“Denn sie wissen nicht, was sie tun…”

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Erfahrungen eines Betriebsratsvorsitzenden eines mittelständischen Unternehmens

„Die Arbeiter [und Angestellten] in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken zur Wand stehen, fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Gehirne zerfrisst.“


Heiner Geißler in: Die Zeit 47/2004 „Wo bleibt euer Aufschrei?“

Wie sehr spricht uns Betriebsräten Herr Geißler da aus dem Herzen! Können Betriebsräte überhaupt noch frei agieren, können sie sich überhaupt noch konsequent für Arbeitnehmerinteressen einsetzen oder sind sie nicht ständig irgendwelchen Sachzwängen, Repressalien und Erpressungen von Arbeitgeberseite ausgesetzt, bei denen sie zwangsläufig den Kürzeren ziehen? Wie sollen sie sich überhaupt noch verhalten, um ihren Belegschaften nicht womöglich gar zu schaden? Eine Gratwanderung, die wir heutzutage kaum noch meistern können!

Gerne wird ja von der Politik und den Wirtschaftsbossen die Mär in die Welt gesetzt, wie einfach alle Probleme auf Betriebsebene mit den Betriebsräten zu lösen sind. Es mag den einen oder anderen Unternehmer geben, wo die Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat in der Tat gut läuft, aber die Regel ist das wahrlich nicht. Dahinter verbirgt sich vielmehr die kluge Taktik, den Einfluss der Gewerkschaften in den Betrieben auf ein Minimum zurückzudrängen und nach Möglichkeit alles über die Betriebsräte zu regeln, weil sie hier den nötigen Druck aufbauen und ihre hinlänglich bekannten Erpressungsmethoden anwenden können: „Wenn nicht …, dann müssen wir leider soundsoviele Stellen ins Ausland verlagern usw., usw. …“ Dem Druck kann sich kaum ein Betriebsrat entziehen. Und wenn er dann zugestimmt hat, ist die Zusammenarbeit natürlich wieder einmal hervorragend gelaufen! Und man hat mal wieder alles im Sinne der Beschäftigten einvernehmlich gelöst, noch dazu ohne Politik und Gewerkschaft! Und die FDP und ihre Klientel und einige andere brechen in Jubel aus!

Kluge Manager pflegen in der Regel zu sagen: „Mit Betriebsrat geht fast alles, ohne Betriebsrat gar nichts!“ (Man achte auf den feinen Unterschied!). Was allerdings nicht nachvollziehbar ist: Handeln tut kaum einer danach. Oft machen sie sich noch nicht einmal die Mühe, das Betriebsverfassungsgesetz zu lesen, geschweige denn es einzuhalten, obwohl sie ansonsten vollmundige Bekenntnisse zum Rechtsstaat abgeben und diesen auch für sich beanspruchen, und haben dann nichts Besseres zu tun, als über das BetrVG herzuziehen und starke Einschnitte zu fordern. Herr Rogowski gar möchte es einem großen Lagerfeuer anvertrauen und die Tarifverträge gleich mit dazu, um einfach wieder ganz von vorne anzufangen (Michael Rogowski vor der Amerikanischen Handelskammer, Oktober 2003 – Zitiert nach Albrecht Müller: Die Reformlüge).

Es beginnt schon mit dem berühmten § 2 BetrVG, dem Gebot nach vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit fordern Arbeitgeber immer wieder von Betriebsräten ein, aber wehe, Betriebsräte fordern dies umgekehrt von ihren Arbeitgebern! Ein ewiger Streitpunkt ist die rechtzeitige und umfassende Herausgabe von notwendigen Unterlagen für die Betriebsratsarbeit. Was ist rechtzeitig und umfassend? In der Regel müssen Betriebsräte diesen Informationen ständig hinterherlaufen, obwohl es eine Bringschuld der Arbeitgeber ist.

Um- und Restrukturierungen (galante Umschreibung für die Schließung von Abteilungen und Betriebsteilen!), Betriebsänderungen und Betriebsübergänge pflegen Arbeitgeber gerne als unternehmerische Entscheidungen zu verkaufen, genau wissend, dass diese vom Betriebsrat nicht angreifbar und vor Gericht nicht überprüfbar sind. Selbst die entsprechenden Paragraphen des BetrVG (§§ 111-113 Interessenausgleich/Sozialplan bei Betriebsänderungen, erzwingbarer Sozialplan bei Personalabbau, Nachteilsausgleich bei Nichteinhaltung) und des BGB (§ 613a Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang) versuchen sie zu umgehen. Obwohl ihnen bei Verstoß dagegen erhebliche Nachteile drohen, riskieren sie dies, auch hier wissend, dass es sich um Individualrecht handelt, das nicht der Betriebsrat, sondern der einzelne Arbeitnehmer einklagen muss. Und wer traut sich das schon?

Beispielhaft möchte ich als letztes die Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen (sprich konkret bei Einstellungen und Kündigungen) herausgreifen (§§ 99-105 BetrVG). Viele Betriebsräte machen den Fehler zu glauben, sie könnten über Einstellungen entscheiden und Kündigungen verhindern. Fakt ist: Der Unternehmer stellt eh ein, wen er will, und er wirft raus, wen er will. Betriebsräte sollten hier nicht unnötige Kräfte vergeuden (Eine altbekannte Taktik von Arbeitgebern: Beschäftige Betriebsräte mit Unwichtigkeiten, dann kommen sie nicht zu den Kernpunkten!), sondern sich darauf beschränken, bei Kündigungen handfeste Widersprüche zu formulieren. Dies hilft den betroffenen KollegInnen am meisten weiter (Weiterbeschäftigungs- und Lohnfortzahlungsanspruch bis zur Entscheidung des Arbeitsgerichtes!). Obwohl Personalleiter dies genau wissen, versuchen sie auch das zu umgehen und vertrauen darauf, dass nicht jeder Arbeitnehmer dies einklagt, und unterlassen es zudem, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet sind (§ 102 (4) BetrVG), der Kündigung die Stellungnahme des Betriebsrates beizufügen.

Nun enthält das BetrVG durchaus einige Zwangsmaßnahmen bei Nichteinhaltung von Vorschriften (Einigungsstelle, Beschlussverfahren beim Arbeitsgericht, Anzeige bei Ordnungswidrigkeiten bis hin zur Vollstreckung von Zwangsgeldern) und man sollte meinen, dass wenigstens das den gegängelten Betriebsräten hilft. Aber weit gefehlt: Das Klima in Deutschland ist mittlerweile so arbeitgeberfreundlich, dass sich wahrlich niemand an irgendeinen Arbeitgeber herantraut, und mag er noch so sehr gegen Recht und Gesetz verstoßen. Und hat sich wirklich einmal ein Betriebsrat erdreistet, gegen seinen Arbeitgeber vorzugehen, ziehen sich die Verfahren in der Regel über Jahre und enden nahezu ergebnislos. Ganz abgesehen davon, dass Betriebsrat und womöglich sogar die Belegschaft bitter darunter zu leiden haben. Beliebt ist gerade in heutigen Zeiten die Verrechnung von Tariferhöhungen mit übertariflichen Zulagen unter Vorspiegelung der angeblich wirtschaftlich schlechten Lage!

Gibt es überhaupt noch Hoffnung? Obwohl ich von Haus aus ein optimistischer Mensch bin, ich fürchte nicht. Solange wir weiterhin von Mächten beherrscht werden, deren Gier nach Geld die Gehirne zerfrisst, solange wir mit betriebswirtschaftlichem Denken unsere Volkswirtschaft ruinieren, solange wir immer weiter versuchen, die globalwirtschaftlichen Probleme mit betriebswirtschaftlichen Mitteln zu lösen, solange die deutsche Politik nicht den Mut findet, im Interesse unseres Landes nicht zu allem „Hurra!“ zu schreien, sondern auch mal konsequent nein zu sagen, solange wir vor allen Dingen nicht zum Kernsatz humanistischer Bildung „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ zurückfinden, solange wird es immer weiter bergab gehen, und ich fürchte, so wird das Modell Deutschland letztendlich vor die Wand gefahren. Allen Arbeitnehmern muss klar sein, dass mit den jetzigen Forderungen aus Politik und Wirtschaft sämtliche Errungenschaften der letzten 20-25 Jahre, für die wir und unsere Väter erbittert gekämpft haben, mit einem Streich über den Haufen geworfen werden.

Seit zwei, drei Jahren wünsche ich mir jedes Mal zum Jahreswechsel klügere Politiker und umsichtigere Wirtschaftsführer. Mein Wunsch will einfach nicht in Erfüllung gehen!