Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist wohl so unter Druck wie noch nie bisher. Im Interview mit den NachDenkSeiten fokussiert der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen auf die aktuellen Entwicklungen in Sachen neuer Rundfunkstaatsvertrag, der seit dem 1. Dezember in Kraft ist. Meyen sagt: „Diese Reform findet die Lösung in einer Vergangenheit, die sich längst selbst überholt hat.“ Ein Medienrat sei entstanden, dem man das Etikett „unabhängig“ angeklebt habe, der aber aufgrund seiner Zusammensetzung dem Etikett nicht gerecht werde. Ein Interview über das dicke Brett Rundfunkreform, das aktuelle „Leipziger Urteil“ und die Aussicht, wie es weitergehen wird. Meyens Fazit: „Ein Apparat, der im Jahr gut zehn Milliarden Euro verschlingt, entwickelt so viele Pfründe und Begehrlichkeiten, dass jede Reform scheitern muss.“ Von Marcus Klöckner.
Marcus Klöckner: In Ihrem Buch „Staatsfunk“, das im September erschienen ist, fokussieren Sie auf die Problemzonen innerhalb des ÖRR. Nun haben sich in den letzten Monaten aber weitere Entwicklungen ergeben. Stichwort: Medienstaatsvertrag. Was können Sie uns dazu sagen?
Michael Meyen: Die Befürworter sprechen von einem Reformstaatsvertrag, in Kraft seit dem 1. Dezember. Der Weg dorthin hat noch einmal gezeigt, wie sehr die Anstalten von der Politik abhängen und dass es im Parteienspektrum jenseits von AfD und BSW keinerlei Bereitschaft gibt, auf die Kritik aus der Bevölkerung zu reagieren. Im Gegenteil: Wenn es darum geht, dieses Sprachrohr zu retten, halten alle anderen zusammen und vergessen dafür im Zweifel sogar für einen Moment, dass sie gerade in der Opposition sind.
Wie meinen Sie das?
Ich war in Brandenburg bei der Anhörung im Hauptausschuss des Landtags und habe gestaunt, wie offen und ernsthaft es dabei zuging. Blind verteidigt wurde das System eigentlich nur von den ARD-Leuten, von zwei staatsnahen Experten und von den SPD-Abgeordneten. AfD, BSW und CDU haben sich bei kritischen Nachfragen geradezu überboten. Als es dann darauf ankam, ist die BSW-Fraktion fast kollabiert und die CDU sprang dem Ministerpräsidenten zur Seite. In Sachsen haben Grüne und Linke der CDU-SPD-Regierung geholfen, obwohl es auch dort vorher harte Debatten gab. Für mich heißt das: Die Abstimmungen in den Landtagen sind reine Formsache. Selbst wenn Politiker die Probleme sehen und eigentlich wissen, dass es so nicht weitergeht, heben sie am Ende ihre Hand. Darf ich noch einmal zurück auf Los gehen und erzählen, wie es zu diesem Staatsvertrag gekommen ist?
Bitte.
Die Politik hat auf den Unmut ganz klassisch reagiert. Wenn du nicht mehr weiterweißt, dann gründe einen Arbeitskreis. 2023 hieß das hier Zukunftsrat, war weiblich und kam von weit oben. Vier Medienmanager (Julia Jäkel, Bettina Reitz, Maria Exner, Roger de Weck), …
Jäkel? Die Chefin vom Verlag Gruner + Jahr und Teilnehmerin an den Bilderberg-Konferenzen …
… und Frau von Ulrich Wickert, ja. Das ist ja bei diesem Thema nicht ganz unwichtig. Im Zukunftsrat waren außer den vier Managern noch drei Juristen (Peter M. Huber, Mark D. Cole, Nadine Klass) und eine Medienforscherin (Annika Sehl). Also: wir nicht. Auch niemand von der Front, wenn man so will. Kein Redakteur, kein Filmemacher, kein Musiker und erst recht niemand, der sich das Programm jeden Abend antun will oder muss und vielleicht schon seit Jahr und Tag Beschwerden veröffentlicht, wie Maren Müller von der Ständigen Publikumskonferenz. Nach acht Monaten hinter verschlossenen Türen kam dann Anfang 2024 ein 40-Seiten-Papier heraus, das das Problem Staatsnähe genauso ignorierte wie die Zwei-Klassen-Gesellschaft von festen und freien Mitarbeitern und dann in den nächsten Monaten auch noch zerredet wurde.
Trotzdem wird jetzt von einer Reform gesprochen.
Es fallen ein paar Radioprogramme weg, man will stärker kooperieren und manches nur noch digital anbieten. Das ist Kosmetik und wird zum Teil genutzt, um Sendungen und Leute loszuwerden, die unbequem waren. Der RBB zum Beispiel mustert jetzt nach und nach gleich fünf Journalisten aus, die einst bei DT64 waren, der DDR-Jugendwelle, für die Anfang der 1990er-Jahre Tausende auf die Straße gegangen sind. Freiberufler bekommen weniger Aufträge und weniger Honorar und werden so noch stärker abhängig, als sie das ohnehin schon sind. Wie schwierig jede Reform völlig unabhängig von solchen persönlichen Schicksalen ist, kann man im Moment fast täglich in den Nachrichten beobachten. Im MDR-Sendegebiet zum Beispiel haben Mitte Dezember etliche Theaterchefs in einem Offenen Brief gegen Einschnitte bei der Kulturberichterstattung protestiert. Niemand will von den Bühnen lassen, die das Beitragsvolk bezahlen muss.
Wo liegen in Bezug auf den neuen Staatsvertrag noch Probleme?
Man setzt jetzt einen Medienrat ein, der in Weimar sitzen wird und alle zwei Jahre über die Programmqualität urteilen soll. Sechs Leute. Die Gremien von ARD, ZDF und Deutschlandradio dürfen vier nominieren und die Regierungschefs zwei. Ganz ehrlich: Das fasse ich nicht. Diese Reform findet die Lösung in einer Vergangenheit, die sich längst selbst überholt hat. Wir wissen aus einer aktuellen Studie der Otto-Brenner-Stiftung, wie stark die Parteien die Räte dominieren und wer dort sonst noch sitzt. Wir wissen auch, dass 2023 und 2024 dort jeweils ganze fünf Beschwerden akzeptiert worden sind, über alle Räte hinweg. Diese Gremien schicken jetzt vier Professoren in einen Medienrat, dem man das Etikett „unabhängig“ anklebt: Anne Bartsch, Jeanette Hofmann, Alexander Kühnle und Annika Sehl, die ja schon im Zukunftsrat war. Das ist ein weiterer Schritt weg von einem Modell, das wenigstens behaupten konnte, alle relevanten Stimmen zu vereinen, und hin zu einer Expertokratie. Nicht nur nebenbei: Die Eliten aus der Bewusstseinsindustrie profitieren vom Rundfunkbeitrag. Die Allgemeinheit zahlt für das, was sie am liebsten sehen und hören. Und ARD & Co. locken mit Sendeplätzen und mit Material, das man gefahrlos einsetzen kann in der Schule und in der Uni, im Theater, in Museen und auf der Kanzel. Von dort ist keinerlei Reformwille zu erwarten.
Dann gab es auch noch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig. Was hat es damit auf sich?
Noch so ein Schritt in Richtung Expertokratie. Es ging ja um die Frage, ob man den Beitrag verweigern kann, wenn die Anstalten nicht ausgewogen berichten und keine Meinungsvielfalt liefern. Ich habe für das Verfahren ein Gutachten gemacht, das dieses Versagen in etlichen Themenfeldern nachweist und sich dabei auf die Sendungen stützt, auf die es tatsächlich ankommt. Die Hauptnachrichten, die Nachrichtenmagazine, die großen Talkshows. Was dort nicht vorkommt, das existiert für die Entscheider nicht. Die Leipziger Richter haben nun gesagt, dass so eine Klage schon Erfolg haben könne, man dafür aber nachweisen müsse, dass das „Gesamtprogramm“ über einen „längeren Zeitraum“ die Ansprüche verfehlt, die der Medienstaatsvertrag setzt. Im Gespräch sind zwei Jahre. Die Bewertung wird damit Medienforschern überlassen und Verwaltungsrichtern. Diesen Trend beobachten wir ja auch in anderen Politikfeldern. Der Souverän wird entmachtet. Was das beutetet, haben wir im Sommer gesehen, als um die neuen Verfassungsrichter gestritten wurde.
Viele Kritiker des ÖRR nahmen das Urteil positiv auf. Warum?
Schwer zu sagen. Die Kritiker, die in der Öffentlichkeit sichtbar sind, müssen auch Erwartungen bedienen, die von ihren Anhängern kommen. Erst hat man für das Leipziger Verfahren mobilisiert und nun eben für das nächste. Möglicherweise verkennt man auch die Möglichkeiten von Justiz und Wissenschaft. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein Produkt der Politik und kann deshalb nur über die Politik verändert werden.
Wie sehen Sie das Urteil?
Ich habe ja etliche Inhaltsanalysen gemacht und kann mir nicht vorstellen, dass es eine Studie gibt, die das erfüllt, was in Leipzig verlangt worden ist, und zugleich Kritiker zufriedenstellt, die keinen Beitrag mehr zahlen wollen. Das Gesamtprogramm über zwei Jahre: Das sind Abertausende Sendeminuten in Funk und Fernsehen und ungezählte Webseiten. Die Technik erleichtert heute solche Untersuchungen, zugleich aber wird es in der Masse immer schwerer, auf die Details einzugehen, die zu Recht moniert werden und auf die es am Ende ankommt. Wenn der Forscher sich zum Beispiel die berüchtigte Lanz-Sendung mit Ulrike Guérot vom 2. Juni 2022 anschaut, wird er sagen: Was habt ihr denn? Ist doch Vielfalt. Die Gegenposition saß mit im Studio. Von solchen methodischen Problemen abgesehen, muss man erstmal einen Wissenschaftler finden, der von Gerichten akzeptiert wird und bereit ist, ARD und Co. das Todesurteil auszustellen. Für die allermeisten, die ich kenne, wäre das wie ein Stich ins eigene Herz.
Viele versuchen sich an der Reformierbarkeit des ÖRR. Ist das überhaupt noch möglich?
Nein. Ein Apparat, der im Jahr gut zehn Milliarden Euro verschlingt, entwickelt so viele Pfründe und Begehrlichkeiten, dass jeder Reformer scheitern muss. Wie gut die Institutionen da zusammenspielen, zeigt das Gerangel um den Rundfunkbeitrag. Die letzte KEF-Empfehlung für die Jahre 2025 bis 2028 ist nicht umgesetzt worden, weil einige Regierungschefs gemauert haben. Es ging um 58 Cent pro Monat, statt 18,36 Euro 18,94 Euro. Die Klage der Anstalten liegt seit mehr als einem Jahr vor dem Bundesverfassungsgericht. Schon das ist ein Unding. Es geht aber weiter: Kaum ist der neue Staatsvertrag in Kraft, kommt die KEF mit einer neuen Empfehlung um die Ecke. Plötzlich sollen für 2027 und 2028 schon 18,64 Euro reichen. Da blickt kein Mensch mehr durch. Ich würde das System vom Kopf auf die Füße stellen, den Anstalten einen klaren Informationsauftrag geben und ein festes Budget, deutlich kleiner als bisher. Peter Welchering hat fünf Euro vorgeschlagen, aber ich denke, das geht noch günstiger. Die großen 24/7-Nachrichtenanbieter kommen mit weniger als einer halben Milliarde im Jahr aus.
Unter optimalen Bedingungen: Wie müsste mit dem ÖRR umgegangen werden? Abschaffen? Und was wäre dann?
Ich sehe drei Optionen. Nummer eins: weiter wie bisher. Das wird das Wahlvolk aber nicht mehr lange tolerieren. Dann greifen vielleicht die Nummern zwei und drei. Abwicklung wie ab 1990 in der DDR oder der Übergang zum Staatsfunk wie bei vielen Nachbarn in Europa. Das ist zugleich meine Prognose. So ein Modell muss gar nicht schlecht sein. Wir Wähler wüssten, woran wir sind, und könnten an der Urne mitbestimmen, wie viel wir davon wollen. Die Journalisten könnten sich über Redaktionsstatute gegen Übergriffe absichern und so Qualität einfordern. Und die Regierungen müssten auf Kritik tatsächlich reagieren, weil dann ja ganz offiziell in ihrem Namen gesendet wird.
Lesetipp: Michael Meyen: Staatsfunk. ARD und Co. sind am Ende – oder müssen neu erfunden werden. Berlin 2025, Verlag Hintergrund, Buchreihe WISSEN KOMPAKT, Taschenbuch, 80 Seiten, ISBN 978-3910568259, 10,90 Euro.
Titelbild: Screenshot NDS





