Zur Interpretation der Gewalt- und Kriminalitätsstatistik

Ein Artikel von Peter Schran

Stellungnahme/Kommentar eines langjährigen ARD-ZDF-Filmemachers und Gewaltexperten zu der gegenwärtigen öffentlichen Interpretation der Gewalt- und Kriminalitätsstatistik in Deutschland. Von Peter Schran.

Nun sind alle politisch Verantwortlichen erstaunt bis irritiert. Hatte man doch das Thema Jugendgewalt in der politischen Agenda der letzten Jahre einfach so gut wie abgehakt. Mit dem heftigen Zuwachs der Gewaltbereitschaft bei Minderjährigen hatte offenbar niemand aus der Riege professioneller und medial zugelassener Gewaltbeurteiler wirklich gerechnet.

Als Ursache für das Phänomen werden nun wieder landauf landab dieselben Faktoren genannt wie all die Jahre. Vor allem frühe „Gewalterfahrungen“ und „Armut“, besonders im Elternhaus, rangieren ganz oben auf der stereotyp wiederholten Erklärliste. Soll heißen: Die gesellschaftlichen Grundstrukturen sind nicht schuld, aber „die Eltern“ in den Strukturen, weil v.a. diese alles Mögliche „falsch gemacht“ und es dadurch versäumt haben, ihren Kindern ein gewalt- und verzweiflungsfreies Leben und eine mit ausreichend bürgerlichem Reichtum gesegnete Lebenszukunft zu servieren.

Aus über 20 Jahren Erfahrung als Filmemacher für ARD und ZDF, nach Hunderten von intensiven Interviews mit Gewalttätern auf den  Straßen und in den Knästen der Republik weiß ich heute, dass die gängigen Gewaltanalysen, die uns seit Jahren von Politik und Medien serviert werden (und etliche meiner Filme würde ich da leider durchaus hinzurechnen) , viel zu kurz greifen. Sie blenden einen der entscheidenden Gründe für Gewalttätigkeit von Jugendlichen und inzwischen auch Kindern einfach aus: Die Demütigung, die sie – schon in der Schulzeit – erfahren durch das Sortiertwerden in „aufstiegsfähig“ bzw. „wirtschaftlich brauchbar“ oder „abstiegsverdammt“. Darauf folgt für die Selektionsverlierer in der Regel die anschließende Zurückweisung von Arbeitsmöglichkeiten jenseits von Drecksjobs u.a.m. Heißt: Ein hoher Prozentsatz Kinder und Jugendlicher wird hierzulande systematisch schon sehr früh im Leben Opfer des staatlich beaufsichtigten Konkurrenzprinzips, das angeblich für alle gut sein soll. Dies produziert fundamentale Verzweiflung bei den schulisch geschaffenen „Losern“, viel mehr zumeist als etwaiger Hader mit den Eltern – ganz besonders auch bei jungen männlichen Migranten.

Das wiederum hat insgesamt auch eine sexuelle Komponente. Denn interessante und gutaussehende Mädchen sind unter solchen Bedingungen kaum zu finden, allenfalls kurzfristig durch aufgeblasene Internet-Performance und durchsichtiges Herumposen, wie es z.B. geradezu vorbildhaft längere Zeit praktiziert wurde durch sogenannte „Gangsta-Rapper”. In der Realität brechen diese Konstruktionen irgendwann zusammen. Etliche Jugendliche merken das aber erst nach ein paar Jahren.

Die Isolation der Corona-Zeit hat zudem den Eintritt der Realitätsschocks zusätzlich verzögert. Die Reaktion in vielen Fällen: eine tiefe Verzweiflung, in der die Zukunft vollkommen verdüstert ist bzw. in der sie zu Ende scheint, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat. Mit anderen Worten: Nach Jahren der Internet-Illusionen und ihrer dort in aller „Freiheit“ konstruierten Ich-„Wahrheiten“ erfolgt jetzt – generationshistorisch – das Platzen der Blase konstruierter Scheinwelten. Kriminelle Wege werden wieder attraktiver.

Dass zugleich „die Zündschnur der Gewalt immer kürzer“ geworden ist (so ein konsternierter NRW-Innenminister Reul, CDU) und der Griff zum Messer aktuell immer schneller erfolgt, hat aber ganz sicher noch einen weiteren Grund, einen, der von Staat und Medien aktuell einfach außen vor gelassen wird:

Es ist die mit der allgemeinen politischen Kriegstreiberei gegen das angeblich allein „böse“  Russland und andere einhergehende, seit Jahrzehnten so nicht mehr gekannte grundsätzliche Teillegitimation der Gewalt, wenn und weil sie denn im Namen des „Guten“ und der „Verteidigung“ erfolgt. Heißt: Politik und Medien haben die Gewalt hierzulande grundsätzlich geadelt und aus der langjährigen moralischen Verachtungsecke der Pädagogik und der öffentlichen Meinung geholt. Das erst, diese offizielle Adelung und Propaganda der Gewalt im Namen des „Guten”, lässt die Dämme zur Bereitschaft persönlicher Gewaltausübung derzeit so richtig brechen – übrigens nicht nur bei Jugendlichen.

Meines Erachtens gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen täglicher Kriegspropaganda und der gegenwärtigen exorbitanten Zunahme der individuellen Gewalttaten. Anti-Gewalt-Projekte, in denen man bisher versuchte, die Legitimationskonstrukte, die sich jeder einzelne Gewalttäter vor und während der Ausübung seiner Gewalt zurechtlegt (z.B. „der andere hat ja angefangen“; „er hat mich so provozierend angeguckt“), regelrecht zu zertrümmern und grundsätzlich zu ächten, dürften mit dem Aufkommen der politisch gepushten „guten“ Gewalt zwecks Vernichtung des „Bösen“ in arge Schwierigkeiten geraten bei ihren Ansätzen zur Prävention. Zu erwarten, dass in dieser Lage die Fortsetzung bisheriger „Präventionsarbeit“ oder „mehr Sozialarbeit“ eine Lösung zur Minderung von individueller Gewaltbereitschaft sein könnten, ist geradezu absurd, ja regelrecht heuchlerisch.

Es braucht schon eine grundsätzliche und auch selbstkritische Aufarbeitung der Ursachen der gegenwärtigen geopolitischen Gewaltzunahme samt Kriegsbereitschaft, soll die individuelle Bereitschaft zur Gewaltanwendung nachhaltig eingedämmt werden. Realiter erleben wir genau Entgegengesetztes: die Einengung des Diskurskorridors, wie es ihn schon lange nicht mehr gegeben hat. Jede Talkshow zum Thema  zeugt davon. Auch das ist letztlich Gewalt, eine, die vorsätzlich die Vernebelung der Realität zum Ziel hat – indem sie sich als Aufklärungsinstitut bürgerlicher Anständigkeit inszeniert, jede Form fundamentaler Kritik aber weitgehend ausschließt.

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