Heranwachsenden in Deutschland stehen Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket zu. Aber nur einer von fünf Berechtigten löst seine Ansprüche ein. Schuld sind bürokratische Hindernisse, Unkenntnis, Scham bei den Betroffenen und über allem der Kürzungseifer der Politik. So kam es, dass ein Gesetz, das eigentlich „Besserung“ bringen sollte, das Gegenteil bewirkt hat: Die Ausgrenzung und Benachteiligung der Ärmsten haben noch zugenommen. Läuft das auch unter „Sozialbetrug“? Von Ralf Wurzbacher.
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Ein Klassenkamerad lädt Lukas zum Geburtstag ein. Aber dessen Mutter kann sich die Anschaffung eines Geschenks nicht leisten. Dafür reicht das Bürgergeld nicht. Also bleibt Lukas zu Hause. Er selbst würde seinen Geburtstag am liebsten im Trampolinpark feiern. Gar nicht dran zu denken. Es fühlt sich schlimm an, nicht dazugehören zu können, ausgeschlossen zu sein, vor allem für Kinder. In Deutschland betrifft dies Millionen von ihnen. Kino, Zoo, Eisbahn, Indoorspielplatz: alles in Sichtweite, aber außer Reichweite, kein Hinkommen, immer nur Hinwünschen – und Frustration. Gesellschaft, Gemeinschaft, Verbundenheit sind konstituierend für die Entwicklung Heranwachsender. Aber viele sind einfach nicht mit dabei.
Dabei sollte es längst ganz anders sein. Seit 2011 gibt es in Deutschland das Bildungs- und Teilhabepaket, kurz BuT. Dessen erklärtes Ziel war und ist es bis heute, die soziale Teilhabe benachteiligter Kinder und Jugendlicher zu fördern und mehr Chancengerechtigkeit herzustellen. Das Paket umfasst eine Reihe an Maßnahmen, darunter einen Zuschuss zum Schulbedarf, die Kostenerstattung für Frühstück und Mittagessen in Schulen und Tageseinrichtungen oder die Finanzierung von Klassenfahrten und Ausflügen mit der Kita. Dazu kommt mit der sogenannten Teilhabeleistung ein Instrument, das speziell auf Aktivitäten im privaten Umfeld, also außerhalb von Kindergarten und Schule zielt, zum Beispiel die Teilnahme am Sport- und Vereinsleben, an Freizeiten, soziokulturellen Veranstaltungen und Bildungsangeboten.
Angebot läuft „ins Leere“
Dafür werden nach anfänglich zehn Euro inzwischen 15 Euro monatlich bereitgestellt. Bei Bedarf ließe sich damit auch ein Mitbringsel besorgen, damit der Sohnemann beim Kindergeburtstag nicht mit leeren Händen dasteht. Allerdings hat die Sache einen großen Haken: An die Mittel heranzukommen, ist in der Regel ein so schwieriges Unterfangen, dass es die wenigsten tatsächlich auf sich nehmen oder auch nur wissen, welche Ansprüche sie haben und wie diese umzusetzen sind. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat die Misere in einer am Dienstag veröffentlichten Studie beziffert. Tatsächlich erreicht die Teilhabeleistung nicht einmal 20 Prozent der anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen in Haushalten mit Bürgergeldbezug. Für vier von fünf laufe das Angebot „ins Leere“, womit das Gesetz auch 14 Jahre nach seiner Einführung seine „Misserfolgsgeschichte“ fortsetze, erklärte Hauptgeschäftsführer Joachim Rock in einer Medienmitteilung.
Die Expertise „Teilhabequoten im Fokus“ beruht auf Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) aus dem Jahr 2024. Sie betrachtet den Personenkreis im Wirkungsbereich des Sozialgesetzbuches II (Bürgergeld) und dabei auch nur die Situation der Sechs- bis unter 15-Jährigen. Von ihnen blieben demnach 80,2 Prozent unversorgt, 19,8 Prozent erhielten entsprechende Leistungen. Das könnte die allgemeine Lage sogar „beschönigen“. Ansprüche hat nämlich auch der Nachwuchs in Elternhäusern, die Sozialhilfe, Kinderzuschlag oder Asylleistungen beziehen, und dies bis zum 18. Lebensjahr, im Falle einer laufenden Ausbildung bis zum 25. Lebensjahr. Studienautorin Greta Schabram glaubt, dass die Leistungen in diesen Gruppen noch seltener angerufen werden. „Insbesondere bei Migranten mit mangelnden Deutschkenntnissen dürfte eine breite Unkenntnis bestehen, dass sie überhaupt entsprechende Ansprüche besitzen“, sagte sie den NachDenkSeiten.
Papierkrieg für 15 Euro
Der Eindruck drängt sich auf, dass das Vorenthalten von Leistungen einem System folgt, also politisch gewollt und ganz nach dem Gusto professioneller Sozialkahlschläger ist. Anhand der BA-Zahlen lässt sich der Zeitverlauf aufzeigen. Nur einmal seit Bestehen des Gesetzes, 2019, erhielten mit 20,3 Prozent knapp mehr als ein Fünftel der Berechtigten Zuwendungen. Mit Corona rutschte die Quote zwischenzeitlich auf 16,6 Prozent ab und pendelte sich danach wieder bei einem Wert um den Dreh der davor schon gängigen knapp 20 Prozent ein. Eigentlich sollte das vor sechs Jahren in Kraft getretene sogenannte Starke-Familien-Gesetz Abhilfe schaffen und durch „Erleichterungen“ und „mehr Flexibilität“ eine höhere Inanspruchnahme herbeiführen. Zudem wurde die Teilhabeleistung von zehn auf 15 Euro pro Monat angehoben. Trotzdem blieben „nennenswerte Effekte“ nach den Befunden der Paritätischen Forschungsstelle aus, und die „Bestmarke“ von 2019 wurde seither stets unterboten.
Woran liegt das? Zuständig für die Bewilligung der Leistungen sind in der Regel die Landkreise und kreisfreien Städte. Die aber setzen nach wie vor in der großen Mehrheit auf „aufwendige“ Einzelfallbearbeitungen mit „entsprechender Nachweisführung“, wie es in der Untersuchung heißt. Alternativ ließen sich auch Karten oder Gutscheine im Umfang der Geldleistung ausgeben, aber nur die wenigsten Stellen praktizieren das. In den meisten Fällen müsse jeder Kino- oder Theaterbesuch gesondert beantragt werden, bemerkte Schabram. Alles in allem umfasse das Prozedere „sechs Seiten Papierkram“, noch dazu in deutscher Sprache. „Das ist doch klar, dass das die Leute abschreckt. Ich persönlich wollte mir das auch nicht antun.“
Hungern für den Nachwuchs
Die Sozialforscherin will den Entscheidern keine bösen Absichten unterstellen. Vielmehr herrsche ein verbreitetes Misstrauen, Eltern könnten ihren Kindern Zustehendes versagen, um das Geld in Alkohol und Zigaretten zu stecken. „Deshalb dieser Kontrollwahn. Aber das sind haltlose Vorurteile, befeuert durch einschlägige Kampagnen wie der aktuellen gegen angeblich großflächigen Sozialbetrug“, so Schabram. „Dabei tun 99,9 Prozent der Eltern alles dafür, dass es ihre Kinder besser haben.“ Im Juni hatte der Verein Sanktionsfrei die Ergebnisse einer Umfrage unter Bürgergeld-Empfängern präsentiert. Danach verzichten über die Hälfte der Eltern regelmäßig auf Essen, damit ihre Kinder satt werden.
Bezeichnend ist die Entstehungsgeschichte des Bildungs- und Teilhabepakets. Die damals regierende schwarz-gelbe Koalition rückte damit nicht aus besserer Einsicht heraus, sondern auf juristischen Druck. Per Urteil vom 9. Februar 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht die Bemessung der Regelleistungen nach SGB II als unvereinbar mit dem Grundgesetz eingestuft. Unter anderem verlangten die Richter, die Unterstützung auch von Heranwachsenden an den tatsächlichen Erfordernissen zu orientieren. Bis dahin hatte die Politik sie wie „halbe Portionen“ behandelt und ihre Zuwendungen pauschal kleinkalkuliert, bei laut Entscheid „völligem Ermittlungsausfall im Hinblick auf den kinderspezifischen Bedarf“. Damit drohe diesen der „Ausschluss von Lebenschancen“, stellte das Gericht fest.
Kürzen und Täuschen
Ein Jahr später trat das BuT als Bündel aus schon bestehenden und neuen Maßnahmen in Kraft, wobei diese bis heute überwiegend als Sachleistungen bewilligt werden. Union und FDP hätten auch auf Geldleistungen als fixen Bestandteil des Regelsatzes bauen können, sahen aber davon ab, um angeblich sicherzustellen, dass die Mittel „bei den Kindern“ ankommen. Das taten sie in der Folge aber gerade nicht, denn wäre es so gekommen, hätte das erheblich mehr Geld gekostet. Nimmt man die Zahlen des Paritätischen, müsste der Bund allein viermal mehr für die Teilhabeleistung aufbringen als bisher.
Wie es um die anderen Elemente des BuT steht, ist nicht ermittelt beziehungsweise interessiert die Verantwortlichen nicht. Dazu werden schlicht keine belastbaren Daten erhoben. Allerdings ahnt man, dass auch daran gespart wird. Aber die Dinge sind noch perfider. Mit Einführung des BuT wurden bis dahin bereits vorhandene Leistungen für Kinder und Jugendliche aus dem Regelsatz herausgerechnet, insbesondere Schulbedarf, Mittagsverpflegung, Schülerbeförderung sowie der Anteil für soziale Teilhabe. Was es also davor noch automatisch gab, bekommt man heute nur noch mit Behördenmarathon oder eben gar nicht mehr. Das könnte dazu geführt haben, dass sozial bedürftigen Kindern und Jugendlichen heute noch weniger Geld zugutekommt als zu Zeiten vor dem Bildungs- und Teilhabepaket. „Man kann durchaus sagen, dass es für die meisten Menschen hier zu einer Kürzung kam“, bestätigte auch Schabram. Aber wie gesagt: Nichts Genaues weiß man, weil man es nicht wissen will.
Nichts mit Bürokratieabbau
„Es ist absurd: In allen Bereichen soll es weniger Bürokratie geben, aber im Umgang mit den Ärmsten unterhält man einen riesigen Verwaltungsapparat, führt irre Papierkriege und dreht jeden Euro dreimal um“, beklagte die Wissenschaftlerin. „Das ist nicht nur eine Zumutung für die Betroffenen, sondern auch extrem teuer.“ Die Politik könnte es sich leichter machen, indem die Leistungen an alle, die Ansprüche auf sie haben, pauschal ausgezahlt werden. So schlägt es der Paritätische vor. Außerdem plädiert er dafür, die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe für junge Menschen durch Rechtsansprüche auszubauen und abzusichern. „In einem derart reichen Land wie Deutschland ist es ein Ärgernis, wenn Kinder nicht zum Fußball- oder Ballettunterricht gehen können“, monierte Verbandschef Rock. „Das muss dringend geändert werden, zumal jegliche Bemühungen hin zu einer Kindergrundsicherung eingestellt scheinen.”
Man erinnert sich: Es war einmal das „zentrale sozialpolitische Projekt“ der abgewählten Ampelregierung, sämtliche Familienleistungen – etwa Kindergeld, Kinderzuschlag, Kinderfreibeträge, Bildungs- und Teilhabeangebote – zusammenzufassen und aus einer Hand zu offerieren. Im Kern ging es darum, alle Bedürftigen per Automatismus zur Einlösung ihrer Ansprüche zu bringen, während heutzutage viele die ihnen zustehenden Hilfen aus Unwissenheit oder Scham nicht abrufen. Das aber hätte allerhand gekostet, Ex-Familienministerin Lisa Paus von der Grünen-Partei hatte den Mehraufwand seinerzeit auf zwölf Milliarden Euro jährlich taxiert. Aus den schönen Plänen wurde nichts, weil die FDP gar nicht, SPD und Grüne bestenfalls halbherzig mitmachen wollten.
Besser wehrhaft als satt
Mit dem Regierungswechsel wurde das Vorhaben dann komplett abgeräumt, wobei „natürlich“ auch Schwarz-Rot der Kinderarmut begegnen will. Man werde den Teilhabebetrag auf 20 Euro erhöhen und prüfe im Rahmen einer Machbarkeitsstudie die Einführung einer Kinderkarte für alle kindergeldberechtigten Kinder, heißt es dazu im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Über dem Gesamtwerk prangt aber auch der Satz, „alle Maßnahmen (…) stehen unter Finanzierungsvorbehalt“. Die Kindergrundsicherung lässt grüßen … Und während man vor wenigen Jahren noch den Eindruck haben konnte, den Interessen sozial benachteiligter Menschen könnte endlich die nötige Beachtung zuteilwerden, sehen sich die Leidtragenden heute einmal mehr Verleumdungen und Anfeindungen ausgesetzt.
So schnell ändert sich der Zeitgeist. Der verlangt heute „Kriegstüchtigkeit“ und nicht mehr, dass alle Kinder in Deutschland tüchtig essen können. Der Bundeskanzler meint, „wir leben über unsere Verhältnisse“. Klein Lukas lebt unter aller Würde und mit ihm Millionen andere. Geschenkt …
Titelbild: Ralf Geithe/shutterstock.com