Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) ist mit ihrer größten Krise seit zwei Jahrzehnten konfrontiert, geprägt von internen Spaltungen und Korruptionsvorwürfen, die kurz vor den Präsidentschaftswahlen heftig an die Öffentlichkeit gelangten. Die MAS wurde bei den Wahlen am 17. August von den Kandidaten der Rechten und Ultrarechten deutlich geschlagen und verlor nicht nur das Präsidentenamt, sondern auch alle Sitze im Parlament. Das Wahlergebnis ist eine Tragödie für die Zukunft der Volksbewegung im Allgemeinen und der indigenen Bewegung im Besonderen. Von Aram Aharonian.
Während Bolivien am 6. August den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feierte, war die Stimmung auf den Straßen und auf dem Land alles andere als festlich. Der Zusammenbruch eines der radikalsten progressiven Projekte, die in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts in Lateinamerika entstanden sind, sollte nicht nur für die bolivianischen progressiven Kräfte, sondern für alle demokratischen Kräfte Lateinamerikas Anlass zum Nachdenken und zur Selbstkritik sein.
Der Zerfall der MAS ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, deren Analyse Zeit brauchen wird, aber er kommt keineswegs überraschend. Seit Jahren entfernte sie sich von den sozialen Basisgruppen, die sie an die Macht gebracht hatten, während die Wirtschaftskrise ihr Programm untergrub und die Rechte versuchte, durch wirtschaftliche Destabilisierung und sogar Staatsstreiche und Putschversuche die Macht zurückzugewinnen.
Obwohl der interne Zerfall der MAS im November 2019, als Evo Morales zum vierten Mal wiedergewählt werden wollte, nicht zu übersehen war, kam es zu einem gewaltsamen Staatsstreich. Er wurde unterstützt von der Organisation Amerikanischer Staaten und setzte ein De-facto-Regime ein, welches die MAS-Politik für drei Jahre unterbrach und die meisten der in den Vorjahren erzielten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Errungenschaften zunichtemachte.
Als die MAS bei den Wahlen 2020 mit Luis Arce an der Spitze die Präsidentschaft zurückeroberte, war sie bereits eine politische Kraft, die von internen Meinungsverschiedenheiten, Machtkämpfen und der Erschöpfung ihres Programms sowie der Ermüdung ihrer Basis angesichts des Egoismus oder Egozentrismus ihrer Führer zerfressen war.
Für Analysten wirft der interne Zusammenbruch der MAS drängende Fragen über die Zukunft der indigenen Bewegungen innerhalb des plurinationalen Staates Bolivien auf. 41 Prozent der bolivianischen Bevölkerung sind indigen, der zweithöchste Anteil in Lateinamerika, mit einer 500-jährigen Geschichte der Marginalisierung und rassistischen Unterdrückung. Morales, der von 2005 bis 2019 regierte, war der erste indigene Präsident Boliviens, und die MAS bildete sich historisch um indigene und bäuerliche Bewegungen herum.
Es ist offensichtlich, dass der Erfolg der MAS und gleichzeitig ihr größter Fehler darin bestand, ein ganzes politisches Projekt auf eine einzige Person zu konzentrieren: Evo Morales. Dies bedeutete eine Schwächung und Zersplitterung der indigenen Bewegung. Die Chance, ein indigenes politisches Projekt außerhalb der parteipolitischen und caudillistischen Vormundschaft zu überdenken, wurde verpasst.
Das Ergebnis der Wahlen vom 17. August[*] ist eine Tragödie für die Zukunft der Volksbewegung im Allgemeinen und der indigenen Bewegung im Besonderen.
In den besten Jahren der MAS-Regierung – mit Evo als Präsident und Arce als Wirtschaftsminister – gelang es dem Volksprogramm, die Wirtschaft mit durchschnittlichen Wachstumsraten von fünf Prozent wieder anzukurbeln und die extreme Armut von 36,7 auf 16,8 Prozent der Bevölkerung zu senken. Außerdem wurden die nationale Souveränität entschlossen verteidigt und viele wichtige Fortschritte im gesamten Spektrum der Rechte erzielt.
„Der Niedergang der MAS ist nicht zu verstehen, ohne die Entfremdung zwischen der sozialen Bewegung und ihrer eigenen Basis zu berücksichtigen“, erklärt der Aymara-Anwalt und Forscher Roger Adán Chambi. „Die soziale Bewegung hörte auf, eine Bewegung zu sein, und wurde zu einem weiteren Arm der Macht, oft verblendet durch Klientelismus und die Verteilung von Ämtern.“
In den letzten zwei Jahren waren die Basisorganisationen der MAS in erbitterte und andauernde Spaltungen zwischen den Fraktionen der „Evista“ und „Arcista“ verstrickt. Die erste Gruppe unterstützt Morales, die zweite den amtierenden Präsidenten Luis Arce, den Morales zu seinem Nachfolger ernannt hat.
Der Streit führte zu einer politischen Pattsituation, in der die „Evistas“ im Parlament die Gesetzgebung der Regierung Arce in Bezug auf die Finanzausgaben blockierten, was die wirtschaftliche Lage weiter verschlechterte.
Evo Morales erklärte am Montag nach der Wahl, dass er die Ergebnisse respektiere, hob jedoch die Kandidatur von Edman Lara hervor und schrieb ihm den Wahlsieg der Partido Demócrata Cristiano (PDC) vor Rodrigo Paz zu. „Ich bin sehr ehrlich: Nicht Rodrigo Paz hat gewonnen. Ich würde sagen, Captain Lara hat gewonnen”, sagte er. Lara ist ein ehemaliger Polizist, TikTok-Star und war der Vizepräsidentschaftskandidat von Paz.
Im Vorfeld der Wahlen führten die Anhänger von Morales eine Reihe von Straßenblockaden durch, vor allem in seiner Hochburg im tropischen Cochabamba, die den Verkehr und den Transport von Lebensmitteln im ganzen Land behinderten. Morales konnte nicht zur Wahl antreten, weil er keine offiziell anerkannte Partei hatte, unter deren Flagge er kandidieren konnte, und weil ihm die Verfassung eine unbegrenzte Wiederwahl verbietet.
Die Konfrontationen wegen der Straßenblockaden gipfelten im Juni in einem gewaltsamen Zusammenstoß in der Stadt Llallagua, einem strategisch wichtigen Bergbauzentrum mit Verbindungen zum Kokaanbaugebiet Chapare und zu den Ayllus (indigenen Gemeinschaften) im Norden von Potosí. Drei Polizisten und ein Bauer kamen bei den Zusammenstößen ums Leben, als die „Evista“-Blockierer gegen die Ablehnung der Kandidatur von Morales durch die Wahlbehörde protestierten. Inmitten einer wachsenden öffentlichen Kritik in der Gesellschaft an den unpopulären Straßenblockaden markierte die Entscheidung von Arce, Spezialeinheiten der Polizei zu entsenden, um die Proteste zu unterdrücken, einen Wendepunkt.
Aufgrund der sinkenden Gas- und Ölreserven importiert Bolivien den größten Teil seines Brennstoffs und subventioniert den Preis, kann jedoch wegen der fiskalischen Beschränkungen die Schulden und Subventionen nicht mehr bezahlen. Bolivien gab im vergangenen Jahr mehr als drei Milliarden US-Dollar für Gassubventionen aus. Seine Auslandsverschuldung belief sich Ende 2024 auf 13,3 Milliarden Dollar. Die Devisenreserven erreichten einen historischen Tiefstand.
Der Mangel an Dollar ist auf den starken Rückgang der Exporte von Kohlenwasserstoffen zurückzuführen, deren Gewinne in den letzten zwei Jahrzehnten die Grundlage des wirtschaftlichen Umverteilungsprogramms der MAS bildeten. Der informelle Wechselkurs des Dollars liegt derzeit bei etwa 15 Bolivianos, mehr als doppelt so viel wie der offizielle Kurs von 6,97.
Der Wahlprozess hat zwei grundlegende Probleme deutlich gemacht. Zum einen die Zersplitterung der Volksbewegung, die ihre historische Fähigkeit verloren hat, die politische Agenda zu bestimmen und ihre Forderungen in die öffentliche Wahlkampagne einzubringen. Dies wurde durch den Zerfall der MAS noch weiter verschärft, da sie ihre Basis weiter fragmentierte.
Andererseits ist angesichts einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise die einzige Lösung, die sich abzeichnet, die Verschärfung eines extraktiven Kapitalismus, der sich auf Lithium, die Erschließung neuer Kohlenwasserstoffvorkommen und vor allem die Vertiefung des agroindustriellen und Bergbaumodells konzentriert.
Ab 2026 und abhängig vom Ergebnis der Stichwahl im Oktober wird die Regierung entweder in den Händen des Mitte-Rechts-Politikers Rodrigo Paz liegen, der vom Verlust der Unterstützung der Bevölkerung für die MAS profitiert, oder in denen des Neoliberalen Jorge Quiroga, einem entschiedenen Gegner der Sozial- und Integrationspolitik der MAS-Regierung.
Es ist nicht auszuschließen, dass diese Vertreter der bolivianischen Oligarchie eine Politik der Verfolgung und Unterdrückung der unteren Bevölkerungsschichten verfolgen werden.
Mit der Rechten (oder Ultrarechten) an der Macht scheint die wirtschaftliche Umstrukturierung unvermeidlich. Die Kredite des IWF und der Weltbank könnten harte wirtschaftliche Maßnahmen mit sich bringen, die Erinnerungen an die brutalen Jahre der neoliberalen Anpassung in den 1980er-Jahren wachrufen würden.
Die Abschaffung der Subventionen für Kraftstoffe und Lebensmittel, von denen die Ärmsten Boliviens abhängig sind, könnte möglicherweise eine neue Welle sozialer Unruhen auslösen.
Unabhängig vom Ausgang der Stichwahl ist klar, dass das goldene Zeitalter der MAS in bitterer Zwietracht endete und dass dem plurinationalen Staat eine düstere Zukunft droht.
Von „Tuto“ Quiroga ist nichts Gutes zu erwarten. Er vertritt die Interessen des US-Kapitals und der traditionellen Eliten Boliviens und war bereits von 2000 bis 2001 Präsident und von 1997 bis 2001 Vizepräsident unter dem ehemaligen Diktator Hugo Banzer.
Zu seinen Vorschlägen gehören Ausgabenkürzungen zur Verringerung des Haushaltsdefizits und Pläne zur Stabilisierung des Dollar-Wechselkurses, finanziert durch ein internationales Rettungsprogramm in Höhe von zwölf Milliarden Dollar des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank.
Vor fast 20 Jahren, am Sonntag, dem 18. Dezember 2005, versuchte eine Mission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) unter dem Vorsitz des früheren kolumbianischen Präsidenten Andrés Pastrana, den Eindruck zu erwecken, der Rechtspolitiker Jorge Quiroga habe über den indigenen Anführer Evo Morales gesiegt. Dies geschah auf der Grundlage paralleler Auszählungen der venezolanischen Nichtregierungsorganisation Súmate unter dem Vorsitz von María Corina Machado[**].
Das Manöver wurde durch die Überwachung der Mission der Beobachtungsstelle für Kommunikation und Demokratie vereitelt.
Die Frage ist in aller Munde: Für wen werden die „Masistas“ in der zweiten Runde stimmen? Paz hofft, dass sie für ihn stimmen werden, aber …
Der Beitrag ist auf Spanisch bei Rebelión erschienen und wurde von Marta Andujo übersetzt.
Über den Autor: Aram Aharonian, Journalist aus Uruguay, ist Hochschullehrer, Mitbegründer des lateinamerikanischen Fernsehsenders Telesur und Direktor der uruguayischen Beobachtungsstelle für Kommunikation und Demokratie.
Titelbild: Ein Bild aus besseren Zeiten: MAS-Unterstützter bei einer Veranstaltung am 5. November 2019 mit dem damaligen Präsidenten Evo Morales – Quelle: Shutterstock / Radoslaw Czajkowski
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[«*] Rodrigo Paz von der PDC kam auf 32, Jorge „Tuto“ Quiroga von Libre auf 26,9 Prozent der Stimmen. Der Unternehmer Samuel Doria Medina von der Partei Unidad kam auf 19,8. Der Kandidat der regierenden MAS, Eduardo del Castillo, erhielt 3,1 Prozent der Stimmen.
19,1 Prozent der Wahlberechtigten wählten ungültig. Ex-Präsident Morales und seine Anhänger hatten dazu aufgerufen.
Bei den Parlamentswahlen wurde die PDC stärkste Kraft, gefolgt von Libre und Unidad. Die MAS, die fast 20 Jahre die Mehrheit in beiden Kammern innehatte, ist nicht mehr vertreten.
Am 19. Oktober findet die Stichwahl zwischen Paz und Quiroga statt.
[«**] Die Politikerin und Oligarchin María Corina Machado, ist die Anführerin der ultrarechten Opposition in Venezuela und war seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez im Jahr 1999 an allen Umsturzversuchen gegen die chavistischen Regierungen beteiligt. Sie befürwortet Sanktionen und jegliche Art von Einmischung der USA, bis hin zur Militärintervention, um die Regierung von Nicolás Maduro zu stürzen.