Leserbriefe zu „„Whataboutism“ – Ein Kampfbegriff“
Klaus Mendler diskutiert in diesem Beitrag über „Whataboutism“. Es handele sich „nicht um einen formellen Argumentationsfehler, sondern um ein Instrument der psychologischen Kriegsführung“. Mit dieser Methode könne jemand kritisiert und gleichzeitig auf die eigenen Argumentationsregeln festgenagelt werden. Der Kritisierte habe dadurch nicht die Möglichkeit, dem Kritiker die Legitimität abzusprechen oder den Kontext der Kritik zu hinterfragen. Der „Whataboutism“ habe einen Platz in der Liste der Manipulationsmethoden verdient. Wir danken für die interessanten E-Mails. Die nun folgende Auswahl der Leserbriefe hat Christian Reimann für Sie zusammengestellt.
1. Leserbrief
Sehr geehrter Herr Mendler,
ich bin mit Ihnen ganz einverstanden. Dennoch denke ich, ein logisches Fehler im letzten Satz eingeschlichen ist.
Sie schreiben:
“Der „Whataboutism“ hat einen Platz in der Liste der Manipulationsmethoden verdient”.
Es ist aber nicht so sehr der Begriff “Whataboutism” selbst, sondern der Vorwurf des Whataboutismus, der einen Platz in der Manipulationsliste sein Platz finden sollte.
Mit freundlichem Gruß
Irena Pottel
2. Leserbrief
Ein Gedanke zum Whataboutismus
Ein Nachbar sägt mir die Hecke ab, weil sie ihm das Licht nimmt. Warum darf ich ihm deswegen nicht den Lack am Auto zerkratzen ?
Die fundamentale Rechtfertigung für das Gewaltmonopol ist, dass einem der Rechtsweg offen steht. Ich kann den Nachbarn verklagen und es gibt ein Judikative, die Recht anwendet und eine Exekutive, die es durchsetzt.
Das ist auf internationaler Ebene nicht so. Es gibt zwar das Menschenrecht/Kriegsrecht usw. und sogar den IGH, der Recht sprechen kann, aber als wirksame Exekutive ist der Sicherheitsrat ungeeignet, weil er politisch missbraucht wird. Vor diesem Hintergrund halte ich Whataboutism für ein valides Argument auf geopolitischer Ebene. Wenn die NATO Jugoslawien völkerrechtswidrig angreift, darf sich keiner wundern, wenn Russland sich das gleiche Recht in der Ukraine nimmt. Unilaterales Handeln setzt Standards.
MM
3. Leserbrief
“… ihre Bürger über eine Sezession abstimmen lässt …”
Meines Wissens gab es im Kosovo vorab kein Referendum, die Sezession wurde von der Regierung beschlossen und erst viel später durch eine Befragung “abgesichert”.
Neben dem zitierten “Weltgericht” hat der IGH (sehr viel später) erklärt, dass eine Sezession wie im Fall Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstößt. Das konnte niemanden verwundern, da das Völkerrecht keine Aussagen dazu macht, es beinhaltet lediglich die beiden – sich im Prinzip meist widersprechenden – Begriffe der Unverletzbarkeit von Grenzen und dem Selbstbestimmungsrecht.
Von unserem Leser D.S.
4. Leserbrief
Sehr geehrte Redaktion der Nachdenkseiten,
in einem Ihrer Artikel “Whataboutism” fand ich eine Annahme, der ich als trockener Alkoholiker vehement widersprechen muss und die auch das Grundthema des Artikels noch mal perfekt aufzeigt. Es ging um die Behauptung, eine Person, die selbst Alkohol trinkt oder alkoholkrank ist, besäße nicht die Legitimität, anderen vom Alkoholkonsum abzuraten. Dieser Gedanke ist nicht nur grundlegend falsch, er ist in seiner Konsequenz auch gefährlich, weil er die wertvollsten Stimmen zum Schweigen bringt.
Der Autor kritisiert einerseits völlig zu Recht die Taktik, von einem Argument abzulenken, indem man auf ein vermeintliches Fehlverhalten des Sprechers verweist. Andererseits behauptet er im gleichen Atemzug, man dürfe jemandem, der etwas rät, was er selbst nicht befolgt – als Beispiel wird der Alkoholiker genannt, der vor Alkohol warnt – zurecht die Legitimität absprechen.
Diese beiden Aussagen passen nicht zusammen. Mehr noch: Die zweite Aussage ist ein Paradebeispiel für genau das Problem, das die erste Aussage zu kritisieren vorgibt.
Dem Sprecher die Legitimität abzusprechen, WEIL er persönlich mit dem Problem ringt, ist Whataboutism in Reinform. Es ist die klassische Ad-hominem-Attacke, die den Fokus vom Inhalt der Botschaft (“Alkohol ist gefährlich”) auf die Person des Boten (“Aber du trinkst doch selbst!”) verschiebt. Der Autor sagt also sinngemäß: “Whataboutism ist falsch, es sei denn, es handelt sich um einen Fall, bei dem ich diese Taktik für gerechtfertigt halte.” Damit hebelt er seine eigene These aus.
Ein Argument ist entweder schlüssig oder es ist es nicht – unabhängig von der Person, die es vorbringt. Die Warnung eines Alkoholikers ist nicht weniger, sondern durch die persönliche, leidvolle Erfahrung potenziell sogar glaubwürdiger als die eines abstinenten Theoretikers. Wer, wenn nicht derjenige, der die Macht der Sucht am eigenen Leib erfährt, kann am eindringlichsten davor warnen?
Wenn man der widersprüchlichen Logik des Autors folgen würde, müsste man auch einem Psychotherapeuten die Legitimität absprechen, Patienten bei Angststörungen zu helfen, wenn er selbst manchmal unsicher ist. Man müsste die gesamte Arbeit von Selbsthilfegruppen für ungültig erklären, da diese per Definition von Menschen geleitet werden, die das Problem nicht “perfekt” im Griff haben.
Der Autor ist hier leider selbst in die Falle getappt, die er anderen vorwirft. Er hat nicht erkannt, dass seine angebliche “Ausnahme” keine ist, sondern ein Lehrbuchbeispiel für das Problem. Es ist nicht möglich, Whataboutism grundsätzlich abzulehnen, aber für bestimmte, willkürlich gewählte Fälle für legitim zu erklären. Genau diese Inkonsequenz macht eine rationale Debatte unmöglich.
Mit freundlichen Grüßen
Danny Altmann
5. Leserbrief
Sehr geehrte NDS,
danke für die Thematisierung dieses Begriffes. Ich hab mich auch schon mit diesem Begriff auseinandergesetzt und würde “Whataboutism” zuerst ins Deutsche übersetzen und von “Relativieren” sprechen. Wenn also irgendeine Datenlage, irgendein Fakt oder irgendeine Behauptung in den Raum gestellt wird, sucht man sich beim Relativieren ähnliche Dinge und stellt sie mit in den Raum, um das, was gesagt wurde, einordnen zu können. Denn “relativieren” bedeutet nichts anderes, als aufzuzeigen, wie die Dinge relativ zueinander stehen. Erst dadurch ist ja eine gedankliche Einordnung möglich. Wenn es also irgendwo eine Zahl gibt, z.B. Todeszahlen, kann man fragen, ob das viel oder wenig ist. Wenn es irgendwo ein Ereignis gibt, kann man fragen, ob das neu ist oder ob es das schon mal gab usw. Das Relativieren ist auf Grund seiner Einordnungsfähigkeit daher die Basis für das wissenschaftliche Denken. Wer nicht relativieren kann, kann nicht wissenschaftlich denken. Ins Englische umgemünzt: Wer kein “Whataboutism” betreiben kann, kann nicht wissenschaftlich denken.
Die Alternativen zum Relativieren sind auf der einen Seite das Absolutieren und auf der anderen Seite das Nivellieren. Beim Absolutieren (Absolution) wird etwas in den Raum gestellt, was auf gar keinen Fall eingeordnet werden soll. Das ist unwissenschaftlich und dient nur dazu, dass eine Behauptung nicht hinterfragt werden soll. Wenn man also möchte, dass sich nicht mit einer Sache auseinander gesetzt wird (Deutungshoheit), dann kommt der Vorwurf des Whataboutism bzw. der Vorwurf, dass man relativiert, also wissenschaftlich an die Sache herangeht. Und Wissenschaft betreiben bei einer Behauptung, bei der ich will, dass sie wahr ist, geht ja nun mal gar nicht. ;-)
Auf der anderen Seite beim Nivellieren sieht es auch nicht besser aus. Nivellieren heißt im Grunde genommen “einebnen”, “plattmachen” bzw. “unsichtbar machen”. Hier wird so getan, als ob es bestimmte Dinge nicht geben würde. Bringt man also Behauptungen und Fakten in eine Diskussion ein, wird so getan, als ob diese themenfremd wären, gerade nicht zur Diskussion passen und eh eine Lüge sind. (“Der Gegner betreibt Propaganda!”, er lügt also. Also kann das, was er sagt, nicht Teil unserer Diskussion sein)
Fazit:
Wenn ich “Whataboutism” betreibe, also relativiere, dann gehe ich wissenschaftlich an eine Sache heran. Wie kann das in einer Diskussion ein falsches Verhalten sein? Das kann nur für Menschen ein Problem sein, die nicht wollen, dass etwas außerhalb ihrer eigenen Gefühls- und Gedankenwelt existiert (absolutieren, egozentrisch, soziopathisch) und die zusätzlich dazu ein geschlossenes Weltbild haben (nivellieren, unbelehrbar). Die Kombination von Absolution und Unbelehrbarkeit nennt man Extremismus. Es kann nur EINE Gedankenwelt geben und die muss abgeschottet werden. Daher folgt die Ableitung: Wer anderen “Whataboutism” bzw. “Relativierung” vorwirft, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Extremist.
lg Andre Klein
6. Leserbrief
Moin,
ja, diese Art der Argumentation begegnet einem nicht nur im politischen Alltag. Im Grunde sind die dabei vorgebrachten Argumente egal, denn der “Whataboutism” zieht die Diskussion von der argumentativ-sachlichen Ebene auf eine moralische, teilweise auch auf eine ethische. Das kann man sehr gut in Beziehungen beobachten, seien sie partnerschaftlich, familiär oder freundschaftlich. Dabei wirft man dem Partner oder Familienmitglied seinerseits eine “Fehlleistung” nach moralisch-ethischen Maßstäben vor, um von seinen eigenen Fehltritten abzulenken. Nicht selten wird dann bei einer emotional nicht so gefestigten Personen das eigene Schamgefühl aktiviert, daß es ihr verbietet, dem Anderen weitere Vorwürfe (in dieser Sache) zu machen — der “Whataboutist” hat dann die Diskussion gewonnen, Argumente sind damit alle hinfällig.
Zum Beispiel habe ich einmal erfahren, daß gerade die Partner in einer Beziehung Fremdgehen vorwerfen, die es selbst tun. Wenn der andere Partner dann auch mal fremd geht, so hat der andere dann ein gutes “K.O.-Argument” in petto. Das funktioniert auch in anderen Aspekten, vorausgesetzt, die zuerst vorwerfende Person ist emotional nicht fest im Sattel. Nicht selten wird dabei auch das moralisch sehr fragwürdige Abwiegen vorgenommen: wenn eine Sache falsch ist, dann haben sie beide einen Fehler gemacht. Man kann aber nicht der einen Seite einen Fehler vorwerfen und selbst so tun, als hätte man keinen begangen. Beide müßten dann eine Strafe erhalten, abhängig von der Schwere der “Vergehen”. Vielleicht sind es aber an sich keine Vergehen? Bei den sozialen Spielregeln ändern sich die Parameter ständig. War es zum Beispiel im Mittelalter erlaubt, “Vogelfreie” straflos umzubringen, so zählt dies heute immer als Mord. Hier hat sich der moralische Standpunkt deutlich hin zur Erhaltung von Würde & Leben verschoben. Es gibt dieses eine berühmte Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das befand, daß ein Flugzeug, das von Terroristen entführt wurde, nicht abgeschossen werden darf, weil man das Leben der 200 Passagiere nicht gegen deutlich höhere Opferzahlen bei einem erfolgreichen Anschlag gegenrechnen darf — hier war der Grund, daß Menschen keine Sachen sind, sondern Subjekte, die man nicht einfach leichtfertig umbringt, wenn man sich selbst “zivilisiert” nennt. Das wäre nämlich Barbarei.
Wenn Politiker und/oder Medien diese Strategie anwenden, dann zielen sie meist genau auf diesen emotionalen Schwachpunkt bei den Bürgern, was aus meiner Sicht schon verwerflich ist, denn Politik hat die nationalen Rahmenbedingungen so zu gestalten, auf daß ein Jeder in Würde & Frieden leben kann. Das Erheben des moralischen Zeigefingers ist nicht ihre Aufgabe; Ausnahmen sind als solche deutlich gekennzeichete Meinungsbeiträge. Wenn sie es dennoch tun, dann verfolgen sie dabei handfeste Interessen, wie etwa die Zustimmung zu völkerrechtswidrigen Angriffskriegen oder militärische Vergeltungsmaßnahmen. Oder in Talkshows, den Diskussionsteilnehmer in Schmach versinken zu lassen, damit man nur noch die eigenen Standpunkte in die Köpfe der Rezipienten bringen kann. So entstehen schnell einseitige Sichtweisen (Seitenhieb an dieser Stelle: das “Grillen” von Teilnehmern, sprich, das nicht-ausreden-lassen).
Moralisch gefestigte Personen täten den klassischen Spruch sagen:
Bevor Du mir etwas vorwirfst, kehre erst einmal vor der eigenen Haustüre — oder greife Dir an die eigene Nase. Dann setzt vielleicht mal kurz eine Schnappatmung ein, aber dann ist meistens auch wieder Ruhe.
“Whataboutism” ist für mich Teil der Strategie “emotionale Erpressung”. Und Diese funktioniert umso besser, je größer die Kluft des Skrupellosen gegenüber demjenigen mit Skrupel ist. Bezogen auf die Politik bedeutet das: sie agiert teilweise skrupellos, indem sie Kriege anzettelt oder unterstützt, während sie argumentativ das Schamgefühl der Bürger ansprechen, um so sich so ihre stille Zustimmung zu sichern.
Mit freundlichen Grüßen,
Michael Schauberger
Anmerkung zur Korrespondenz mit den NachDenkSeiten
Die NachDenkSeiten freuen sich über Ihre Zuschriften, am besten in einer angemessenen Länge und mit einem eindeutigen Betreff.
Es gibt die folgenden E-Mail-Adressen:
- leserbriefe(at)nachdenkseiten.de für Kommentare zum Inhalt von Beiträgen.
- hinweise(at)nachdenkseiten.de wenn Sie Links zu Beiträgen in anderen Medien haben.
- videohinweise(at)nachdenkseiten.de für die Verlinkung von interessanten Videos.
- redaktion(at)nachdenkseiten.de für Organisatorisches und Fragen an die Redaktion.
Weitere Details zu diesem Thema finden Sie in unserer „Gebrauchsanleitung“.