Der Gründer der Arche wirft Deutschland Versagen im Kampf gegen die Armut vor – und das ist auch richtig. Zugleich verdeckt der Begriff „versagen“ allerdings das tieferliegende Problem. Die deutsche Politik hat weder den Kampf gegen die Armut angenommen, noch tut sie wirklich etwas gegen die Armutszustände im Land. Vielmehr wird ein Kampf gegen die Armen sichtbar. Damit schädigt die Politik auf lange Sicht das ganze Land. Statt einer Billion Euro für Kriegstüchtigkeit bedarf es unter anderem eines Sozialfonds für arme Kinder, der maßgeschneiderte Lösungen bietet, um der vererbten Armut den Garaus zu machen. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
Im angeblich so reichen Land Deutschland gibt es Armut. Diese Armut ist längst sichtbar. Jeder, der sie nicht ignorieren will, kann sie sehen. Armut auf den Straßen, Obdachlose, Mitbürger, die Pfandflaschen sammeln, lange Schlangen vor den Tafeln und Suppenküchen: Das sind nur die offensichtlichen Hinweise, dass Deutschland ein Armutsproblem hat. Es ist die sichtbare Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche verdichtet sich eine Armut, die viele Gesichter hat und kaum wahrgenommen wird. Da sind Kinder, die morgens ohne einen Cent in der Tasche aus dem Haus gehen. Da sind Kinder, deren Eltern ihnen gerade noch mit Müh und Not ein Pausenbrot mit auf den Weg geben können – wenn überhaupt. Da sind Kinder und Jugendliche, die bei jeder Klassenfahrt fehlen oder zuvor irgendwo in der Familie haben betteln müssen, dass sie ein paar Euro Taschengeld für den Ausflug mitnehmen können. Da sind junge Erwachsene, die in Armut geboren wurden und es mit 18, 19, 20 Jahren immer noch nicht schaffen, den Anziehungskräften ihres Armutsmilieus zu entkommen. Da sind Männer und Frauen, deren interne Lebensinfrastruktur unter dem Druck der finanziellen Lasten längst kollabiert ist. Da sind Menschen, die aufgrund der Armut psychisch und/oder physisch am Ende ihrer Kräfte angelangt sind. Hier ist der Kampf mit „dem Amt“ um ein paar Euro, hier der Pfändungsbescheid und der Gerichtsvollzieher, da die Not, etwas kaufen zu müssen, was dringend benötigt wird, wofür jedoch kein Geld da ist – und das nicht über Wochen oder Monate, sondern über viele Jahre.
Mitten unter uns lebt eine beträchtliche Anzahl an Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen gar nicht mehr lebt, sondern nur noch vor sich hin vegetiert. Manchen sieht man das Offensichtliche an, manchen auch nicht. Die einen sind längst abgerutscht in das Elend von Hartz-IV, Bürgergeld oder wie auch immer gerade die aktuelle staatliche Unterstützung heißt. Die anderen arbeiten in einem oder zwei Jobs auf Mindestlohnniveau. Immerhin noch zu viel, um zu sterben, aber oft genug viel zu wenig, um zu leben.
Günstiger Wohnraum? Fehlanzeige.
Sozialwohnungen? Lächerlich wenige.
Günstige Sprit- und Energiepreise? Das will die Politik nicht.
Und so geht es weiter. Die Ursachen für die Armut sind vielfältig. Sie haben persönliche, familiäre und staatliche Gründe. Die politische Ignoranz gegenüber der Realität ist längst sagenhaft. Einerseits – das gehört sicherlich zur Wahrheit – bringt Deutschland beträchtlich viel Geld für seinen Sozialstaat auf. Andererseits müsste aber doch nach vielen Jahrzehnten Sozialstaatserfahrung klar werden, dass die Armutspolitik nicht greift, dass sie von Problemen durchsät ist. Diese Probleme liegen aber nicht, wie fälschlicherweise mit reichlich Gehässigkeit von der Politik angenommen, aufseiten fauler Sozialhilfebezieher. Diese gibt es, ja. Diese Leute sind vielleicht für manche ein Ärgernis. Sie sind aber nicht das Problem.
Irgendwo, an bestimmten Stellen, hat die deutsche Armutspolitik eine Art Hemmschwelle, was das Verstehen der Gründe für die Armut im Land angeht.
Armut kann nur breitflächig beigekommen werden, wenn arme Bürger sich in Lebensstrukturen bewegen, die es ihnen ermöglichen, mit wenig Geld so zu leben, dass sie trotzdem ein halbwegs würdevolles Leben führen können – und somit auch noch über Kräfte verfügen, sich irgendwann aus der Armut herauszukämpfen.
Diese äußeren Bedingungen sind aber in Deutschland nicht mehr gegeben. Allein schon dann, wenn Mieten und Nebenkosten so hoch sind, dass sie für Arme kaum noch oder gar nicht mehr bezahlbar sind, hat das Äußere bereits eine solche Macht über die Armen, die wie ein Stahlkorsett wirkt. Die „Bewegungsfähigkeit“ ist maximal eingeschränkt – zunächst nur physisch, irgendwann auch psychisch. Und dann ist da noch das „Innen“.
Um aus der Armut auszubrechen, benötigt es meist finanzielle Mittel. Ein neuer, besser bezahlter Job? Weiterbildung? Ein Umzug an einen Ort, wo es einen guten Arbeitsplatz gibt? Für nahezu alles, was man macht, braucht es Geld. Wer könnte es nicht unterschreiben? Und hier wird er sichtbar: der innere Teufelskreislauf, in dem die Armen gefangen sind.
Um die Armutssituation aufzubrechen, braucht es fast immer Geld (und/oder reichlich Glück). Geld ist aber nicht vorhanden. Also bleibt man in der Armut. Da Armut einer Abwärtsspirale gleicht, werden die Armen immer weniger von dem haben, was sie brauchen, um aus dem Sumpf der Armut herauszukommen – bis sie irgendwann so wenig haben, dass gar nichts mehr geht.
Da ist dann der Staat. Für die Öffentlichkeit gibt die Politik vor, eine Armutspolitik zu veranschlagen, die den Betroffenen helfen will. Die Realität: Die deutsche Armutspolitik ist eine Politik, die seit Langem nichts anderes macht, als Armut zu verwalten. Mit Hartz-IV haben die neoliberalen „Reformer“ versucht, mit Gewalt zu erzwingen, was nicht erzwungen werden kann. Es war so, als würde man zu einem Rollstuhlfahrer sagen, wenn er jetzt nicht sofort aufsteht, werde er einen Tritt in den Hintern erhalten. Wer meint, das sei zielführend, wird am Ende einen auf dem Boden liegenden Rollstuhlfahrer sehen. Anders gesagt: Das Leid wird vergrößert, nicht gelindert oder abgestellt.
Nun hat sich der Gründer der Arche zu Wort gemeldet. Er wirft Deutschland ein „Versagen“ im Kampf gegen die Armut vor. Das ist – je nachdem, wie man das Wort „versagen“ liest – nicht falsch. Gut, dass Bernd Siggelkow seine Stimme erhebt und sich für die Armen einsetzt. Das Wort „versagen“ verschleiert aber letztlich das Kernproblem, über das dringend gesprochen werden muss.
Die deutsche Politik hat weder einen Kampf gegen die Armut angenommen, noch tut sie etwas, um der Armut in Deutschland den Garaus zu machen. Wenn ein Kampf wahrgenommen werden kann, dann ist es eher ein Kampf gegen die Armen, nicht gegen die Armut.
Druck, Druck, Druck und noch mehr Druck: Der Staat kann in Sachen Armut so viel Druck ausüben, bis ihm schwarz vor Augen wird. Er verbessert damit nichts, sondern drückt die Probleme so weit nach unten, bis sie an anderer Stelle wieder zum Vorschein kommen. Anstieg von Alkoholismus, Suiziden, Kriminalität, psychischen und physischen Erkrankungen usw. usw.: Mit der gegenwärtigen Armutspolitik schädigt die Politik nicht nur die Armen – sondern das ganze Land.
Einerseits heißt es, der Sozialstaat sei zu teuer und längst sei nicht mehr genügend Geld da. Zur Wahrheit gehört – und das muss endlich auch deutlich gesagt werden – aber auch, dass sehr, sehr, sehr viel Geld da ist: für die Ukraine, für das politische Großvorhaben Kriegstüchtigkeit und für viele andere politisch gewollte, aber nicht dem Wohle der deutschen Gesellschaft dienenden Projekte.
Wenn die Politik für etwa eine Billion Euro, sprich: 1.000 Milliarden das Land für eine politische Halluzination kriegstüchtig machen will, aber kein Geld hat, dafür zu sorgen, dass zum Beispiel die Armut von Kindern in diesem Land ein Ende haben wird, dann sollte jedem Bürger klar sein: Hier läuft etwas gewaltig aus dem Ruder.
Längst hat die Armutsforschung gezeigt, dass Armut immer wieder vererbt wird. Etwas vereinfacht: Einmal arm, immer arm. Arme Eltern, arme Kinder. Das ist nicht immer so – aber zu oft.
Warum hat die Politik noch keinen Armutsfonds für Kinder aus armen Familien aufgelegt, der nicht aus billigen „Teilhabepaketen“ besteht, sondern der mit Sinn und Verstand – über notwendigerweise beträchtliche finanzielle Mittel – armen Kindern monetär den Weg aus der Armut ermöglicht?
Mit diesem Fond könnten Kinder aus armen Familien punktuell, zielgerichtet so lange unterstützt werden, bis sie nach einer Lehre oder einem Studium auf eigenen Beinen stehen können. Die Instrumente, die es bisher gibt – wie etwa Kindergeld für die Eltern –, reichen dazu nicht aus.
Ein solcher, auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittener Unterstützungsfonds könnte dazu beitragen, dass im Kindes- und Jugendalter ein gesundes Selbstbewusstsein ausgebildet wird, das nicht von Mangelerfahrungen, Abwertung und Ausgrenzung geprägt ist.
Einer solchen Armutspolitik steht sicherlich der Neid jener entgegen, die den Ärmsten kaum die Butter auf dem Brot gönnen. Eine solche Armutspolitik würde vermutlich einen lauten Widerspruch aus den mittleren und oberen Schichten bedingen. Hier käme es darauf an, dass die Politik vermittelt: Es geht nicht darum, die Armen zu pudern, sondern darum, das Land insgesamt zu stärken – wovon auf lange Sicht eben alle direkt oder indirekt profitieren. Eine solche Armutspolitik würde nach ein bis zwei Dekaden dazu führen, dass familiäre Armutskreisläufe aufgebrochen sind und ein Anstieg der gesellschaftlichen Gesamtproduktionskraft zu erwarten ist – im Verbund natürlich mit äußeren Rahmenbedingungen, die genügend Arbeitsplätze bieten usw.
Nach eigenen Angaben betreut die Arche derzeit etwa 11.000 Kinder täglich. Diese Zahl gilt es, sich vor Augen zu führen. Und das ist nur ein kleiner Teil jener Kinder, die in Deutschland in Not leben. Das ist eine Schande – und es wird nicht besser.
All jenen, die sich nicht so recht mit einer echten Armutspolitik anfreunden wollen, sei gesagt: Längst treffen die Einschläge auch die mittleren und oberen Schichten. Eine negative Dynamik ist im Land zu beobachten, die zunehmend auch jene bedroht, die bisher noch über ihre Arbeit verfügen und finanziell gut aufgestellt waren. Jenen, denen es heute noch gut geht, kann es morgen schon schlecht gehen. Eine gesellschaftliche Solidarisierung mit den Armen ist, bei Lichte betrachtet, im Interesse der gesamten Gesellschaft. Wer weiterhin eine Politik unterstützt, die aufrüsten will, anstatt die Armut im Land zu bekämpfen, wird am langen Ende vielleicht selbst von jenen Zuständen betroffen sein, die er heute negiert, beschönigt oder denen er mit dem Mittel der Repression begegnen will.
Titelbild: Theo Duijkers/shutterstock.com





