Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (IX) – Von der „tektonischen Verschiebung“ über „weit in die Tiefe des russischen Raumes“ zum „weltpolitischen Beben“

Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (IX) – Von der „tektonischen Verschiebung“ über „weit in die Tiefe des russischen Raumes“ zum „weltpolitischen Beben“

Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (IX) – Von der „tektonischen Verschiebung“ über „weit in die Tiefe des russischen Raumes“ zum „weltpolitischen Beben“

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung teils verharmlosender, teils lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft – uns alle – möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. Von Leo Ensel.

Sprache der Stärke
„Angesichts der russischen Bedrohung“, so Friedrich Merz in seiner Regierungserklärung vom 24. Juni, müsse Deutschland eine „Sprache der Stärke“ wählen. Deutschland investiere nämlich auch in die eigene Verteidigung, „weil wir befürchten müssen, dass Russland den Krieg über die Ukraine hinaus fortsetzen wird“. – Mit dem Wort „Drecksarbeit“ ging der Kanzler, wenn auch in anderem Zusammenhang, schon mal mit gutem Beispiel voran. Und wird sich, was die neue deutsche Großmäuligkeit angeht – immerhin werden wir, ebenfalls laut Merz, in Kürze über die konventionell stärkste Armee in Europa verfügen –, bald in einer Ahnenreihe mit Wilhelm II. und anderen bedeutenden deutschen Kriegführern wiederfinden. (vgl. „Friedensarbeit“, „neue Stärke“)

Teilverpflichtung von Teiljahrgängen
Sprachungetüm aus dem Grundwehrdienst-Revival der „Zeitenwende“. Von einer solchen sprach kürzlich unser Kriegstüchtigkeitsminister, dessen Namen man am Sinnigsten mit chinesischem Akzent aussprechen sollte, anlässlich einer Privataudienz bei „Caren Miosga“. – Verklausulierte Formulierung für „schleichende Wiedereinführung der Wehrpflicht“. Und ein weiterer Schritt vom Staatsbürger zum Staatsrekrut. Dem Salamiprinzip sei Dank! (vgl. „zunächst auf Freiwilligkeit“)

tektonische Verschiebung
Wörtlich: „tectonic shift“. Ist nichts anderes als die ins Geologische übertragene Scholz‘sche „Zeitenwende“. (Und genauso subjektlos: So, wie sich die Zeiten halt ändern, so verschieben sich eben auch – völlig von selbst natürlich – die geopolitischen, ähh: geologischen Kontinentalplatten.) Verdanken wir, wie den „full-scale war“, der berühmten Rede Ursula von der Leyens vom 24. Juni 2025 auf dem „Defense Industry Forum“ im Rahmen des NATO-Gipfels in Den Haag. (vgl. „weltpolitisches Beben“)

unsere Sicherheit
Wird künftig garantiert durch Mittelstreckenraketen, die uns zur Zielscheibe russischer Präventivschläge, und (optional) durch Tauruslieferungen, die uns zur Zielscheibe russischer Vergeltungsschläge machen – und unser Leben kosten können. Und durch eine fünfprozentige BIP-Aufrüstung, die uns „unseren Wohlstand“ kosten wird! (vgl. „unsere Freiheit“, „unsere Lebensweise“)

unser Leben (so wie wir es weiterpflegen wollen)
Darum sorgt sich der – was die Kinder anderer Eltern angeht – recht „opfermutige“ Historiker Egon Flaig. Aber was wird er damit wohl gemeint haben? Was wollen wir alle „weiterpflegen“? E-Roller? Gendersprache? Mallorca? Windräder? Veganertum? Political Correctness?, Wärmepumpen? CSD-Paraden? Am Ende die von ihm höchstpersönlich eingeforderte „kulturelle Umprogrammierung“, samt „Opferbereitschaft“ und „Opfermut“? – Um das Leben selbst scheint er sich jedenfalls nicht allzu viele Gedanken zu machen! (vgl. „unsere Lebensweise“)

Verantwortung übernehmen
Klingt edel, heißt aber oft: Waffen liefern und eigene Soldaten in fremde Länder schicken. Die eigentliche Verantwortung – für das, was daraus folgt – bleibt meist nebulös.

Vermittlungsaufgabe
Die postulierte neulich Außenminister Wadephul in einem Spiegel-Interview: „Jetzt beginnt Phase zwei der Zeitenwende. Wir sollten den Bürgerinnen und Bürgern deutlich sagen, dass ohne ein großes Investitionsprogramm in unsere Verteidigung Deutschland und Europa in der Zukunft nicht sicher sein werden. Dazu gehört mehr Personal in der Bundeswehr, aber auch eine deutliche Stärkung des Zivilschutzes. Das ist eine große Vermittlungsaufgabe für uns in der Regierung.“ Mit anderen Worten: Ein klarer Fall für „strategische Kommunikation“!

Verteidigungsmarkt
Herzlichen Dank für diese Perle, lieber Herr Blenz! Wird gerne übernommen. Ich mache es mir leicht und zitiere einfach Ihre Zitate aus dem Handelsblatt, das für seinen diesjährigen hochpreisigen Management-Campus wirbt: „Sehr geehrte Damen und Herren, der Verteidigungsmarkt wandelt sich rasant. Neue sicherheitspolitische Prioritäten, milliardenschwere Investitionen und technologische Entwicklungen schaffen ein dynamisches Umfeld für Unternehmen, die bereit sind, neue Wege zu gehen. Doch der Einstieg in diese hoch regulierte Branche erfordert fundiertes Wissen, strategisches Geschick und ein klares Verständnis der Akteure, Prozesse und Rahmenbedingungen.“ Und für die Teilnehmer der „Masterclass“ gibt es noch ein paar praxisnahe Extras: „Sie erfahren, wie Unternehmen aus Branchen wie IT, Automotive oder Robotik künftig eine Rolle im sicherheitsrelevanten Umfeld spielen können sowie wie sich neue Chancen sicher und verantwortungsvoll erschließen lassen.“ – Kurz: Hier lernt man, wie man mit etwas Mut, Einsatzfreude und strategischem Geschick aus dem Töten ein todsicheres Geschäftsmodell macht!

Vielfalt
Ja, genau die. Es muss sein! In unserer Gesellschaft wie auch in der „woken und wehrhaften“ Truppe gilt nämlich der unausgesprochene Satz: „Was Vielfalt ist, bestimmen wir!“ Auf Deutsch: Unter der farbenfrohen Regenbogenfahne, die bald das Schwarz-Rot-Gold der Bundesflagge ersetzt haben wird, hat auch noch die skurrilste Inszenierung der exotischsten erotischen Neigung ihren Ehrenplatz – nur niemand, der sich für ein Schweigen der Waffen im Ukrainekrieg und Deeskalation mit Russland, immerhin eine Frage von Krieg und Frieden, nein: von Weiterleben und Untergang, einsetzt! (Ansonsten aber darf die neue diverse Volksgemeinschaft gerne so vielfältig sein, wie sie will …) (vgl. „Haltung“, „NGO“)

Wachsamkeit
„Russland zeigt sich aggressiv, Deutschland und Europa müssen in Sachen Sicherheit mehr denn je souveräner werden, der Nahostkonflikt eskaliert. Es gibt dennoch keinen Grund für Panik oder Hysterie. Aber wir haben allen Grund zur Wachsamkeit und müssen uns auf neue Gefahrenlagen einstellen.“ So der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl in einem Interview mit dem Spiegel. – „Wachsamkeit“, die kleine Schwester des Ausnahmezustands. Klingt nicht nach Angst, sondern nach Verantwortung. Kein Bündnisfall, sondern Bürgerpflicht. Kurz: Der perfekte Aggregatzustand für die neue hybride Normalität „noch nicht Krieg, aber auch nicht Frieden“! Das Beste: Wer nicht wachsam ist, gilt schnell als naiv. Oder gefährlich unpatriotisch, sprich kremlhörig … (vgl. „Bereit sein ist alles“)

Wachstumsschmerzen
„Die Nato-Planungsziele markieren für Deutschlands Streitkräfte eine ‚neue Ära‘, warnt André Wüstner, Chef des Bundeswehrverbands. Und die Zeit für die ‚Operation Aufwuchs‘ mit mehr Soldaten und modernen Waffensystemen sei knapp. Er stimmt auf ‚Wachstumsschmerzen‘ ein.“ So die Welt vom 13. Juni 2025. Offenbar geht es mit dem „Aufwuchs“, trotz der angeblich knappen Zeit, zu rasant. (vgl. „Kampfkraft“, „schnellstmöglich“)

weit in die Tiefe des russischen Raumes
„Wir brauchen Waffensysteme, die weit in die Tiefe des russischen Raumes reichen, die angreifen können: Depots, Führungseinrichtungen, Flugplätze, Flugzeuge. Auch Deutschland ist bereit, der Ukraine solche Waffensysteme zur Verfügung zu stellen.“ So Generalmajor Christian Freuding am 11. Juli im „ZDF heute journal“. (By the way: „Wir“!) – Verbalrückführung in alte Frontverläufe. Wenn ein deutscher Generalmajor im Jahr 2025 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen fordert, man (pardon: wir!) brauche Waffensysteme, die „in die Tiefe des russischen Raumes“ reichen, dann hallt durch diese Formulierung nicht nur der Jargon der Militärakademien, sondern auch das ferne Echo der Heeresgruppe Mitte. Dass diese Phrase heute wieder öffentlich und unkommentiert verwendet wird, spricht Bände über die schleichende Normalisierung militärischer, nein: der Wehrmachtsprache in der deutschen Öffentlichkeit. Und über ein historisches Gedächtnis, das offenbar nur noch selektiv funktioniert: in die Tiefe des Raumes, aber nicht des Denkens. Verwendet meist von Militärs, Verteidigungspolitikern oder medialen Kriegsrhetorikern, die strategisch denken – und semantisch entgleisen. (vgl. „Ostflanke“)

weltpolitisches Beben
Klingt nach apokalyptischer Naturgewalt, nach Katastrophenalarm im Ersten Programm. Stammt allerdings vom bereits zitierten baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl, der es offenbar liebt, internationale Politik im Erdbeben- und Endzeitmodus zu beschreiben. Im Zusammenspiel mit „tektonischer Verschiebung“ ergibt sich ein ganzes seismologisches Vokabular im Dienste geopolitischer Vernebelung: Es bebt, es rutscht, es rumpelt und kracht – aber keiner ist schuld, alles passiert irgendwie von selbst! (vgl. „Zeitenwende“)

wertegeleitete Außenpolitik
Selbstgerecht-moralisches Trommelfeuer als Ersatz für klare Interessenpolitik. Ihre Vertreter-Doppelpunkt-innen gehen für die Menschenrechte auch mal gern über Leichen!

Whataboutism
Totschlagformel, um – ohne argumentieren zu müssen – unangenehme Fragen bereits im Vorfeld zu diskreditieren. Genauer: zu verhindern!

whatever it takes
„Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: Whatever it takes“, tönte am 5. März 2025 der just zum Größten Schuldenkanzler aller Zeiten in spe (darf man eigentlich auch „Gröschaz“ schreiben?) mutierte Friedrich Merz nach seiner 180-Grad-Wende in Sachen Staatsverschuldung vollmundig ins Mikrophon. Und ließ knapp zwei Wochen später dieses De-facto-‚Ermächtigungsgesetz in Sachen Aufrüstung‘ von einem bereits abgewählten Bundestag noch in allerletzter Minute durchpeitschen. „Whatever it takes“: One-Way-Ticket in Richtung Staatsbankrott, Inflation und Totalkahlschlag der Sozialsysteme. Und Lebensversicherung für die todbringende Rüstungsindustrie. (vgl. „as long as it takes“)

Wir sind hellwach, damit du gut schläfst
Flotter Werbe-Chiasmus der Bundeswehr-Imagekampagne „Bereit sein ist alles“ des Verbands der Reservisten der deutschen Bundeswehr e.V. (vgl. „Die stärkste Friedensbewegung Deutschlands“)

zivilmilitärische Interaktion
Im Sinne der Kriegstüchtigkeit anzustrebendes gesellschaftspolitisches Embedding der Bundeswehr auf allen staatlichen Ebenen und, wenn es geht, natürlich auch in der berühmt-berüchtigten „Zivilgesellschaft“. Schließlich sind ja laut NATO-Generalsekretär Mark Rutte „Heimatfront und Frontlinie jetzt ein und dasselbe“. (vgl. „gesamtstaatliche Operationalisierung“, „Grünbuch“, „NGO“, „Zivil-Militärische Zusammenarbeit“)

zunächst auf Freiwilligkeit
„Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ So heißt es bezogen auf eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht im Abschnitt „Verteidigungspolitik“ des black-roten Koalitionsvertrages. „Zunächst“. Alles klar? So funktioniert das Valium der Salamitaktik … – Heißt im Klartext: „Noch fragen wir – später befehlen wir!“ (In der Ukraine bereits tägliche Realität. Als Sklavenjagd auf offener Straße!)

(wird fortgesetzt)

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Alle bisher erschienenen Folgen der Serie „Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit“ von Leo Ensel können Sie in dieser Übersicht finden und diese auch einzeln darüber aufrufen.