Vergangenes Jahr nahm ich mich wieder mal des Mottos von Kurt Tucholsky an, dass das Reisen die Sehnsucht nach dem Leben sei. Der Heimkehrende hat danach einen Koffer voller Eindrücke, so wie eine Vielzahl bei mir nach einem Aufenthalt in Wien. Auch das städtische Wien Museum besuchte ich. Die Dauerausstellung erwies sich als überaus gelungen – mit einer Ausnahme: Es klaffte eine Lücke in der Geschichtenerzählung, die irritierte. Die Zeitspanne Ende des Zweiten Weltkrieges kam nicht zur Sprache, eine Phase, die Wien, Österreich, Europa prägte. Bis heute. Ich schrieb für die NachDenkSeiten einen Artikel darüber. Nun, nach einem Dreivierteljahr, kehrte ich nach Wien zurück, aus gutem Grund: Das Museum zeigt eine Sonderausstellung, die diese Lücke schließt und durchaus einen Mut machenden Ton anschlägt, vor allem gegenüber den einstigen russischen Alliierten. Ein Beitrag von Frank Blenz.
Die Dauerausstellung: Mit einem Mal ist der Krieg vorbei, von 1945 ist aber keine Rede
Beim ersten Besuch des Wien Museums beeindruckte mich die Dauerausstellung. Doch stand ich am Ende sprachlos im Raum der Vitrinen über die Judenverfolgung, über den Fanatismus der Wiener zu Hitler, als plötzlich nur noch von Wiederaufbau die Rede war und vom Aufschwung bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wo aber war der Zweite Weltkrieg, wo war der Raum über die Angriffe auf Wien, über die heftigen Kämpfe um die Stadt, über die Befreiung durch die sowjetische Rote Armee und durch die anderen Alliierten im Jahr 1945? Ich empfand das Fehlen als „Lücke“, die irgendwie typisch zu dieser jetzigen Zeit passt. Nicht die ganze Geschichte erzählen, schien mir das gegenwärtige Motto zu sein. Womöglich würde der „Russe“ ja gut wegkommen, dachte ich auch, also Schweigen. Ich vermisste Informationen über diese Zeit auch deswegen sehr nah und direkt, weil ich vor dem Museumsbesuch am Heldendenkmal der Roten Armee vorbeigelaufen war. Das Monument, auch Russendenkmal genannt, wurde 1945 zur Erinnerung an rund 17.000 gefallene Soldaten der Roten Armee bei der Schlacht um Wien errichtet. Darüber würde ich sicher im Wien Museum mehr erfahren, dachte ich noch.
Ein musealer Lückenschluss: Sonderausstellung „Kontrollierte Freiheit – Die Alliierten in Wien“
Das städtische Wien Museum besuchte ich nun diesen Sommer zum zweiten Mal. Praktischerweise verband ich eine Radtour durch Tschechien mit einer Eisenbahnfahrt in die österreichische Hauptstadt, um endlich meinem Ansinnen nachzukommen und nachzuschauen, ob und wie die Wiener Museumsmenschen ihre Ankündigung von 2024 umgesetzt hatten, eine Sonderausstellung über den Zeitabschnitt „Alliierte in Wien“ 1945 und die folgenden Jahre auf die Beine zu stellen und das beschriebene Schweigen zu beenden. Zur Information hier der Wortlaut in der Pressemitteilung:
Nach der Befreiung Wiens Anfang April 1945 prägten unvorstellbare Zerstörungen, extreme Wohnungsnot, Hunger und Kälte das Leben der Menschen. Trotzdem gab es sofort wieder Kultur. Schon am 27. April wurde der Betrieb auf Befehl der sowjetischen Kulturoffiziere wiederaufgenommen. Wenig später wurden auch die anderen Alliierten – Frankreich, Großbritannien und die USA – kulturell aktiv. Ab September erfolgte damit neben der politischen auch eine kulturelle Neuorientierung. Nie zuvor war Wien in so kurzer Zeit mit so intensiven kulturellen Einflüssen aus anderen Ländern konfrontiert. Das primäre Ziel der Alliierten war jedoch nicht die Internationalisierung der Wiener Kulturlandschaft. Die zahlreichen Kulturaktivitäten sollten, neben dem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau, die emotionale Basis für das Entstehen eines Österreich-Bewusstseins bewirken – also die Ausbildung eines eigenen, von Deutschland unabhängigen Selbstverständnis (sic).
Die Ausstellung „Kontrollierte Freiheit. Die Alliierten in Wien“ beleuchtet den prägenden Einfluss des vielfältigen kulturellen Angebots – von Ausstellungen, Büchern, Filmen, Radiosendungen über Sprech- und Musiktheater bis hin zu Zeitungen. Sie dokumentiert damit einen bis heute nachwirkenden Erfolg: die Schaffung einer demokratischen österreichischen Identität.
(Quelle: Wien Museum)
Mit der umfangreichen Sonderausstellung „Kontrollierte Freiheit. Die Alliierten in Wien“ gelang dem Wien Museum meinem Empfinden nach das Schließen einer historischen Lücke durch das Weglassen wichtiger Informationen, die ich als Besucher der Dauerausstellung im vergangenen Jahr vergeblich suchte. Ich fragte damals Museumsangestellte nach dem Warum und erntete lediglich ein Schulterzucken. Andere Besucher bestätigten mir seinerzeit auch ihren gleichen Eindruck und ihr Unverständnis. Die Befreiung der Stadt, die Not der Menschen, das nach vorn gerichtete Wirken der Alliierten, voran die Rote Armee der Sowjetunion und später die weiteren Alliierten Frankreich, Großbritannien und USA – all das fehlte seinerzeit in der Dauerausstellung.
Sonderausstellung offenbart das primäre Ziel der Alliierten in Wien
Wie in der Pressemitteilung geschrieben, befasst sich die jetzige Sonderausstellung mit dem primären Ziel der Alliierten in Wien und Österreich, von dem ich beim Rundgang durch die Räume in Form offensiven Handelns der Akteure erfuhr, auf dass das vergangene „Heim ins Reich Österreich“ beendet bleibt und nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg zugelassen würde.
Das primäre Ziel der Alliierten war jedoch nicht die Internationalisierung der Wiener Kulturlandschaft. Die zahlreichen Kulturaktivitäten sollten, neben dem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau, die emotionale Basis für das Entstehen eines Österreich-Bewusstseins bewirken – also die Ausbildung eines eigenen, von Deutschland unabhängigen Selbstverständnis. (Wien Museum)
Die Alliierten erwiesen sich als Befreier, als Helfer, als Freund und als Mahner
Der Gang durch die Exposition ließ einen den schweren Neubeginn in Wien nachempfinden – und das ehrliche Bemühen der Militärs für die Wiener. Schon am 1. Mai 1945, die Rote Armee hatte zuvor Wien komplett eingenommen, standen Schauspieler des Wiener Burgtheaters mit Unterstützung der sowjetischen Militärführung wieder auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Kinos nahmen ihren Betrieb wieder auf, sofern es die Stromversorgung zuließ. Theateraufführungen für Kinder und Weihnachtsfeiern im Dezember gehörten ebenfalls zu den Mühen für die Bevölkerung.
Noch im April wurde Theodor Körner (Sozialdemokrat) als Wiener Bürgermeister eingesetzt, und die erste provisorische Regierung Österreichs nahm unter Karl Renner die Arbeit auf.
Wien kam im Herbst 1945 ab September unter die Kontrolle der vier Alliierten, der Sowjetunion folgten Frankreich, Großbritannien und die USA. Die vier Nationen sorgten sofort für eine zügige Normalisierung des Lebens, wenngleich unter teils schwierigen Bedingungen.
Ein Foto beeindruckte: 1946 inmitten des zerstörten Bühnenraums der Wiener Staatsoper ist der sowjetische Kulturoffizier Miron Lewitas mit weiteren Akteuren bei der Ansicht von Bauplänen zu sehen. Es sollte noch neun Jahre dauern, bis die Oper am 5. November 1955 wieder eröffnet wurde.
Die vier Alliierten organisierten nach und nach die Versorgung der Wiener Bevölkerung, Nahrungsmittel, Seife, Zigaretten, Kleidung wurden nach einem Bezugssystem verteilt. Die Not linderte dies nach und nach, doch erst 1953 konnte dieses System aufgehoben werden, beschreibt die Exposition. Brücken und Straßen wurden von sowjetischen Truppen repariert.
„Niemals vergessen“ lautete der Titel einer ersten politischen Ausstellung in Wien 1945, die sich den Wurzeln, der Propaganda und den Auswirkungen der nationalsozialistischen Tyrannei widmete. Diese wurde im Rahmen der von den Alliierten angeordneten „Entnazifizierung“ binnen 100 Tagen von 260.000 Wienern besucht, darunter auch viele ehemalige NSDAP-Mitglieder.
Gewalt gegen Frauen. Auch das Kapitel Plünderungen und Straftaten gegen die Zivilbevölkerung behandelte die Exposition. Sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen wurden 1945 zahlreich verübt. Täter waren sowjetische Soldaten, später ebenso amerikanische, britische und französische, so die Aufzeichnungen. Die erfolgten Anzeigen der betroffenen Frauen wurden indes von behördlicher Seite „kaum verfolgt“.
Nach zehn Jahren verließen die Alliierten Wien und Österreich – zu wichtigen Bedingungen
Wie ging die Geschichte Wiens ab 1955 weiter, fragte ich mich und las auf einer Seite des österreichischen Parlaments nach. Anders als Deutschland wurde Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht geteilt, die Verantwortlichen der vier Alliierten und Österreichs einigten 1955 sich auf eine permanente Neutralität. Dieser Status wurde im Verfassungsgesetz des gleichen Jahres festgelegt, und dieser war Bedingung für den Abzug der Alliierten einschließlich der Sowjetunion. Die Besatzungsmächte verließen schließlich das Land nach und nach bis zum 25. Oktober 1955.
Im Neutralitätsgesetz steht:
- Österreich hat die immerwährende Neutralität freiwillig erklärt und wird sie aufrechterhalten.
- Österreich wird keinen militärischen Bündnissen beitreten.
- Österreich wird nicht zulassen, dass fremde Staaten militärische Stützpunkte auf seinem Gebiet errichten.
(Quelle: Österreichisches Parlament)
Und heute, im Jahr 2025? – Reaktionäre österreichische Politiker stellen Neutralität infrage
Nach dem Museumsbesuch landete ich wieder in der Gegenwart und erlebte, dass mit dem Begriff „russischer Angriffskrieg in der Ukraine“ so ziemlich jede militante Aktivität begründet wird, aktuell eben in Österreich. Dort bringen reaktionäre Politiker (und Medien) wie die derzeitige Außenministerin Beate Meinl-Reisinger (NEOS) die Aufgabe der Neutralität Österreichs ins Spiel, worthülsenartig in einer „Adaptierung der österreichischen Sicherheitsstrategie“ verpackt, auf dass ein NATO-Beitritt in Betracht gezogen werde. Die Antwort aus Russland erfolgte prompt, Ex-Präsident Dmitri Medwedew warnte Österreich, die Neutralität aufzugeben und bestehende Verträge (siehe Vertrag von 1955!) zu missachten. Andernfalls würde die Alpenrepublik in die bestehenden russischen Einsatzpläne eingearbeitet.
Außer Schnappatmung und „entschiedenstes Zurückweisen“ von tatsächlich berechtigten Forderungen Russlands – der Nachfolge-Nation der Sowjetunion, einer der vier einstigen Alliierten, die Österreich befreite und aufbauen half – fällt Meinl-Reisinger und Gefolge nicht ein. Zumindest kam Gegenwind auf, so hat FPÖ-Chef Herbert Kickl der Außenministerin deutlich widersprochen:
Als „brandgefährlichen Anschlag auf die österreichische Neutralität und damit die Sicherheit der österreichischen Bevölkerung“ bezeichnete dagegen FPÖ-Chef Herbert Kickl die Aussagen Meinl-Reisingers in einer Aussendung.
(Quelle: ORF)
Eine Forderung zum Abschluss: Von der Sonder- in die Dauerausstellung
Die Sonderausstellung „Kontrollierte Freiheit. Die Alliierten in Wien“ endet am 7. September 2025. Deren gewichtiger Inhalt gehört meiner Meinung nach unbedingt in die Dauerausstellung des städtischen Wien Museums, wenn nicht in der Gesamtheit, so doch mit einer aussagekräftigen Zusammenfassung auf einer Fläche eines halben Ausstellungsraums. Platz dafür wäre, das kann ich behaupten, besuchte ich auch nochmals die Dauerausstellung, in der nach wie vor die Zeit um 1945 fehlt. Angesichts der Geschichtsvergessenheit mancher österreichischen Bürger, so wie zum Beispiel der Außenministerin, sind das Aufmerksam-Machen, das „Nie wieder“-Sagen, hochaktueller denn je.
An den Abzug der Befreier – nach gemeinsam beschlossener Vereinbarung, Österreich für immer neutral zu erklären – zu erinnern, ist enorm wichtig. Dies kommt einem wirklichen Friedensdienst, einem fortwährenden Akt der Deeskalation und der souveränen, neutralen Vermittlungsfähigkeit gleich.
Titelbild: © Wien Museum