Stimmen aus Argentinien: Das Urteil des Obersten Gerichtshofs und das Ende der Demokratie

Stimmen aus Argentinien: Das Urteil des Obersten Gerichtshofs und das Ende der Demokratie

Stimmen aus Argentinien: Das Urteil des Obersten Gerichtshofs und das Ende der Demokratie

Ein Artikel von amerika21

Revanchismus von oben gegen ein Projekt des Ausgleichs trotz seines gemäßigten, nicht-antisystemischen Charakters. Kirchnerismus stellte keinen systemischen Bruch dar, sondern ein Projekt der Angleichung innerhalb des peripheren Kapitalismus. Doch selbst diese moderate Umverteilung reichte aus, um die Tür zu Klassenhass und Revanchismus zu öffnen. Von Jorge Orovitz Sanmartino.

In letzter Zeit wird immer wieder behauptet, wir stünden am Ende einer Phase der Demokratie. Mit anderen Worten: Der demokratische Konsens sei endgültig zerbrochen. Diese Aussage galt bereits angesichts der Regierungsführung per Dekret von Javier Milei, der – expliziten oder impliziten – Unterstützung des Leugnens und des Bruchs des grundlegenden Konsenses über Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit. Auch lässt sich diese Aussage ablesen an der völligen Verachtung gegenüber dem Journalismus, an der Delegitimierung des Staates als Garant von Rechten, an der Verherrlichung des Regelbrechers als Held sowie an der Verankerung von Sozialdarwinismus, Grausamkeit und Verachtung gegenüber den Schwächsten im offiziellen Diskurs. Oder an der Normalisierung von Hassdiskursen und der Kriminalisierung Andersdenkender als Teil der politischen Alltagssprache. Und die Liste ließe sich fortsetzen.

Bleiben wir einen Moment bei diesem sogenannten „demokratischen Konsens”. Aus theoretischer Sicht bedeutet er nicht die Abwesenheit von Konflikten. Im Gegenteil, politische Demokratie gilt als das Regime, das Konflikte institutionalisieren kann. Sie sollte jedoch auf der Grundlage gemeinsamer Mindestvereinbarungen darüber funktionieren, wie um Macht gestritten wird und welche Dinge nicht mehr zur Debatte stehen, weil sie bereits zu einem gemeinsamen Fundament geworden sind. Dieser Konsens ist das, was Chantal Mouffe die „agonistische” Übereinkunft in liberalen Demokratien bezeichnet: Wir akzeptieren, dass es Gegner gibt, aber keine Feinde, die vernichtet werden müssen.

Wir würden uns jedoch irren, wenn wir glaubten, dass dieser Bruch nur eine Folge des Aufstiegs der extremen Rechten an die Macht sei. Wie in der gesamten nationalen Geschichte haben die herrschende Klasse, die begünstigtesten Schichten, die politischen Eliten – wie auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas – diesen Konsens immer dann gebrochen, wenn eine national-populäre Regierung[1] die Interessen dieser Machtelite beeinträchtigte.

Während der sogenannten „progressiven Welle” in Lateinamerika und besonders deutlich während der drei Regierungsperioden der Kirchners (2003–2015) wurde nicht versucht, die kapitalistische Ordnung zu sprengen, sondern vielmehr, ihre Spielräume für soziale Gerechtigkeit zu erweitern. Die zentralen Maßnahmen waren kompensatorischer Natur: die Wiederherstellung der Reallöhne, die Wiedereinsetzung der Tarifverhandlungen, die Rückbesinnung auf Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit angesichts der Straflosigkeit, die Ausweitung des öffentlichen Bauwesens, des Wohnungsbaus und des Konsums der Bevölkerung – all dies gestützt auf einen Neodesarrollismus,[2] der auf die Förderung des Binnenmarkts und ein progressiveres Steuersystem setzte. Diese „erneuerte Zentralität des Plebejischen”[3] brachte Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen als legitime Akteure des öffentlichen Raums wieder ins Spiel.

Kurzum, der Kirchnerismus stellte – wie auch die übrigen lateinamerikanischen Progressismen – keinen systemischen Bruch dar, sondern ein Projekt des Ausgleichs innerhalb des peripheren Kapitalismus. Doch selbst diese moderate Umverteilung von Macht und Einkommen genügte, um klassenbezogenen Hass, Revanchismus und den Bruch aller demokratischen Grundkonsense hervorzurufen. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs ist nichts anderes als die Krönung dieser proskriptiven Entwicklung gegen die Demokratie selbst. Denn dort, wo noch Schlupflöcher verbleiben, durch die sich der Volkswille frei äußern kann, bleibt die Bedrohung gegen jene neoliberale autoritäre Ordnung – die von der herrschenden Klasse gefeiert wird – weiterhin latent. Die Ächtung des Peronismus, in dem sich die Vorstellungswelt der Bestrebungen der unterprivilegierten Bevölkerung verdichtet, kehrt zyklisch in der nationalen Geschichte wieder.

Dabei spielt die Justiz eine Schlüsselrolle: Sie ist zur antidemokratischsten und oligarchischsten Institution des Systems geworden und wird heute de facto von drei unabwählbaren Männern[4] kontrolliert, die sich durch eine Reihe von Manövern an der Macht festgenagelt haben, die den Richterrat seiner Pluralität beraubt und ihnen ermöglicht haben, die Justizagenda nach Belieben zu bestimmen.

Der Oberste Gerichtshof ebnete den Weg für die Rückkehr zu einem alten System, das ihm eine automatische Mehrheit im Richterrat sichert, der Richter auswählt und diszipliniert, gezieltes forum shopping[5] betreibt, damit sensible Verfahren vor „befreundeten” Gerichten landen, und als juristischer Arm von Clarín, Techint und den großen Konzernen fungiert, deren Interessen er mit maßgeschneiderten Urteilen schützt.

Es ist kein Zufall, dass ebendieses Gericht es vermieden hat, sich zum Dekret DNU 70/2023,[6] der sogenannten Ley Bases, zu äußern – trotz dessen offensichtlicher Verfassungswidrigkeit: Es in Kraft zu lassen, festigt die Strategie des Präsidenten, per Dekret zu regieren, und schwächt die reale demokratische Macht weiter.

Ein Mechanismus politischer Disziplinierung

Das Gerichtsverfahren gegen Cristina Fernández de Kirchner (CFK) war von Anfang an von Unregelmäßigkeiten geprägt. Wie Raúl Kollmann, Journalist bei página12, in seiner jahrelangen Beobachtung des Verfahrens in seinen verschiedenen Instanzen gezeigt hat, stützt sich die Anklage im Gerichtsfall „Causa Vialidad” gegen CFK auf indirekte Beweise, widersprüchliche Zeitabläufe und Tatsachen, die im Prozess nicht verhandelt wurden. Es wurde kein einziger direkter Beweis vorgelegt, der sie mit den Bauvorhaben in Santa Cruz in Verbindung bringt: Kein einziger Zeuge nannte sie, es existieren weder E-Mails, Chats noch Dokumente, die ihre Mitwirkung belegen.

Es wurden Elemente aus anderen Verfahren einbezogen, die weder untersucht noch in der mündlichen Verhandlung behandelt worden waren; grundlegende technische Gutachten wurden ignoriert, und CFK wurde aufgrund eines bis heute gültigen Verwaltungsdekrets angeklagt, ohne darzulegen, inwiefern dies eine Straftat darstellen sollte. Sogar bereits abgeschlossene Verfahren (wie „Hotesur” und „Los Sauces”) wurden herangezogen, um das Urteil zu stützen, obwohl diese nicht Teil des Prozesses waren. Es konnte nicht einmal ein Hinweis auf einen persönlichen wirtschaftlichen Vorteil nachgewiesen werden. Es handelt sich um einen paradigmatischen Fall von Lawfare:[7] Die Anklage ersetzte Beweise durch politische Mutmaßungen, um die wichtigste Oppositionsführerin von der politischen Bühne auszuschließen.

Zum gerichtlichen Fall Vialidad kommen viele weitere hinzu, die das systematische Muster politischer Verfolgung unter dem Deckmantel der Justiz bestätigen. CFK sieht sich weiterhin mit zahlreichen offenen Verfahren konfrontiert. Selbst in jenen Fällen, in denen sie überhaupt erst aus dem Verfahren entlassen wurde – wie Hotesur und Los Sauces –, bleibt der Druck bestehen, sie ohne neue Beweise wieder aufzurollen. Im Fall des Memorandums mit dem Iran wird ihr beispielsweise auf absurde Weise vorgeworfen, gemeinsam mit ihrem damaligen Außenminister Héctor Timerman den Anschlag auf das jüdische Bündnis (Asociación Mutual Israelita Argentina, AMIA) vertuscht zu haben – obwohl es sich bei dem Memorandum um ein vom Kongress verabschiedetes Abkommen handelte, das nie in Kraft trat. Im Verfahren um den sogenannten „Dólar futuro” (US-Dollar-Terminkontrakt) ging man sogar so weit, sie wegen wirtschaftspolitischer Entscheidungen anzuklagen, die dem Staat keinerlei Schaden zugefügt hatten, wie selbst die Regierung von Mauricio Macri einräumte.

Hinzu kommen gerichtliche Verfahren, die sich gegen den gesamten Peronismus richten und ein juristisches Geflecht offenbaren, das darauf abzielt, den demokratischen Prozess zu beeinträchtigen. Die Strategie ist klar: Der Justizapparat wird als Mechanismus politischer Disziplinierung eingesetzt, indem Maßnahmen peronistischer Amtsinhaber juristisch verfolgt und oppositionelle Politiker unter ständiger Verdächtigung gehalten werden, um ihre öffentliche Teilhabe im politischen Leben zu neutralisieren.

Parallel dazu sicherte sich der Oberste Gerichtshof auf illegitime Weise eine dominierende Stellung im Richterrat, indem er ein zuvor aufgehobenes Gesetz reaktivierte und sich selbst legislative Kompetenzen zuschrieb, um die Kontrolle über dieses Gremium zu erlangen, das für die Ernennung und Disziplinierung von Richtern zuständig ist. Im Jahr 2013 hob der Gerichtshof die zentralen Artikel des Gesetzes 26.855 auf, das die direkte Wahl der Ratsmitglieder sowie Reformen des Quorums, der Ausschüsse und der Zusammensetzung des Rates vorsah.

Der Skandal um Lago Escondido, der durch eine geleakte WhatsApp-Korrespondenz ans Licht kam, enthüllte die obszöne Verflechtung zwischen Bundesrichtern, Medienunternehmern, Justizlobbyisten und Geheimdienstmitarbeitern. Ein Geflecht aus Komplizenschaft, das den Rechtsstaat ausgerechnet durch jene untergräbt, die ihn lauthals zu verteidigen vorgeben. Der Fall von Horacio Rosatti und insbesondere der von Richter Carlos Rosenkrantz – ehemaliger Anwalt der Clarín-Gruppe[8] – ist exemplarisch: Seit seinem Eintritt in den Obersten Gerichtshof begünstigt er systematisch die Interessen des Medienkonglomerats, für das er zuvor tätig war.

Gleichzeitig hat die Justiz Mauricio Macri in Fällen wie dem der Correo Argentino, der illegalen Spionage und der Verschuldung beim IWF Straffreiheit garantiert, obwohl überwältigende Beweise für seine Verantwortung vorliegen. Zu dieser institutionellen Degradierung gehört auch die sogenannte Irurzun-Doktrin, die die Untersuchungshaft ehemaliger Regierungsmitglieder ohne rechtskräftige Verurteilung zu eindeutigen politischen Verfolgungszwecken ermöglichte. Damit hat die argentinische Justiz ihre Umwandlung in eine mächtige politische Partei im Dienst der Wirtschaftseliten vollendet, die unter dem Deckmantel der Legalität die Demokratie unterwandert.

Der letzte Schutzwall gegen den Vormarsch von unten

Dieser Zustand – in dem drei Personen mit lebenslangen Ämtern Gesetze aufheben, aufgehobene Vorschriften wieder in Kraft setzen, in die Arbeit anderer Gewalten eingreifen und Entscheidungen blockieren, die durch direkte Wahlen von der Bevölkerung getragen werden – ist keine Abweichung vom Verfassungsgerüst, sondern eine seiner getreuesten Ausdrucksformen. Die institutionelle Architektur, die wir aus der nordamerikanischen Tradition übernommen haben, wurde von Anfang an dazu konzipiert, die Macht der Mehrheiten zu begrenzen und die Ausübung der Volkssouveränität einzudämmen. Wie James Madison warnte, „kann das Volk sich irren”; folglich entwarfen die Gründereliten des liberalen Konstitutionalismus ein System von „checks and balances”, das darauf abzielte, sich vor der „Despotie” des Volkes ebenso – wenn nicht sogar mehr – zu schützen als vor einer autokratischen.

Unser liberales Erbe (die Zweikammerstruktur, das Veto des Präsidenten, die Justiz, deren Mitglieder nicht direkt gewählt werden, sowie sogar das qualifizierte oder Zensuswahlrecht in seinen Anfängen) sind Mechanismen, die entwickelt wurden, um die Interessen der Eigentümer zu schützen und eine Überrepräsentation der dominierenden gesellschaftlichen Gruppen zu gewährleisten. Die Justiz war in diesem System nicht als Zugang zu Rechten gedacht, sondern als letzter Schutzwall gegen den Vormarsch von unten.

Auch wenn viele dieser Barrieren durch soziale Kämpfe – wie das geheime und allgemeine Wahlrecht – abgebaut wurden, bleibt der Kern der Justiz unangetastet. Und genau diese aristokratische Grundstruktur ermöglicht es heute einem dreiköpfigen Gericht ohne demokratische Legitimität, als übergeordnete Macht zu agieren, die die Interessen der großen Wirtschaftskonzerne verteidigt und darüber entscheidet, wer als Wahlkandidat zugelassen wird und wer nicht.

Das Problem beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Rolle des Obersten Gerichtshofs: Die institutionelle Architektur des politischen Systems Argentiniens ist darauf ausgelegt, das Wahl- und politische Gewicht der großen städtischen Zentren, insbesondere des Großraums Buenos Aires, zu neutralisieren. Das Zweikammersystem und die Sitzverteilung in beiden Kammern führen zu einer starken Verzerrung der Repräsentation. Diese Überrepräsentation der weniger bevölkerungsreichen Provinzen, die oft von staatlichen Transferzahlungen abhängig sind, wirkt sich direkt auf die Verteilung der politischen Macht und der öffentlichen Investitionen aus.

Hinzu kommt die Unterrepräsentation der Provinz Buenos Aires, da sie in der aktuellen nationalen Volkszählung nicht vertreten ist. Würde der Großraum Buenos Aires denselben Anteil an Abgeordneten erhalten wie an der Gesamtbevölkerung, stünden ihm 63 Sitze zu. Die fehlenden 18 Abgeordneten entsprechen der Gesamtvertretung der Provinz Córdoba oder der zusammengefassten Provinzen Tucumán und Entre Ríos. Das Dekret 70 wäre unter solchen Bedingungen beispielsweise unweigerlich gescheitert. Insgesamt fungieren diese strukturellen Mechanismen der Unterrepräsentation als Mittel zur Eindämmung der Mehrheiten der unteren Schichten und stützen ein Regime, das eine demokratische Fassade mit starken oligarchischen Beschränkungen kombiniert.

Demokratie als Vehikel für Ungerechtigkeiten

Die Geschichte der national-populären Regierungen ist reich an Versuchen politischer, institutioneller, wirtschaftlicher und sozialer Reformen. Doch früher oder später stoßen sie auf die tektonischen Platten eines Regimes, das darauf angelegt ist, sie unweigerlich zu untergraben, rückgängig zu machen oder gar vollständig zu tilgen.

Wenn die Demokratie tot ist, dann in diesem zweiten Sinne: als Terrain politischer Auseinandersetzungen und Antagonismen, weil die Grenzen dieses Terrains zuvor bereits festgelegt worden sind. Und wenn tiefgreifende Veränderungen angestrebt werden, ist eine radikale und substanzielle Transformation dessen, was wir unter Demokratie verstehen, unerlässlich. Etwas, das auf der Grundlage der bestehenden Konsense nicht möglich sein wird. Auch wenn es keine endgültigen Garantien gibt, bleiben die Umgestaltung des politischen Systems und des Eigentumsregimes zentrale Hebel, um die Macht der Mächtigen zu schwächen und die der großen Mehrheit zu stärken.

Auf diese Weise ist die Demokratie nicht nur deshalb tot, weil der demokratische Konsens, auf dem das institutionelle Leben des Landes aufgebaut war, zerbrochen ist. Sie ist auch deshalb tot, weil der Konsens über die Demokratie selbst zerbrochen ist — über das, was sie ist und was sie sein sollte, über ihre Funktion und ihre Aufgaben. Was zu Ende geht, ist der Zyklus der Illusion, der Glaube, dass die Interessen der unteren Schichten gesichert sind, wenn man den Gerichtshof erweitert, das Mediengesetz „abschirmt”, einen repräsentativen Richterrat einführt und Tarifverträge gesetzlich garantiert.

Das Argentinien nach der Krise von 2001 hat sich nie auf den Weg einer verfassungsgebenden Versammlung und einer radikalen Überarbeitung seiner Institutionen begeben. Die national-populären Regierungen akzeptierten es, auf einem ihnen fremden Spielfeld zu spielen, und vertrauten auf Wahlmehrheiten, die sich als kurzlebig erwiesen. Der Peronismus war die republikanischste aller Parteien, während die Verfechter der Republik diese gnadenlos zerstörten. Die unterirdischen Kloaken der Geheimdienste Macris waren vielleicht ihr deutlichster Ausdruck.

Die Demokratie, diese bis zur Grausamkeit entstellte Demokratie, ist heute das Vehikel aller Ungerechtigkeiten. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Karten neu zu mischen und uns erneut zu fragen, wo der Weg zum Wiederaufbau einer oppositionellen Mehrheitskraft entlangführt. Die historische Erfahrung liefert uns ein reichhaltiges Repertoire an Lehren, wenn auch zu einem sehr hohen Preis: Ohne eine umfassende Verfassungsreform, ohne die dunkle, repressive Macht des Justizapparats zu beseitigen, ohne eine proportionale Vertretung im Parlament und echte Formen der direkten politischen Partizipation, ohne die Frage von Eigentum und Erbschaft, des Steuersystems, der Kontrolle des Außenhandels und der Wasserstraßen zu diskutieren, ohne die Beziehung, die wir zur Welt haben wollen, zu diskutieren, ohne das volle Gewicht der breiten Massen von unten auf die Fundamente der politischen Macht zu legen, werden wir in diesem Kreislauf des Verfalls und der Hoffnungslosigkeit verharren.

Zum Autor: Jorge Orovitz Sanmartino ist Soziologe und Forscher am Institut für Lateinamerika- und Karibikstudien (IEALC) der Universität Buenos Aires.

Der Artikel erschien im spanischen Original auf Jacobin Revista.
Übersetzung: Hans Weber, Amerika21.

Titelbild: Die drei Richter des Obersten Gerichtshofs von Argentinien, die den Lawfare gegen Cristina Kirchner vorantreiben: Horacio Rosatti, Carlos Rosenkrantz und Ricardo Lorenzetti. – Quelle: Corte Suprema


[«1] Mit national-populären Regierungen sind jene gemeint, die sich auf ein gemeinsames nationales Projekt mit den unteren gesellschaftlichen Schichten oder in ihrem Interesse berufen. Der Begriff „national-populär” geht auf Antonio Gramsci zurück. A. d. Ü.

[«2] Als Neodesarrollismus wird eine postneoliberale Politik bezeichnet, die den Staat als wichtigen Akteur betrachtet und Sozialprogramme im Kampf gegen die Armut realisiert. A. d. Ü.

[«3] Das Plebejische ist eine theoretische Bezeichnung für kulturelle und soziale Lebensformen, die sich hegemonialer Macht entziehen und diese infrage stellen. Laut dem argentinischen Philosophen Diego Sztulwark kann sich das Plebejische etwa in „dem Jungen zeigen, der mit Basecap an der Straßenecke herumsteht, ohne zur Arbeit zu gehen, während das ganze Viertel ihn mit Misstrauen betrachtet, als auch in einem Mädchen, das sich über das gesellschaftliche Gebot hinwegsetzt, was es heißt, eine Frau zu sein.” A. d. Ü.

[«4] Damit sind Horacio Rosatti, Carlos Rosenkrantz und Ricardo Lorenzetti gemeint – die drei Richter des Obersten Gerichtshofs von Argentinien. Das Gremium besteht in der Regel aus fünf Richterinnen und Richtern, zwei Posten sind derzeit vakant. A. d. Ü.

[«5] Forum Shopping bezeichnet das gezielte Auswählen eines Gerichts, das für eine bestimmte Rechtsfrage oder Partei günstiger erscheint. A. d. Ü.

[«6] Das Dekret 70/2023, auch als „Mega-Dekret” bekannt, ist ein Maßnahmenpaket der Regierung Milei zur Privatisierung, wirtschaftlichen Deregulierung, Einschränkung des Streikrechts und zum Abbau öffentlicher Institutionen. Einzelne Bestimmungen wurden entweder vom Kongress zurückgewiesen oder von Gerichten für verfassungswidrig erklärt. A. d. Ü.

[«7] Lawfare bezeichnet den strategischen Missbrauch juristischer Mittel, um politische Gegner zu delegitimieren, strafrechtlich zu verfolgen oder dauerhaft aus dem politischen Leben zu verdrängen. A. d. Ü.

[«8] Clarín-Gruppe ist ein Medienkonzern mit Hauptsitz in Buenos Aires. A. d. Ü.