Die Westgrenze der Ukraine – sind Grenzverschiebungen ausgeschlossen?

Die Westgrenze der Ukraine – sind Grenzverschiebungen ausgeschlossen?

Die Westgrenze der Ukraine – sind Grenzverschiebungen ausgeschlossen?

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Schaut man sich die Aussagen aus Politik und Medien an, so stehen ausschließlich die territorialen Motive des russischen Krieges gegen die Ukraine im Raum. Russland annektiert ukrainisches Staatsgebiet, was ja tatsächlich auch zutreffend ist. Und nun kommt ein zweifaches „Aber“. Von Alexander Neu.

Erstens war und ist dieses Motiv nicht das primäre Motiv gewesen. Die höchste Priorität waren und sind die russischen Sicherheitsinteressen, insbesondere vor dem Hintergrund der Ausdehnung der NATO bis an die russischen Grenzen. Man mag im Westen diese Furcht für unbegründet erachten oder sie als von der russischen Seite vorgeschoben betrachten, um möglicherweise andere Ziele zu verbergen. Der Punkt ist: Die russischen Sicherheitsinteressen werden nicht im Westen definiert, sondern in Russland. Das, nur das kann und muss der Ausgangspunkt für die Bewertung sein und nicht, was wir im Westen glauben wollen. Die sicherheitspolitischen Interessen werden in zahlreichen Reden und Beiträgen russischer Politiker und Wissenschaftler an erster Stelle gesetzt.

Das war übrigens auch in den 1920er- und 30er-Jahren so: Stalins Sorge war die territoriale Integrität und Sicherheit der jungen Sowjetunion. Diese Sorge wog in seinen Augen schwerer als der Export der kommunistischen Revolution. Denn kurz zuvor waren bereits 14 Staaten, darunter auch die USA, in Sowjetrussland eingefallen, um zu versuchen, die Oktoberrevolution wieder umzukehren. Stalins Aufmerksamkeit galt dem sogenannten „anti-sowjetischen Staatengürtel“ an der West- und Südwestgrenze der UdSSR. Der Gründung des Warschauer Paktes, des militärischen Bündnisses der sozialistischen Staaten Osteuropas unter sowjetischer Führung, lag nie ausschließlich nur ein ideologisches Motiv, sondern auch ein sicherheits- und geopolitisches Motiv zu Grunde: aus dem „anti-sowjetischen“ einen „pro-sowjetischen Staatengürtel“ zu machen bzw. mit Blick auf Finnland zumindest einen neutralen Nachbarn zu haben.

Und das zweite „Aber“: Warum redet niemand über die möglichen territorialen Ambitionen der westlichen Nachbarn der Ukraine, insbesondere Polen?

Grenzen in Bewegung

Staaten sind gesellschaftliche Produkte, Sie bilden den institutionellen Rahmen für die Politik, deren Aufgabe es ist, die Gesellschaft nach innen und außen zu organisieren. Selten sind Staaten mono-ethnisch und daher auch immer wieder der Gefahr von (gewaltsamen) Grenzveränderungen ausgesetzt. Es dürfte keinen Staat auf der Welt geben, dessen Grenzen vom Gründungsdatum an unverändert geblieben sind – auch und besonders nicht in Europa und verstärkt nicht in Osteuropa. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Eine der wesentlichsten Ursachen sind die imperialen Politiken europäischer Großmächte – hier insbesondere das Deutsche Reich, das Habsburger Reich, das Russische Reich und auch das Osmanische Reich.

Die Ausdehnungen dieser Reiche führten zu direkten gemeinsamen Grenzen und damit einhergehenden Spannungen in Osteuropa. Kleinere Nationen verloren ihre Staatlichkeit, wurden auf die Reiche aufgeteilt und suchten ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend ihre nationale Identität (wieder) in einem selbstständigen Staat, wie beispielsweise Polen und Serbien.

Grenzverschiebungen im 20. Jahrhundert in Osteuropa

Die Zeit der europäischen Dynastien in Mittel- und Osteuropa endete in den 1910er-Jahren mit den beiden Balkankriegen und dem anschließenden Ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich wurde bis auf den kleinen Zipfel Adrianopel in Südosteuropa auf den asiatischen Kontinent zurückgedrängt. Das deutsche Kaiserreich implodierte, der Kaiser exilierte und die Weimarer Republik wurde ausgerufen. Das russische Zarenreich fand 1917 sein blutiges Ende mit der Oktoberrevolution. Die Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zerbrach am Ende des Ersten Weltkrieges. Ungarn und Österreich gingen getrennte Wege. Die von der Doppelmonarchie annektierten Gebiete außerhalb der neuen Staatsgrenzen Ungarns und Österreichs wurden Bestandteile neuer Staaten wie beispielsweise Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die eine Gesamtstaatlichkeit mit Serbien (das dann künftige Jugoslawien) eingingen. Oder Galizien mit der Stadt Lemberg/Lwiw im Zentrum, das der Ukraine und somit der künftigen Sowjetunion zufiel.

Die damaligen Alliierten des Ersten Weltkrieges orientierten sich bei den Nachkriegs-Grenzziehungen auch an der ethnischen Zugehörigkeit. So wurde die bei uns kaum bekannte „Curzon-Linie“ gezogen, benannt nach dem britischen Außenminister Lord Curzon, die die neue Staatsgrenze zwischen der jungen Sowjetunion und dem wiedererstandenen Polen festlegen sollte. Östlich dieser Linie/Grenze lebten überwiegend Ostslawen, also Weißrussen, Ukrainer und Russen – westlich der Linie die westslawischen Polen. Allerdings zeigte das neue Polen, welches erst 1918 seine Staatlichkeit wiedererlangte, ungeachtet der ethnischen Linie einen gewissen Appetit, das polnische Staatsgebiet auch jenseits, mithin östlicherseits zu erobern. Im polnisch-sowjetrussischen Krieg 1920 eroberte Polen schließlich große Gebiete: Die Eroberungen erstreckten sich in der West-Ost-Ausrichtung bis zu 250 Kilometer östlich der Curzon-Linie tief in die Ukraine und nach Weißrussland und in der Nord-Süd-Ausrichtung von Lettland bis Rumänien. Die eroberten Gebiete schlug Polen im „Friedensvertrag von Riga“ 1921 dem eigenen Staatsgebiet zu – das ist wichtig, um den Unterschied zwischen Okkupation (Besetzung) und Annexion (staatliche Einverleibung) zu verstehen. Allerdings traf diese staatsterritoriale Ausdehnung in die ostslawischen Siedlungsgebiete nicht unbedingt auf die Gegenliebe der mehrheitlichen Ukrainer und Weißrussen – die nun ost-polnische Region blieb somit eine für Warschau wenig berechenbare Region.

Fast 20 Jahre später sollte eine Grenzrevision zwischen Polen und der Sowjetunion anstehen: Der Hitler-Stalin-Pakt!

Hitler-Stalin-Pakt

Der landläufig so bezeichnete Hitler-Stalin-Pakt, der im August 1939, also wenige Tage vor dem Überfall des faschistischen Deutschlands auf Polen, unterzeichnet wurde, wird offiziell „Deutsch-Sowjetischer Nichtangriffsvertrag“ genannt. Ihm beigelegt wurde das „geheime Zusatzprotokoll“, das die territoriale Aufteilung und damit Zerschlagung Polens durch zwei Diktatoren regelte – so weit die dem Otto-Normalverbraucher bekannte Geschichtsschreibung. Tatsächlich okkupierte das Deutsche Reich große Teile Polens in Absprache mit dem sowjetischen Diktator Stalin. Richtig ist auch, dass Stalin gut zwei Wochen nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen am 17. September selbst von Osten her die Rote Armee einmarschieren ließ und Gebiete okkupierte. Nur, um welche Gebiete ging es, die die Sowjetunion okkupierte und anschließend annektierte? Tatsächlich handelt es sich – mit Ausnahme des Wilna-Gebietes – um die ostslawischen, also weißrussischen und ukrainischen Gebiete, die Polen 1920/21 im Krieg gegen Sowjetrussland und trotz der von den Alliierten vorgeschlagenen internationalen Grenzline (Curzon-Linie) erobert und seinem Staatsgebiet zugeschlagen hatte. Auf der Konferenz von Teheran 1943 konnte Stalin dann diese zurückeroberten Gebiete östlich der Curzon-Linie – auch mit Unterstützung der dortigen ostslawischen Bevölkerung – als neue sowjetische Westgrenze durchsetzen. Im Potsdamer Abkommen 1945 wurde die neue Westgrenze abermals bestätigt. Polen selbst wurde nach der deutschen Niederlage geographisch nach Westen „verschoben“. Die verlorenen Ostgebiete Polens, also die Gebiete, die an die Sowjetunion (zurück)gingen, wurden durch Territorialgewinne im Westen (Deutschland verlor Ostpreußen, den Rest Westpreußens, Posen, Pommern und Schlesien an Polen) mehr oder minder „ausgeglichen“.

Was sind Polens Interessen?

Wie sehr und wie lange politische Entscheidungen, Koalitionen, historisch gewachsene Animositäten und Grenzziehungen, insbesondere unter Zwang, in der Geschichte nachwirken, zeigt sich bis heute: die derzeitige Eroberung russischsprachiger Gebiete im Osten- und Süden der Ukraine als Revision der damals innersowjetischen Grenzverschiebungen unter Lenin und Stalin. Und Polen?

Mir sind keine offiziellen polnischen Erklärungen bekannt, die auf eine Revision der polnisch-ukrainischen Grenzen zu Gunsten Polens abzielen könnten. Auch hat Polen jüngst konsequent die Entsendung polnischer Militärkontingente in die Ukraine, wie der französische Präsident Macron und der britische Premierminister Starmer es vorantreiben, dezidiert abgelehnt. Aber die Dislozierung polnischer Truppen wäre eine Voraussetzung für ein potenzielle Grenzverschiebung. Auf der anderen Seite argumentieren russische Offizielle bis hin zu Präsident Putin selbst, Polen wolle ukrainisches Territorium annektieren. Ob Putin und sein Geheimdienst mehr wissen oder ob diese Aussage unter der Rubrik „Kriegspropaganda“ abzuhandeln ist, um das polnisch-ukrainische Verhältnis mit Misstrauen zu belasten, entzieht sich meiner Urteilskraft – alles ist möglich. Eine politikwissenschaftlich gangbare Methode, wenn es um Prognosen geht, ist jedoch die Retrospektive, der Blick zurück in die Geschichte. Sie kann Entwicklungstendenzen und vielleicht sogar Wahrscheinlichkeiten aufzeigen:

Das polnisch-russische (ukrainisch als Teil des Zarenreiches eingeschlossen) Grenzgebiet ist historisch betrachtet allein im 20. Jahrhundert ein sehr konfliktreiches Gebiet zwischen diesen Staaten gewesen.

Auch wenn Polen und die Ukraine gegenwärtig offiziell im Krieg gegen Russland verbündet sind, so bestehen sowohl historische als auch aktuelle Friktionen: Die im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine wütenden Bandera-Faschisten töteten neben Juden und Russen eben auch bis zu 100.000 Polen. Die Nichtaufarbeitung bis hin zum gepflegten Bandera-Kult in der Ukraine, aber auch die Situation in den Straßen Polens durch ukrainische Flüchtlinge stoßen sowohl im offiziellen Warschau als auch in der polnischen Gesellschaft auch wenig Gegenliebe. Die hohen Zahlen ukrainischer Flüchtlinge schaffen sozialen Unmut (billige Arbeitskräfte – gut für die Wirtschaft, schlecht für die arbeitende polnische Bevölkerung). Der Konsens des gemeinsamen Feindes Russland ist wohlmöglich brüchiger, als wir es in Deutschland erahnen mögen.

Wenn die Ukraine den Krieg fortsetzen und ein ukrainischer Rumpfstaat verbleiben oder schlimmstenfalls das Land als Ganzes kollabieren, die Staatlichkeit zerbrechen sollte, stellt sich angesichts einer ungarischen Minderheit im Südwesten der Ukraine möglicherweise die Frage für Polen und auch für Ungarn neu, die Gunst der Stunde zu nutzen, um Grenzverschiebungen vorzunehmen. Ob die USA sich dagegenstellen würden, ist angesichts der Ambitionen Donald Trumps mit Blick auf Grönland zumindest zweifelhaft. Und ob die EU die Kraft hätte, Polen und Ungarn daran zu hindern, ist ebenfalls fraglich. Denn im Zweifel sind Polen Gebietsgewinne (das Hemd) näher als die Disziplinwünsche EU-Brüssels (die Hose). Derartige Gelegenheiten sind selten und von so großer historischer Relevanz, dass sie eine Prioritätenverschiebung als sinnvoll erscheinen lassen könnten.

Ob Gebietsgewinne für Polen tatsächlich einen Machtgewinn bedeuten würden, müsste anhand vieler Kriterien abgewogen werden: Dazu gehört die Unwägbarkeit, ob die westukrainische Bevölkerung und die Eliten eine polnische Übernahme akzeptierten oder dagegen rebellierten. Ob die mit dem Aufbau der Westukraine verbundenen Kosten in einem akzeptablen Verhältnis zum Machtgewinn stünden? Ob die polnische Bevölkerung selbst dieses „Projekt“ unterstützen würde? Ob Polen es wagt, dass völkerrechtliche Narrativ von der unberührbaren territorialen Integrität der Ukraine durch eigenes geopolitisches Handeln aufzubrechen und den gesamten Westen bloßzustellen etc.? Aber es gäbe noch andere Möglichkeiten für Polen, seinen Einfluss auf die erwartbare Rumpfukraine auszudehnen:

Die Gründung eines konföderativen Konstruktes mit der Ukraine, bei dem indessen Warschau das Sagen hätte, was sogar für alle Beteiligten, selbst für die EU und die NATO, eine gesichtswahrende Option darstellen könnte. Sie würden so ihr Narrativ von der Wahrung der territorialen Integrität und der Souveränität und somit als Völkerrechtsverteidiger weiter pflegen – wäre da nicht die Ursünde Jugoslawien, die einfach nicht vergessen werden will.

Titelbild: FotoDax / Shutterstock