Bolivien: Krise der Regierungspartei MAS oder des politischen Systems? 

Bolivien: Krise der Regierungspartei MAS oder des politischen Systems? 

Bolivien: Krise der Regierungspartei MAS oder des politischen Systems? 

Ein Artikel von amerika21

Der Zwist zwischen Evo Morales und Luis Arce ist nun auch zu einem Fall der Justiz geworden, nachdem Leitungsmitglieder der ländlichen Frauenbewegung den vom Ex-Präsidenten einberufenen Kongress der Bewegung zum Sozialismus – Politisches Instrument für die Souveränität der Völker (MAS-IPSP) vor Gericht angefochten haben. Dieser fand am 3. und 4. Oktober in Cochabamba statt.
Der Disput zwischen Evo Morales, dem historischen Anführer der Mehrheitspartei, und dem Präsidenten der Republik, Luis Arce, hat sich ausgeweitet und zur Spaltung der Fraktion im Parlament geführt. Damit ist das Abgeordnetenhaus der Plurinationalen Versammlung lahmgelegt worden. Dieser politische und institutionelle Konflikt findet in einem von einer Wirtschaftskrise geprägten Umfeld statt, die durch den rasanten Rückgang des Gasexports ausgelöst wurde. Von Álvaro Verzi Rangel.

Alle im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts in Bolivien vollzogenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Veränderungen sind undenkbar ohne das organisierte Auftreten der popularen indigenen Bewegungen der Bauern und Arbeiter. Diese verfügen über solide Basisorganisationen, wobei die bäuerlichen Vereinigungen die stärksten sind. Sie haben eine Mobilisierungskraft, die in den kritischsten Momenten dieses politischen Zeitraums von entscheidender Bedeutung war.

Aber parallel zu dieser überlebenswichtigen kämpferischen Haltung eines sich im Aufbruch befindlichen Volkes werden ihr innewohnende ernsthafte Begrenzungen sichtbar, die verhindern, über den bloßen Widerstand und die unmittelbaren Forderungen hinauszugehen.

Der in Lauca Ñ abgehaltene Parteitag proklamierte Evo Morales als Präsidentschaftskandidat für die 2025 anstehenden Wahlen und beschloss, keinerlei Allianzen für die Wahlen einzugehen. Zudem stellte er den „Selbstausschluss” des Präsidenten Luis Arce und des Vizepräsidenten David Choquehuanca aus der Partei fest, weil diese nicht an dieser Parteiversammlung teilgenommen hätten. Jetzt ist durch die Anfechtung des Parteitages vor dem Wahlgericht durch die Parteigänger des Staatspräsidenten die politische Auseinandersetzung zu einem Fall der Justiz geworden und droht zu einem institutionellen Konflikt zu werden.

Auf einer zeitgleich in La Paz stattgefundenen Versammlung sagte Arce, dass es sich um „einen Affront gegenüber den sozialen Organisationen handelt, die faktisch ihres eigenen politischen Instruments beraubt werden”, dass es „einen respektlosen Umgang mit den gesellschaftlichen Organisationen darstellt und deren Charakter als Gründungsmitglieder nicht beachtet wird”.

Die Regierbarkeit

Die MAS muss eine politische Lösung für ihre Krise finden, damit die Verfassungsmäßigkeit Boliviens nicht zusammenbricht, kein erneuter Staatsstreich und keine neuerliche Bedrohung der südamerikanischen Demokratie ermöglicht wird.

Der Streit um die Kontrolle über die erste große südamerikanische indigene Linkspartei stellt eine Gefahr für die Regierbarkeit eines Landes dar, das unter der Bürde schwächlicher Institutionen und einer ungewissen wirtschaftlichen Entwicklung mit einer Tendenz zur Verschärfung leidet.

Der Arce-Flügel hat erreicht, dass das Verfassungsgericht die Wahl von Morales als Präsidentschaftskandidat für null und nichtig erklärt hat. Die Morales-Anhänger prangerten das Urteil als „betrügerisch” an.

Der Ball liegt nun beim Wahlgericht, das der MAS auferlegen wird, einen neuen Parteikongress abzuhalten. Wenn dem nicht Folge geleistet wird, hat es die Befugnisse, ihr das Namenskürzel abzuerkennen, was Bolivien in eine politische Instabilität großen Ausmaßes stürzen würde.

Da die Opposition sehr gespalten ist, bieten sich keine Alternativmodelle an. Aber die Zeit drängt, und wenn die populare Bewegung in Bolivien ihre Führungskrise nicht in den Griff bekommt, wird das Land in einer neuen verfassungsrechtlichen Krise versinken.

Die Wahlen 2020 in Bolivien nach dem Staatsstreich, aus denen die Bewegung zum Sozialismus als großer Sieger hervorging, reichten nicht aus, um all die Risse zu kitten, die in der Krise 2019 aufgebrochen waren. Die jetzige Spaltung ist so tiefgehend, dass sogar das Einzige, was noch zu spalten war, davon erfasst worden ist: die MAS selbst.

Evo Morales’ Weg weist mehr Stolpersteine auf als früher, denn ein Gutteil seiner Partei, der damit befasst ist, die Exekutive zu verwalten, hat ihm in vielen unterschiedlichen Formen zu verstehen gegeben, dass er nicht mehr gebraucht werde und dass seine Eigensucht und jegliche Art von Personenkult auf Widerstand stoßen. Aber seine Anhänger sehen in ihm immer noch einen unentbehrlichen Anführer.

Morales ist ein Politiker mit einer langjährigen Erfahrung in der Gewerkschaft und als Präsident. Deshalb ist es unerklärlich, warum er ständig aufgebracht ist. Seine Anschuldigungen bezüglich gerichtlicher Verfolgung oder ineffizienter Regierungstätigkeit werden immer mehr zu einseitigen und rechthaberischen Vereinfachungen, sodass es für die Massenmedien immer leichter wird, ihn mehr als einen ehrgeizigen Egoisten zu präsentieren als ein heldenmütiges Opfer.

Der bolivianische Soziologe, Politiker und Philosoph René Zavaleta, Lehrbeauftragter an den Universitäten San Andrés, Oxford, Vincennes, Santiago, UAM (Madrid) und UNAM (Mexiko) und Gründungsdekan der Lateinamerikanischen Fakultät für Gesellschaftswissenschaften mit Sitz in Mexiko, bezeichnet das als „Unfähigkeit, die effektive gesellschaftliche Kraft in konkrete Maßnahmen zur gesellschaftlichen Umwandlung umzusetzen”.

Diese Massenbewegung, die das neoliberale Parteienregime zu Fall bringt, die den Aufständen von rechts eine Niederlage bereitet, agiert danach wie eine gesellschaftliche Kraft mit einer Stimme zugunsten der MAS…, aber es ist, als ob sie am folgenden Tage aufhören würde zu existieren.

Angesichts der historischen Dimensionen des offenen politischen Prozesses seit der Regierungsübernahme durch die MAS ist es nicht übertrieben, zu dem Schluss zu kommen, dass ein Aushebeln der Massenapparate an der sozialen Basis zur Demoralisierung und zu einer Niederlage führen kann, die bei Weitem einen bloßen Rückschlag bei Wahlen übertrifft.

Genau deshalb und wegen der Größe der Gefahr ist es dringend geboten, alle Anstrengungen – grundsätzlich innerhalb der Arbeiter-, Bauern- und popularen Bewegung – darauf zu richten, über neue politische Agenden zu diskutieren, die auf Schlüsselaspekte und solche allgemeinen Interesses zielen, wie die Qualität des Bildungs- und Gesundheitswesens zu verbessern, die Justizbehörden von Grund auf zu reformieren und die demokratischen Rechte der Frauen, der Jugend sowie der indigenen Völker zu stärken. Die Passivität und die Unterordnung unter die zwielichtigen Dispute der politischen Apparate sind ein eingefahrener Weg, der zur Spaltung, Unglaubwürdigkeit und letztendlich zur Niederlage führt.

Morales und Arce waren von 2006 bis 2019 ein erfolgreiches Doppelgespann: Ersterer als Staatschef und der Zweite als Wirtschaftsminister. Nach dem zivil-militärischen Putsch, der sie 2019 von der Macht verstieß, wurde Arce von Morales als sein Nachfolger ausgewählt. Drei Jahre danach sind die Beziehungen zwischen beiden jetzt zerbrochen.

Schon gleich nach Beginn seiner Regierungszeit beschloss Arce, zu seinem Mentor auf Distanz zu gehen. Er sagte, dass dieser „keinerlei Rolle” bei den politischen Entscheidungen spielen würde, und schob ihn ins zweite Glied ab als Koordinator der Dutzenden von Gewerkschaften und gesellschaftlicher Gruppierungen, die die MAS bilden. Morales interpretierte das als Verrat. Jetzt ist der Ausschluss von Arce zusammen mit weiteren 20 regierungsaffinen Abgeordneten das letzte Kapitel dieser innerparteilichen Fehde.

Morales versprach den Seinen, dass „die MAS die Revolution wieder an sich reißen würde, um das Vaterland erneut zu retten”. Der Ex-Präsident blickt dabei zurück auf 2006, als die Nationalisierung des Erdöls Bolivien ein anhaltendes Wirtschaftswachstum brachte. Zugleich wurden die Armut und die Arbeitslosigkeit verringert. Einen Teil dieses Erfolgs verdankt Morales Arce, dem er jetzt nicht dessen Entscheidung verzeiht, einen inneren Erneuerungsprozess der Bewegung anzuführen, die seit mehr als 30 Jahren von ihm geführt wurde.

Was kommen wird

Die Anführer der Sechs Föderationen aus Cochabamba (eine mächtige Organisation der Kokabauern, aus der Morales als Führer hervorging) haben die Regierung Arce bereits gewarnt, dass sie zu radikalen Aktionen greifen würden, falls Evos Teilnahme an den Wahlen 2025 verhindert werden sollte.

Arce sollte nur eine Übergangsfigur sein, aber er ist im Besitz der Macht des Staates und hat die Ressourcen in der Hand. Niemand wusste eine Formel für eine einheitliche Führung des Staates und der Massenbewegung zu finden. Und so kam es dazu, dass seit Ende 2021 die beiden Führungspersönlichkeiten begannen auseinanderzudriften, bis hin zum jetzigen Zusammenstoß.

Der „Evismus” ist nicht bereit, das Jahr 2024 abzuwarten, wenn in Bolivien die Offenen und Geheimen, aber nicht obligatorischen, Vorwahlen (Primarias Abiertas y Secretas – PAS) abgehalten werden müssen. Wahrscheinlich fürchtet Evo eine Entscheidung des Plurinationalen Verfassungsgerichts (TCP), bei der die Verfassung so interpretiert wird, dass seine Kandidatur für unzulässig erklärt wird. Vor Evo liegt ein steiniger Weg, denn er wird von 60 Prozent der städtischen Bevölkerung abgelehnt und hat wenig Chancen, die Wahl zu gewinnen.

Seinerseits hat es auch Luis Arce nicht leicht, da er die Regierungstätigkeit nicht vernachlässigen darf, wenn er die populare Unterstützung für sich weiterhin sichern will.

Álvaro Verzi Rangel aus Venezuela ist Soziologe und internationaler Analytiker, Ko-Direktor des Beobachtungszentrums für Kommunikation und Demokratie und Senioranalytiker des Lateinamerikanischen Zentrums für Strategische Analysen (CLAE, www.estrategia.la)

Übersetzung: Gerhard Mertschenk, Amerika21.

Titelbild: Shutterstock / Radoslaw Czajkowski

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