Die Torheit der Regierenden

Die Torheit der Regierenden

Die Torheit der Regierenden

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Am 28. Februar wurde in den Nachrichten von NDR Info gemeldet, dass Wolfgang Ischinger, der frühere Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, sich dafür aussprach, über den Vorschlag von Frankreichs Präsident Emanuel Macron zu diskutieren. Dieser hatte auf Nachfrage gesagt, er wolle nicht ausschließen, dass die NATO-Staaten mit Bodentruppen die Ukraine gegen die russische Armee unterstützen werden. In Klartext übersetzt heißt die Forderung von Wolfgang Ischinger: Wir sollten darüber diskutieren, mit dem Einsatz von Bodentruppen der NATO in der Ukraine den dritten Weltkrieg anzufangen. Ischinger würde diese Deutung natürlich bestreiten. Für unseren Autor Udo Brandes waren diese und andere Äußerungen von Politikern und Journalisten zum Ukrainekrieg Anlass, sich erneut mit einem historischen Bestseller aus den Achtzigerjahren zu beschäftigen, den man auch heute noch kaufen kann: das Buch „Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam“ von der bereits verstorbenen US-amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman.

Barbara Tuchmans Ausgangsthese ist, dass in der Politik unvernünftiges, den eigenen Interessen widersprechendes Verhalten häufiger vorkommt als in sonstigen Lebensbereichen:

Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft. In der Regierungskunst, so scheint es, bleiben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Weisheit, die man definieren könnte als den Gebrauch der Urteilskraft auf der Grundlage von Erfahrung, gesundem Menschenverstand und verfügbarer Information, kommt in dieser Sphäre weniger zur Geltung und ihre Wirkung wird häufiger vereitelt, als es wünschenswert wäre. Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse widersprechen? Warum bleiben Einsicht und Verstand so oft wirkungslos?“ (S. 11)

Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Was ist mit den Begriffen „Eigeninteresse“ und „Torheit“ (sie spricht auch von „Starrsinn“) gemeint?

Dieses Buch beschäftigt sich mit einer bestimmten Spielart von Missregierung, nämlich einem politischen Handeln, dass dem Eigeninteresse des jeweiligen Staates und seiner Bürger zuwiderläuft.“ (S. 12-13)

Tuchman ist meines Erachtens an dieser Stelle ein wenig ungenau, denn die Interessen der Bürger eines Staates müssen nicht identisch sein mit denen der Regierenden. Das muss man ja in Deutschland niemandem mehr näher erklären. Auch „Regierende“ und „Staat“ sind Begriffe, die man nicht gleichsetzen kann. Ein Staat ist letztlich eine Herrschaftsordnung, die regelt, wer wie regiert und Macht ausübt (zum Beispiel in Form einer Erbmonarchie oder demokratisch gewählter Regierungen). In Bezug auf das politische Handeln gibt es also drei unterschiedliche Arten von Interessen, die man in diesem Zusammenhang unterscheiden kann:

  • Das Interesse der Regierenden (das wäre in Deutschland aktuell die Ampel-Koalition).
  • Das Interesse des Staates bzw. das Interesse, das die darin agierenden Funktionseliten am Erhalt der gesamten Herrschaftsordnung haben. Das sind keinesfalls nur Akteure im unmittelbar politischen Feld, es können zum Beispiel auch Richter, Staatsanwälte, Wissenschaftler usw. sein. Und dieses Interesse am Erhalt einer bestimmten staatlichen Ordnung stimmt keineswegs notwendigerweise mit denen der Bevölkerung überein. Der Untergang der DDR ist ein Beispiel dafür. Aber auch in Demokratien ist es natürlich möglich, dass die herrschenden Eliten und die Funktionseliten andere Interessen verfolgen als die Mehrheit der Bürger. Ein noch vergleichsweise harmloses, aber sehr anschauliches Beispiel dafür ist das Gendern, das jedem Bürger in vielen Medien aber auch Unternehmen und Verwaltungen zugemutet wird, obwohl Umfragen immer wieder belegen, dass zwischen 70 und 80 Prozent der Bevölkerung das Genderdeutsch ablehnen.
  • Das Interesse der Bevölkerung (= Staatsbürger), das zum einen nie einheitlich ist und wie gesagt mit dem Interesse der Regierenden identisch sein kann, aber nicht sein muss, und oft genug nicht identisch ist. Der größte Interessengegensatz, den es in politischen Fragen geben kann, ist sicherlich der in Bezug auf Krieg und Frieden. Denn im Regelfall sind es nicht die Eliten, die an der Front ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren. Trotzdem ist es immer wieder seltsam zu sehen, wie leichtfertig Regierende Krieg als Mittel der Politik einsetzen. Denn schließlich kann Krieg grundsätzlich, aber vor allem im Atomzeitalter, in einer extremen Katastrophe enden, der sich auch die Eliten nicht entziehen können.

Trotz dieser begrifflichen Ungenauigkeiten bietet das Buch von Tuchman eine Fülle von Beispielen für alle drei genannten Arten von Interessen, in denen Regierungen töricht und unvernünftig handeln. Und sie analysiert jeweils, was die Gründe dafür waren.

Wann kann man von politischer Torheit sprechen?

Nun zum Begriff der „Torheit“. Von einer politischen Torheit spricht Tuchman dann, wenn drei Kriterien erfüllt sind: Erstens müsse diese Politik von Zeitgenossen und nicht erst im Nachhinein als kontraproduktiv erkannt worden sein. Das zweite Kriterium: Es müsse seinerzeit für die Regierenden praktikable Handlungsalternativen gegeben haben. Und drittens müsse die törichte Politik nicht nur von einem einzelnen Herrscher betrieben worden sein, sondern von einer ganzen Gruppe. Man könnte auch sagen: Von den Mitgliedern der Regierung und den sozialen Gruppen, die Einfluss auf die Regierung haben. Das wären gegenwärtig zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg mediale Eliten, die wissenschaftliche Expertenindustrie, Lobbyisten der Rüstungsindustrie, Parlamentarier usw.

Man könnte ja annehmen, dass demokratische Regierungssysteme weniger anfällig für Torheiten der Regierung sind, weil es in Form der Opposition und Rechten wie dem der Meinungsfreiheit korrigierende Faktoren gibt. Nach Tuchman zeigt die Geschichte aber, dass dem nicht so ist:

„Das Auftreten der Torheit ist nicht an eine bestimmte Epoche oder einen bestimmten Ort gebunden; sie ist zeitlos und universell, wenngleich die Form, die sie annimmt, von den Lebensgewohnheiten und Anschauungen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes determiniert wird. Sie beschränkt sich nicht auf bestimmte Regierungsformen: Monarchie, Oligarchie und Demokratie bringen sie gleichermaßen hervor. Auch ist sie keine Eigentümlichkeit bestimmter Nationen oder Klassen. Wie sich in der neueren Geschichte deutlich gezeigt hat, übt die Arbeiterklasse, vertreten durch die kommunistischen Regierungen, ihre Macht nicht rationaler und nicht wirkungsvoller aus als das Bürgertum.“ (S. 14)

Wenn uns aber unvernünftige, törichte und starrsinnige einzelne Menschen an jeder Ecke begegnen – kann man dann im Bereich des politischen Handelns etwas anderes erwarten? Wohl nur hoffen, und das ist die Krux, denn:

„Das Problem besteht darin, dass die Torheit dort, wo sie an die Regierung gelangt, sehr viel weitereichende Folgen für eine größere Zahl von Menschen hat, als die Torheiten eines Einzelnen je haben können, und deshalb sind Regierungen mehr noch als der Einzelne verpflichtet, vernunftgemäß zu handeln.“ (S. 15)

Was sind Quellen für die Torheiten einer Regierung?

Wie kommt es zu den Torheiten einer Regierung? Warum zum Beispiel kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein großer Teil der Politischen Klasse im Moment regelrecht kriegsbesoffen ist und allen Ernstes über den Einsatz von NATO-Bodentruppen schwadroniert? Barbara Tuchman beantwortet dies wie folgt:

„Engstirnigkeit, die Quelle der Selbsttäuschung, ist ein Faktor, der eine überaus wichtige Rolle in der Politik spielt. Sie besteht darin, eine Situation nach vorgefassten, festen Anschauungen einzuschätzen und gegenteilige Anzeichen zu missachten oder zu verleugnen. Daraus erwächst ein ‚Wunschhandeln‘, das sich von Tatsachen nicht beeindrucken lässt.“ (S. 15)

Mir fiel dazu spontan die NATO-Osterweiterung ein. Bis heute wird von den meisten Politikern geleugnet, dass die russische Regierung darin eine existentielle Bedrohung sieht, obwohl der Vorgänger von Putin, Boris Jelzin, der seinerzeit von den USA als Präsidentschaftskandidat unterstützt worden ist, ebenfalls schon davor gewarnt hatte:

„Wenn ich zustimmen würde, dass die Grenzen der NATO bis an die Grenzen Russlands ausgeweitet werden, wäre das ein Verrat am russischen Volk.“
(Details zur Quelle siehe hier)

Aber solche Warnungen gab es auch von US-amerikanischer Seite, zum Beispiel von dem prominenten US-Diplomaten und Historiker George F. Kennan. Dieser hochgebildete Mann sprach neben seiner Muttersprache Englisch auch Deutsch und Russisch und war von 1933 bis 1937 als Diplomat in der US-Botschaft in Moskau. Er schrieb am 5. Februar 1997 in der New York Times Folgendes über die von der Clinton-Administration geplante NATO-Osterweiterung:

„… Aber es geht hier um etwas von höchster Bedeutung. Und vielleicht ist es noch nicht zu spät, eine Ansicht zu vertreten, die, wie ich glaube, nicht nur die meine ist, sondern auch von einer Reihe anderer geteilt wird, die über umfangreiche und in den meisten Fällen neuere Erfahrungen in russischen Angelegenheiten verfügen. Die Ansicht ist, unverblümt gesagt, dass die Erweiterung der NATO der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit wäre. Es ist zu erwarten, dass ein solcher Beschluss die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken würde, die uns ganz und gar nicht zusagt.“
(Quelle: George F. Kennan am 5. Februar 1997 in der New York Times, siehe hier Übersetzung mit deepl.com)

Mit anderen Worten: Alle Regierungen und Politiker, die die NATO-Osterweiterung vorangetrieben haben, hätten wissen können, dass damit der Frieden gefährdet wird, weil dies aus russischer Perspektive als eine existentielle Bedrohung wahrgenommen wird. Und für die Politik gibt es ein „Naturgesetz“: Nicht die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit, sondern die Wahrnehmung derselben.

Torheit durch kulturelle Ignoranz

Ein weiteres schönes Beispiel für die Torheit einer Regierung lieferten die Japaner im Zweiten Weltkrieg. Die Regierung wollte ein Imperium errichten, in dessen Mittelpunkt die Unterwerfung Chinas stand. Durch den Krieg in Europa sahen sie ihre Chance dafür, ein japanisches Imperium aufzubauen. Nach dem Kriegsbeginn in Europa waren nun die USA das eigentliche Hindernis dafür.

Die Torheit der japanischen Regierung: Sie glaubte, dass die amerikanische Regierung jederzeit dazu in der Lage sei, die Öffentlichkeit für einen Krieg zu mobilisieren. Tatsächlich bestand zu dieser Zeit in den USA aber mindestens bei der Hälfte der Bevölkerung eine isolationistische Stimmung. Das heißt konkret: Die Mehrheit der Bevölkerung wollte sich nicht in internationale Konflikte einmischen und irgendwo in der Welt Kriege führen. Die Japaner aber glaubten, sie könnten die Kriegsbereitschaft der USA untergraben, wenn sie erfolgreich Pearl Harbour angriffen:

„Japan scheint nie erwogen zu haben, dass ein Angriff auf Pearl Harbor die Moral der Amerikaner nicht untergraben, sondern die Nation in Kampfbereitschaft einigen würde. (…) Die Japaner beurteilten Amerika nach ihren eigenen Maßstäben (Hervorhebung von UB) und glaubten, die amerikanische Regierung sei in der Lage, die Nation ganz nach ihrem Willen jederzeit in einen Krieg zu führen, so wie es die japanische Regierung tun konnte und auch tat. Ob aus Unwissenheit, infolge einer Fehlkalkulation oder aus Leichtfertigkeit – Japan versetzte seinem Gegner jedenfalls den einen Schlag, der notwendig war, um ihn zu einem zielbewussten, entschlossenen Krieg zu bewegen.“ (S. 47)

Macht korrumpiert nicht nur, sie macht auch dumm

Tuchman sieht den Grund für diese Torheit in einer kulturellen Ignoranz, die sie übrigens auch bei den Amerikanern am Werk sah, aber für Japan hatte sie fatale Konsequenzen. Einen weiteren Grund für Torheiten einer Regierung sieht Tuchman in der Macht, über die eine Regierung verfügt:

„Von Lord Acton stammt der bekannte Ausspruch ‚Macht korrumpiert‘. Weniger bewusst ist uns, dass die Macht häufig auch dumm macht und Torheit erzeugt; dass die Macht, Befehle zu erteilen, häufig dazu führt, das Denken einzustellen; dass die Verantwortlichkeit der Macht in dem Maße schwindet, wie ihr Handlungsspielraum wächst.“ (S. 47)

Wer sich für das Thema „Torheit“ in der Politik näher interessiert, dem sei dieses Buch empfohlen. Tuchman untersucht darin ausführlich das Verhalten der Renaissance-Päpste, das zum Abfall der Protestanten führte, wie und warum Großbritannien die amerikanischen Kolonien verlor, und den Vietnamkrieg der USA. Zum Schluss noch zwei schöne Zitate aus dem Buch zum Thema Torheit und dann zur Regierungskunst:

Politische Torheit

„Im Bestehen auf dem Irrtum liegt das Problem. Unbeirrt gehen die Praktiker der Regierung den falschen Weg zu Ende, als stünden sie im Bann eines Merlin, dessen Zauberkraft ihre Schritte lenkt.“ (S. 480)

Regierungskunst

„Ein Fürst, so sagt Machiavelli, sollte stets ein großer Fragender sein; der Wahrheit über die Dinge, nach denen er sich erkundigt hat, sollte er geduldig lauschen und sollte böse werden, wenn er feststellt, dass jemand Skrupel hat, ihm die Wahrheit zu sagen. Was die Regierungskunst benötigt, sind große Fragende.“ (S.481)

Barbara Tuchman: Die Torheit der Regierenden, Von Troja bis Vietnam, Fischer Taschenbuch Verlag, 7. Auflage 2022, 551 Seiten, 25,- Euro.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!