Bekannt dürfte der Autor als Urheber vieler Ohrwürmer sein, ebenso als streitbarer Politiker, der insgesamt 27 Jahre im Bundestag saß – zunächst für die SPD, zuletzt für die Partei „Die Linke“. Als Roman-Autor war er mir bislang nicht begegnet. Umso überraschter war ich, als ich den ersten Band der Trilogie „Aufstieg und Niedertracht“ mit beeindruckenden 640 Seiten in die Hand gedrückt bekam, mit der Frage nach Rezension. Von Anette Sorg.
Also ließ ich mich auf Diether Dehms Roman und dessen autobiografische Skizzierungen ein. Er nahm mich mit auf eine hoch spannende Zeitreise ins Nachkriegsdeutschland, genauer nach Frankfurt am Main, wo der Autor aufgewachsen ist. Ähnlichkeiten der handelnden Personen mit Familienangehörigen waren auch dort nicht überraschend, wo diese Phantasienamen bekamen. Politische Persönlichkeiten und Gewerkschaftsführer tauchen dagegen mit Klarnamen auf.
Dehm verbindet eine Portion Liebesroman, eine Portion Zeitgeschichte und eine kräftige Portion Krimi, um damit einen kurzweiligen und gleichzeitig erhellenden Roman über die Gefühlswelt und insbesondere auch die Abgründe der wirtschaftlich und politisch Agierenden nach Kriegsende entstehen zu lassen.
Fast mag man es als eine Art „Sittengemälde“ der späten 1940er- und der 50er-Jahre der jungen Republik bezeichnen. Das Spannungsfeld zwischen Arm und Superreich vermag er an der Beziehung zwischen Helene, der Tochter aus unternehmerischem Hause, und dem talentierten KFZ-Mechaniker und Fußball-Star Otto aus dem Bornheimer Hinterhaus darzustellen, ziemlich detailreich sogar.
Die weiblichen Hauptfiguren seines Romans werden als starke und durchsetzungsfähige Persönlichkeiten dargestellt. Sie hätten das Etikett Feministin sicher verdient, und darum sogar – Überraschung! – auch der Autor.
Politisch interessierte Leser dürften sich Zug um Zug von Idealisierungen rund um wirtschaftswunderbare Gründungsmythen der Bundesrepublik lösen. Viele Nazis, die weiter Ämter bekleideten, hatten schon mehrere Geheimdienste durchlaufen, vor 1945 die Strippen gezogen, profitiert, erpresst und betrogen. Und nicht zuletzt war dann im Jahre 1957 der Mord an der noch jungen Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt, die dem Roman mit ihrem „Künstlernamen“ Rebecca seinen Buchtitel schenkt. Ihr Schicksal wurde zweimal nach dem Roman Erich Kubys (der selbst in Dehms Geschichte auftritt) fürs große Kino verfilmt – mit Nadja Tiller und Nina Hoss als „das Mädchen Rosemarie”.
Den Spekulationen um eine mittelbare oder unmittelbare Beteiligung hochrangiger Vertreter aus Politik und Wirtschaft und der Deutschen Bank an der Ermordung Nitribitts gibt auch Diether Dehm viel Raum und Richtung, mehr sogar als Erich Kuby und der Filmproduzent Bernd Eichinger.
Die Ereignisse rund um die Ermordung Rebeccas haben im Roman auch belastende Auswirkungen auf das junge Liebespaar Helene und Otto – und deren Sohn Rudi. Der viele Klatsch und Tratsch führt zur Ehekrise und der Sohn Rudi wird in ein Internat verfrachtet.
Rudis Sozialisation findet darüber hinaus bei den sozialdemokratischen „Falken“ und anderen linken Organisationen statt. Dies ist auch auf seine enge Beziehung zu seinem Vater Otto, einem Mann aus der Arbeiterklasse, zurückzuführen.
Die wichtige Rolle der Gewerkschaften wird mit der besonderen Bedeutung der Streiks in Frankfurt im November 1948 und der sich anschließenden Streiks in ganz Westdeutschland im Jahre 1949 beschrieben – auch deshalb, weil diese „Ereignisse“ Einfluss auf unser Grundgesetz und die darin verbrieften Streikrechte hatten.
Bei dieser Erzählung handelt es sich – so mein Eindruck – auch um eine Hommage an die Arbeiterklasse, an Gewerkschaften und an linke Parteien; obwohl sichtbar wird, dass Letztere wohl schon immer sehr viel Kraft für interne ideologische Kämpfe vergeudet haben, die besser beim Gegner des Klassenkampfes eingesetzt wäre.
Den Gewerkschaftsführer Rudi Maurer lässt der Autor während eines Streiks Folgendes sagen (S. 312): „… Das ist alles eine Suppe: Nazis und die Arbeitgeber, die wir ja Kapitalisten nennen, weil die Arbeitgeber ja gar keine Arbeit geben, sondern wir. Die allermeisten von denen haben Dreck am Stecken. Braunen Hundedreck meine ich.“
Auch ein Antikriegsbuch könnte man sein Buch nennen, wenn Diether Dehm beispielsweise auf S. 380 einen Gromball, der während des Krieges im illegalen Untergrund gewesen war, sprechen lässt: „… Und da wollen wir, weil wir alle die Nase voll haben von Krieg und Waffengedöns, weitermachen, so breit wie möglich, und niemanden vor den Kopf stoßen, weil der früher vielleicht mal falsch gelegen hat.“
Das kann als Appell an die derzeitigen Friedensbewegungen verstanden werden, um der Sache willen, um des Friedens willen über alte Feindschaften, alte ideologische Kämpfe hinwegzusehen und sich gemeinsam für den Frieden einzusetzen.
Ich freue mich auf Band 2 und 3 dieser Trilogie und bin überzeugt, dass ich diese mit ebenso viel Genuss lesen werde wie diesen ersten Band.
Titelbild: Diether Dehm via YouTube
Diether Dehm: Aufstieg und Niedertracht 1: Rebecca. Berlin 2025, Eulenspiegel-Verlag, gebundene Ausgabe, 640 Seiten, ISBN 978-3-360-02768-9, 28 Euro.