„Sind wir unfähig zum Frieden?“ – oder: Die fatale Aktualität eines 45 Jahre alten Essays

„Sind wir unfähig zum Frieden?“ – oder: Die fatale Aktualität eines 45 Jahre alten Essays

„Sind wir unfähig zum Frieden?“ – oder: Die fatale Aktualität eines 45 Jahre alten Essays

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Im Mai 1980 – der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte kurz zuvor erklärt, die aktuelle Situation erinnere stark an die Vorphase des Ersten Weltkriegs 1914 – publizierte der Arzt, Psychoanalytiker und spätere Mitbegründer der deutschen Sektion der „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ (IPPNW), Horst-Eberhard Richter (1923-2011), einen langen Essay, der nicht unwesentlich zur Entstehung der Friedensbewegung der Achtzigerjahre beitrug. Wir veröffentlichen hier unkommentiert Auszüge, denn dieser Text bedarf angesichts der heute aktuellen Weltlage keiner weiteren Erläuterung. Ausgewählt von Leo Ensel.

In der internationalen Presse wurde unlängst offen diskutiert, dass die aktuelle Weltlage stark an die Vorphase des Ersten Weltkrieges erinnere. Wir alle haben in der ersten Hälfte dieses Jahres aus den täglichen Nachrichten ein bedenkliches Missverhältnis ablesen können zwischen der Bedrohlichkeit der Weltlage einerseits und einer Politik der Großmächte andererseits, die das Risiko einer Katastrophe laufend erhöht statt vermindert hat. Wir beobachten eine eskalierende Strategie der Konfrontation, obwohl aus weltpolitischer Verantwortung genau umgekehrt mit allen Energien um die Wiederherstellung von Kooperation und Vertrauen gerungen werden müsste.

Sprachlosigkeit und stumpfe Unbeweglichkeit

Wie reagieren wir als Bürger nun auf diese Situation? Nahezu die Hälfte unserer Bevölkerung glaubt laut Umfragen an die Möglichkeit eines Krieges. Die Leute sind betroffen, aber sie rühren sich kaum. Was hat das eigentlich zu bedeuten? Wie können Menschen in Passivität und zumindest äußerlicher Gelassenheit auf demoskopischen Fragebögen bejahen, dass ein großer Krieg bevorstehen könnte? Warum reagieren wir so, als handele es sich hier um ein unbeeinflussbares Naturereignis, obwohl in dieser Angelegenheit doch alles, was geschieht, in der Macht menschlicher Berechnung und Entscheidung liegt?

Wir Bürger fühlen uns in einen seltsam unmündigen Zustand versetzt, der uns zugleich die Sprache verschlägt. Auch wenn wir gewiss keine Aussicht haben, die weltpolitischen Prozesse direkt zu beeinflussen, so ist doch der Zustand unserer Sprachlosigkeit und unserer stumpfen Unbeweglichkeit absolut unangemessen. Wir widersprechen unserem eigenen Selbstbild einer mündigen demokratischen Gesellschaft, wenn wir gegen hunderterlei harmlosere Mißstände mit imposanten Bürgerinitiativen aufbegehren, dagegen dem Anschein nach willig und unkritisch hinnehmen, was unsere Existenz mehr als alles sonst bedroht.

Einer der Gründe für die weitverbreitete resignative Passivität dürfte darin liegen, dass die Atomkriegsgefahr für das menschliche Fassungsvermögen kaum noch zu erfassen ist. Das Vernichtungspotential, das die Atommächte bereits jetzt angesammelt haben, ist zu ungeheuerlich, als dass man es noch auszuhalten wagt, sich seine Ausmaße vor Augen zu halten. Es gibt Wahrheiten, die so entsetzlich sind, dass man alle Anstrengungen daran wendet, sie zu verdrängen bzw. zu verharmlosen.

Je weniger man selbst das System beeinflussen kann, in das man eingeordnet und von dem das eigene Tun in erheblichem Maße bestimmt wird, um so mehr möchte man darauf bauen, dass das gute Gewissen in dem System selbst steckt. Man versucht alles mögliche, um diese Überzeugung gegen gegenteilige Erfahrungen zu verteidigen, und konsumiert deshalb dankbar eine entsprechende Propaganda des Systems. Man belügt sich, aber man kann damit besser schlafen.

Ein unheilvoller Verschiebungsmechanismus

Seit der Zeit der Ostermärsche ist die Atomkriegsgefahr allmählich von anderen Besorgnissen überwuchert oder gar verdrängt worden. Da handelt es sich zwar durchweg um legitime Befürchtungen. Wer wollte leugnen, dass man den Schutzeinrichtungen der Kernkraftwerke zu misstrauen hat. Und auch viele andere moderne Befürchtungen, die vor allem der Gesundheitsvorsorge gelten, haben eine reale Grundlage. Ich denke an die massenhaft aufgeloderten Ängste vor Tabak und künstlich Gedünktem, vor Gewichtszunahme, Bewegungsmangel, vor schlechter Luft und verunreinigtem Wasser. Niemand wird den Sinn der Initiativen bestreiten, die sich zur Abwendung solcher und anderer Gefahren aufgetan haben. Aber wenn das Gesamt dieser Initiativen am Ende zu einer Erschöpfung der Widerstandskräfte führt, von denen ein großer Teil sich gegen die wichtigste aller Bedrohungen wenden müsste, dann liegt in der Tat ein unheilvoller Verschiebungsmechanismus vor. Man reagiert sich in der Bekämpfung von vergleichsweise greifbaren Schädlichkeiten ab, die unbewusst das bei weitem gefährlichste, aber deshalb unerträglich gewordene Angstobjekt ersetzen. Man verstellt sich den Blick auf den wichtigsten Feind der Menschheit durch vergleichsweise kleinere Feinde, die weniger Grauen erregen.

Die Nuklearkriegsgefahr mit atomarer Aufrüstung bannen?

Tatsächlich haben die Verdrängung und die Verschiebung der Atomkriegsangst bewirkt, dass die konkurrierenden Weltmächte ihre expansionistische Machtpolitik unbeirrt fortsetzen und weiter denn je davon entfernt sind, ihr Waffenpotential von einer übergeordneten internationalen Organisation wirksam zur Garantie des Friedens kontrollieren zu lassen. Es wird nicht nur weiter, sondern noch hektischer gerüstet. Und die Massen lassen sich das fatale, trügerische Argument gefallen, die Produktion immer gigantischerer Vernichtungswaffen sei so lange dem Frieden dienlich, als diese tödlichen Potentiale sich hüben und drüben im Gleichgewicht hielten und quasi wechselseitig neutralisierten. Nur wenige protestieren gegen den grotesken Widerspruch, der darin liegt, dass die Ansammlung von immer mehr Zerstörungsenergie angeblich geeignet sein soll, ein friedliches Zusammenleben zu erleichtern, während dadurch in Wirklichkeit doch ständig mehr Misstrauen und Spannung produziert wird. Die Absurdität liegt in der Illusion, die Nuklearkriegsgefahr mit Hilfe einer Strategie bannen zu wollen, deren fundierende Motivation in sich bereits die Steigerung dieser Gefahr fixiert. Wenn man sich wirklich miteinander verständigen und gemeinsam die vielen offenen Probleme der Menschheit lösen will, dann ist doch nichts widersinniger als zu argumentieren, die Erhöhung des beiderseitigen Abschreckungspotentials erhalte oder fördere gar die Bedingungen für eine friedliche Kooperation.

Die definitive Aufspaltung in Gut und Böse

Man redet sich ein, die Nuklearrüstung innerhalb des eigenen Bündnissystems sei harmlos und gewissermaßen gut gemeint. Sie solle ja nur schützen und abschrecken. Schlimm seien nur die Atomwaffen der Gegenseite. Abgründiges Misstrauen fordert dazu auf, dass man die von teuflischer Bösartigkeit erfüllte andere Seite jederzeit in Schach halten muss. Die eigene Rüstung dient dann wie selbstverständlich dem Guten in der Welt, weil man ja eben selbst lediglich das Gute wolle. Diese wechselseitige Sündenbock- bzw. Verfolgungstheorie verfestigt und eskaliert automatisch ein Rivalitätsverhältnis, das für beide schließlich in eine selbstmörderische Sackgasse zu führen droht. Denn ist erst einmal die definitive Aufspaltung in Gut und Böse vollzogen, kann man ja einander nicht mehr die Hand reichen. Denn wie sollte das Gute ernstlich mit dem Bösen paktieren? Da ist es logisch, dass man nicht mehr redet und verhandelt. Die Guten fühlen sich gezwungen, über die Bösen zu triumphieren. Das Böse muss bestraft und unterworfen werden.

Was geschieht indessen mit denen, die sich darum bemühen, die Projektion des absoluten Feindbilds abzubauen? Die z.B. in unserem Land nur die Vermutung laut werden lassen, dass die Sowjets mit ihrer Rüstung nicht mehr aggressive und nicht weniger defensive Absichten als die Amerikaner verfolgen und dass man jedenfalls die Angst der Russen als Motiv sehr ernst zu nehmen habe? Hat man nicht im letzten Jahr Herbert Wehner prompt – wie schon so oft – der Moskauhörigkeit verdächtigt, als er solches äußerte? Und musste nicht General Bastian letztlich aus analogem Grund seinen Dienst in der Bundeswehr quittieren?

Mit der Haltung des radikalen Moralismus paart sich eine kurzsichtige Unversöhnlichkeit, die gerade das Böse zu fixieren droht, dessen Überwindung erklärtes Ziel eben dieses Moralismus ist. Der hartnäckige Drang, Unrecht um jeden Preis zu bestrafen, kann sich selbst in Unmoral verwandeln, wenn damit auf der Gegenseite die Chance, sich unter Wahrung des Gesichts zurückzunehmen, verbaut wird. In der Inszenierung hier Polizist, dort Missetäter kann es schwerlich zu einem guten Ende, eher zu einer baldigen Wiederholung einer bedrohlichen Konfrontationslage kommen.

Die Notwendigkeit einer alternativen Politik

Die expansionistische Rüstungspolitik wird solange automatisch weiter eskalieren, solange sich nicht die Menschen hier wie dort massenweise aufraffen, um sich diesem Wahnsinn entgegenzustemmen. Erkennbar wird die Notwendigkeit einer alternativen Politik mit gewandelten Leitvorstellungen und gegenüber den bisherigen Ritualen wesentlich veränderten Kommunikationsformen.

Es ist, so meine ich, an der Zeit, dass der Widerstand gegen Entmenschlichung und schließlich gegen eine Zerstörung unserer Welt wieder mit allem möglichen Nachdruck in die Gesellschaft hinausgetragen wird.

(Horst-Eberhard Richters Essay wurde veröffentlicht in: Psychosozial. Zeitschrift für Analyse, Prävention und Therapie psychosozialer Konflikte und Krankheiten. 4/1980, 3. Jg., Reinbek. Die Zwischenüberschriften der vorliegenden Auszüge stammen von Leo Ensel.)

Anmerkung I

Im Mai 1982 verfasste Horst-Eberhard Richter die folgende „Frankfurter Erklärung“, die von der deutschen Sektion der IPPNW verabschiedet wurde:

Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Ich lehne deshalb als Arzt jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich daran nicht beteiligen. Das ändert nichts an meiner Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern.

Da ein Krieg in Europa nach überwiegender Experten-Meinung unter Benutzung der modernen Massenvernichtungswaffen geführt werden würde, muss er absolut unmöglich gemacht werden. Jede Vorbereitungsmaßnahme indessen, die von seiner Möglichkeit ausgeht, fördert indirekt die Bereitschaft, sich auf etwas einzustellen, was um jeden Preis verhindert werden muss. Deshalb erkenne ich als Arzt nur eine einzige auf den Kriegsfall bezogene Form der Prävention an, nämlich die Verhütung des Krieges selbst mit allen Anstrengungen, zu denen ich mein Teil beizusteuern entschlossen bin.“

Anmerkung II

Preisfrage: Was ließe sich wohl aus den Thesen Horst-Eberhard Richters vom Frühling 1980 und seinem nachfolgenden Engagement gegen den (Atom)-Krieg für die aktuelle Situation im Frühling 2025 lernen?

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Titelbild: „Horst-Eberhard Richter (Psychoanalytiker und Sozialphilosoph)“ von Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0

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