Dichtung und Wahrheit der Bundesagentur für Arbeit – Ein „wutschnaubender“ Ausfall

Ein Artikel von:

Vor ein paar Wochen ist die zur Arbeitsvermittlerin umgeschulte Journalistin und Bloggerin Inge Hannemann an die Öffentlichkeit gegangen und hat auf Grund ihrer jahrelangen Erfahrungen in einem Hamburger Jobcenter das Hartz-System und die Abläufe in den Jobcentern hart kritisiert. (Siehe z.B. hier oder hier oder hier). Sie wurde daraufhin von Ihrem Arbeitgeber, dem Jobcenter Hamburg, von ihrer Arbeit suspendiert. Aufgrund der öffentlichen Debatte die Hannemanns Kritik ausgelöst hat, sah sich nun die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit gezwungen, eine Pressemitteilung herauszugeben, in der sie die „Freistellung“ Inge Hannemanns zu rechtfertigen versucht und diese beschuldigt, sie gefährde tausende Mitarbeiter der Jobcenter.
Die Pressemitteilung der Bundesagentur ist ein „wutschnaubender“, obrigkeitsstaatlicher Ausfall des angeblich „am Markt operierenden Konzerns“.
Inge Hannemanns Erfahrungen sind jedoch beileibe kein Einzelfall.
Von Wolfgang Lieb und Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hier zunächst die Presseerklärung der Bundesagentur für Arbeit:

„Inge Hannemann gefährdet tausende Mitarbeiter der Jobcenter
Nürnberg (ots) – Angesichts der anhaltenden öffentlichen Attacken der (inzwischen freigestellten) Mitarbeiterin des Hamburger Jobcenters Inge Hannemann sieht sich die Bundesagentur für Arbeit gezwungen, Stellung zu nehmen – allein schon zum Schutz der vielen tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die durch die Äußerungen von Frau Hannemann beleidigt, herabgewürdigt und in Gefahr gebracht werden.

Die Behauptungen von Frau Hannemann sind falsch und führen die Öffentlichkeit in die Irre. Weder widerspricht die Grundsicherung (“Hartz IV”) dem Grundgesetz, noch verletzen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter durch ihre tägliche engagierte Arbeit die Würde der Kunden. Weder gibt es eine Anweisung oder eine Zielvorgabe, über Sanktionen Geld einzusparen, noch gibt es “tausende von Selbstmorden” unter Kunden der Grundsicherung. Und in den Jobcentern arbeiten auch keine seelenlosen Maschinen, die nur Zielvorgaben, nicht aber die Menschen im Blick haben. Die Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern arbeiten Tag für Tag daran, Menschen in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen.

Frau Hannemann missbraucht ihre angeblichen Insider-Ansichten, um sich in der Öffentlichkeit als einsame Kämpferin für Entrechtete darzustellen und behauptet dabei auch noch, für die Mehrheit der Jobcenter-Mitarbeiter zu sprechen. Darüber hinaus gefällt sie sich in der Rolle der Märtyrerin, die von ihrem Arbeitgeber (der Freien und Hansestadt Hamburg) “kaltgestellt” werden soll.
Dazu drei einfache Feststellungen:

  • Frau Hannemann spricht bei ihrer Kampagne gegen die Grundsicherung, die Millionen von Menschen die Existenz sichert, nicht für die Belegschaft der Jobcenter. Im Gegenteil: Sie bringt ihre Kolleginnen und Kollegen in Gefahr, die sich zunehmend Aggressionen von Seiten der Kunden ausgesetzt sehen.
  • Frau Hannemann ist keine “Whistleblowerin”, die Missstände aufdeckt, denn die behaupteten Missstände gibt es nicht – sie kann daher auch keine “Hartz IV-Rebellin” sein.
  • Wer in einem Jobcenter arbeitet, hat sich an Recht und Gesetz zu halten. Es kann nicht sein, dass eine Mitarbeiterin nach Gutdünken handelt und persönliche, politische Vorlieben auslebt.

Frau Hannemann hat sich den falschen Beruf ausgesucht. Sie sollte nicht ihre Kolleginnen und Kollegen darunter leiden lassen.“

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Und hier die Gegendarstellung von Inge Hannemann:

„Als Betroffene muss ich natürlich reagieren und habe reagiert:

Gegendarstellung – Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit vom 14. Juni 2013
BA-Presseinfo Nr. 35: Inge Hannemann gefährdet tausende Mitarbeiter der Jobcenter

Hiermit nehme ich Stellung zur BA-Presseinfo Nr. 35 vom 14. Juni 2013

Behauptung: Mitarbeiter werden durch die Äußerungen Inge Hannemann beleidigt, herabgewürdigt und in Gefahr gebracht.

Bei allen Interviews, sei es Print, Radio oder TV oder auch auf dem Blog „altonabloggt“ hat Frau Hannemann sich klar und deutlich dazu geäußert, dass ihr sehr viele empathische, menschliche Kollegen persönlich bekannt seien und sie deren Arbeit unterstütze und schätze. Dabei habe sie alle Funktionen innerhalb der Jobcenter berücksichtigt. Zum Teil habe sie auch erwähnt, dass es ganze Jobcenter in Deutschland gäbe, die menschlich agieren und insbesondere diese herausgestellt.

Somit kann nicht einerseits von einer Herabwürdigung, Beleidung oder gar Gefahr gesprochen werden.

Behauptung: Weder gibt es eine Anweisung oder eine Zielvorgabe, über Sanktionen Geld einzusparen.

Frau Hannemann liegen entsprechende schriftliche Unterlagen von Jobcenter-Mitarbeiter vor, die diese Behauptungen verstärken und bestätigen. Neben diesen Unterlagen bestätigen diese Aussagen auch ehemalige Jobcenter Mitarbeiter, welches insbesondere in der Sendung von Stern TV vom 12. Juni 2013 zum Ausdruck kommt. Die Identität dieser Mitarbeiter konnte durch entsprechende Nachweise, wie dem Arbeitsvertrag gesichtet und bestätigt werden.

Behauptung: „Tausende von Selbstmorden“

In keinem Medium hat Frau Hannemann jemals von „Tausenden Selbstmorden“ gesprochen. Im Vorspann „Stern TV“ vom 12. Juni 2013 hat Frau Hannemann wortwörtlich gesagt: „Ich weiß um die vielen Suizide durch Hartz IV (…).

Im Interview vom 14. Juni 2013 bei RTL Punkt 6; Punkt 9 hat Frau Hannemann folgendes wiedergegeben:

Frage Moderator Punkt 6: „Sie sprechen sogar ganz konkret von Toten, Geschädigten und Geschändeten Hartz IV-Beziehern. Gibt es diese Fälle wirklich?“

„Ja, die Fälle gibt es mehr als genug.“ „Es gibt Menschen, die halten den Druck nicht mehr aus, die haben so viele Schikanen erlebt, auch so viel Willkür, dass sie wirklich gesagt haben, ich scheide lieber aus dem Leben aus.“

Frage Moderatorin Punkt 9: „Sie haben ein Schreiben an die Agentur für Arbeit geschrieben. Tote, Geschädigte und geschändete Hartz IV (…) Ist das jetzt wirklich ein echter Fall von dem sie sprechen?“

Frau Hannemann erwiderte wortwörtlich: „Ja, es gibt tausende Fälle solcher. Betreue gerade eine junge Dame, die seit drei Jahren versucht ihren Hauptschulabschluss zu machen. Der wird ihr verwehrt. Mit der Begründung sie habe ein Kind und sei zu dumm. (…)

Diese Aussage von Frau Hannemann bezieht sich somit auf die Gesamtfragestellung der Moderatorin Punkt 9.

Behauptung: Frau Hannemann missbraucht ihre angeblichen Insider-Ansichten, um sich in der Öffentlichkeit als einsame Kämpferin für Entrechtete darzustellen und behauptete dabei auch noch, für die Mehrheit der Jobcenter-Mitarbeiter zu sprechen.

Die Insider-Ansichten von Frau Hannemann sind nicht als angeblich zu bezeichnen, da Frau Hannemann seit vielen Jahren in einem Jobcenter als Arbeitsvermittlerin tätig ist. Auch hat Frau Hannemann sich selbst nie als einsame Kämpferin offiziell bezeichnet. Frau Hannemann spricht seit Beginn von einem großen Unterstützerkreis, der aus Parteien, Gewerkschaften, unterschiedlichste Initiativen aus dem arbeitsmarktpolitischen Bereich, Wissenschaftlern und Einzelpersonen besteht. Dieses zeigen u.a. die unterschiedlichsten offenen Solidaritätsbekundungen durch Parteien, Gewerkschaften und Verbänden. Entsprechende Solidaritätsbekundungen und Unterstützerschreiben von bundesweiten Jobcenter-Mitarbeiter, hochrangigen Unterstützer aus Politik und Wissenschaft liegen ebenso vor.

Frau Hannemann hat in keiner Aussage behauptet für die Mehrheit der Jobcenter-Mitarbeiter zu sprechen, sondern die Solidaritätsbekundungen ihrer Kollegen erwähnt.

Behauptung: (…) die von ihrem Arbeitgeber (der Freien und Hansestadt Hamburg) „kaltgestellt“ werden soll.

Frau Hannemann hat ihren Arbeitgeber, die Freie Hansestadt Hamburg nicht in Verbindung mit der Aussage „kaltgestellt“ erwähnt. Im Interview bei RTL Punkt 6 äußerte sie sich dahingehend, dass sie bewusst mundtot gemacht werden soll und ihr Anwalt von „kaltgestellt“ im Interview spricht. Eine Institution hat Frau Hannemann nicht erwähnt.

Es ist auch für die Bundesagentur für Arbeit zu konstatieren, dass Frau Hannemann vom Recht zur freien Meinungsäußerungen Gebrauch im Sinne des Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG Gebrauch macht. Dabei besteht der Grundrechtsschutz unabhängig davon, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist, und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlose gehalten wird (BVerfG, 16. Oktober 1998 – 1 BvR 1685/92 – AP BGB § 611 Abmahnung Nr. 24 = EzA BGB (…).

Der Begriff „Hartz IV-Rebellin“ stammt nicht von Frau Hannemann selbst. Dieser wurde durch die Medien wiedergegeben und erfunden.

Frau Hannemann hat sich während ihrer Beschäftigung im Jobcenter an Recht und Gesetz gehalten. Die laufende Freistellung bezieht sich im ganzen Umfang auf ihre Äußerungen im Blog: altonabloggt. Die Jobcenter haben ihre überdurchschnittlichen Leistungen in den Beurteilungen anerkannt und bestätigt. Ihr persönliches Engagement für eine Veränderung der Gesetzgebung ist davon unabhängig und ein anzuerkennendes Recht als Staatsbürgerin.

Hamburg, 14. Juni 2013

Inge Hannemann“

Quelle: altonabloggt

Über die Form der Presserklärung und den „wutschnaubenden Ausfall“ der Bundesagentur hat Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, schon treffend geurteilt:

„Was man aber nun wirklich nicht mehr verstehen kann, ist die unglaublich unprofessionelle und sprachlos machende Peinlichkeit in Form des „Presse Info 035 vom 14.06.2013“ mit der Überschrift: „Inge Hannemann gefährdet tausende Mitarbeiter der Jobcenter“. Ach hätte man doch einen direkten Draht zu denen da in Nürnberg in ihrem Hochhaus, der Trutzburg der deutschen Arbeitsverwaltung, man hätte zum Telefonhörer greifen und ihnen zurufen können: Habt ihr noch alle Tassen im Nürnberger Schrank? Wie tief muss eine – immerhin noch – Behörde eigentlich gesunken sein, um so einen Unsinn abzusondern, so dass sämtliche Reflexe des Fremdschämens beim Leser ausgelöst werden?
… Man hat bei dieser Pressemitteilung den Eindruck, eine schnell dahingeschriebene Kommentierung unter einem Facebook- oder Blogbeitrag irgendwo in den Niederungen des Internets lesen zu müssen, nicht aber das offizielle Statement einer deutschen Behörde.“

Da werde etwa behauptet Frau Hannemann bringe ihre Kollegen und Kolleginnen in Gefahr. Das könne doch wohl nicht wahr sein, wenn man sich die komplexen Hintergründe anschaue, die in der Vergangenheit zu Übergriffen seitens der „Kunden“ hätten.

Das unverhältnismäßige und im rüden Ton verfasste Schreiben der Bundesarbeitsagentur verheißt nichts Gutes. Offenbar will man an Inge Hannemann ein Exempel zu statuieren, um weitere Jobcenter-Mitarbeiter von Solidarisierungen und eigener Kritik an Hartz IV und der Bundesagentur abzuhalten.

Bemerkenswert ist, dass hierbei auch nicht mehr vor unhaltbaren Behauptungen zurückgeschreckt wird. Halbwahrheiten sowie durch die tagtägliche Realität längst widerlegte Annahmen werden als angebliche Tatsachen präsentiert. Vor allem ist es erschreckend, in welcher Art und Weise eine Mitarbeiterin einer öffentlichen Institution offen persönlich angegriffen wird.

Die von Frau Hannemann vor allem kritisierte Sanktionspraxis gegen Hartz-IV-Bezieher ist sowohl in der Sache als auch verfassungsrechtlich keineswegs unumstritten.

(Siehe dazu einige lesenswerte Artikel auf den NachDenkSeiten:

In der Pressemitteilung behauptet die Bundesarbeitsagentur, es gäbe „keine Anweisung oder eine Zielvorgabe, über Sanktionen Geld einzusparen“. Dies steht im Widerspruch zu früheren Aussagen von Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit, die unter anderem in der Sendung WDR Politikum [PDF – 93.7 KB] und in ver.di Publik veröffentlicht wurden. Aktenkundig ist auch eine Präsentation der Bundesagentur für Arbeit [PDF – 240.6 KB] in der eine geplante Erhöhung der Sanktionsquote für das Jobcenter Friesland explizit als Beispiel dafür genannt wird, wie man das „Ziel“ erreichen kann, die SGB-II-Leistungen gegenüber dem Vorjahr um 4,0% zu verringern.

(Bitte an unsere Leserinnen und Leser: Die Zielvorgaben zur Sanktionsquote sind offenbar nur an die Leiter der Jobcenter adressiert worden. Sollten Sie zu diesem Personenkreis gehören oder anderweitig Zugang zu entsprechenden Dokumenten haben, senden Sie uns diese per Mail redaktion(at)nachdenkseiten.de zu – wir garantieren Ihnen selbstverständlich absolute Vertraulichkeit.)

Die Bundesagentur tut die Kritik Hannemanns in obrigkeitlicher Manier mit dem lapidaren Satz ab, „wer in einem Jobcenter arbeitet, hat sich an Recht und Gesetz zu halten“. Kurz: er oder sie habe das Maul zu halten und dürfe über die Auswirkungen von Recht und Gesetz nicht mehr nachdenken.

Stefan Sell schreibt dazu:

„So einfach kann man es sich eben mit dem „Recht und Gesetz“ nicht machen. Vor allem nicht im Bereich der Sanktionierung von Menschen, die im Grundsicherungssystem sind. Denn auch viele wissenschaftliche Analysen haben zeigen können, dass die bestehende Sanktionspraxis eben nicht auf einer gut strukturierten und eindeutigen, mithin also fehlerfreien Rechtsanwendungspraxis basiert, sondern angesichts der enormen Varianz der faktischen Anwendung bzw. eben auch Nicht-Anwendung von Sanktionen muss ein gewisses Maß an Willkür diagnostiziert werden, das zumindest diskussionsbedürftig ist, wenn nicht sogar ein Hinweis, dass ein bestimmter Anteil der Entscheidungen gerade nicht auf einer rechtmäßigen, sondern eher auf einer persönlichen Grundlage beruhen. Also wäre dann nicht nur das sanktionsablehnende Verhalten der Frau Hannemann als Abweichung von „Recht und Gesetz“ zu beklagen, sondern auch zahlreiche tatsächliche Sanktionsentscheidungen. Die aber – obgleich seit Jahren auch im seriösen Fachdiskurs als ein Problem des Jobcenter-Systems thematisiert – sieht die BA „natürlich“ nicht als Problem einer Verletzung von „Recht und Gesetz“ an, sondern ihr geht es doch im Grunde um etwas ganz anderes: Um ein „Automaten-Modell“ hinsichtlich der eigenen, internen Weisungen bei den Mitarbeitern, die mit Zielsteuerungsvereinbarungen und zahlreichen anderen Werkzeugen der subkutanen Verhaltenssteuerung die Vorgaben von oben (beispielsweise die Reduzierung der Leistungsempfängerquote wie auch immer und das heißt, wenn nicht durch Integration in Arbeit, dann eben durch andere Maßnahmen).“

Welcher (Un-)Geist in diesem „am Markt operierenden Konzern“ (so der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur Frank-Jürgen Weise) herrscht spricht aus dem Satz in der Presseerklärung: „die behaupteten Missstände gibt es nicht“.

Was nicht sein darf, das nicht sein kann. So einfach meint die Bundesagentur die zunehmende öffentliche und interne Kritik abblocken zu können.

Dazu Norbert Hermann, Lehrbeauftragter für Sozialrecht und langjähriger Hartz4-Berater in Bochum gegenüber Telepolis: “Inge Hannemann hat ausgesprochen, was Fachleute bis hin zu Professoren und Professorinnen seit Jahren versuchen, der Öffentlichkeit zu vermitteln: Hartz IV und seine Umsetzung hat ein großes menschenzerstörendes Potential.”

(Zur internen Kritik siehe etwa das Papier des Vorsitzenden des Hauptpersonalrats der Bundesagentur Eberhard Einsiedler [PDF – 9.5 MB], zur öffentlichen Kritik aktuell z.B. „Frust im Jobcenter“ in fronatal21)

Dass Inge Hannemann keineswegs eine „einsame Kämpferin“ ist belegt auch folgende Mail an die NachDenkSeiten:

„Ich bin Mitarbeiter der Agentur für Arbeit und speziell im Bereich SGBII als Arbeitsvermittler angestellt. Es ist sicherlich für Sie keine Neuheit zu erfahren, dass Mitarbeiter des Jobcenters nicht selten dazu angehalten sind, enormen Druck auf Erwerbslose aufzubauen, sie unter Zuhilfenahme der Sanktionsmöglichkeiten in Tätigkeiten zu vermitteln, deren Arbeitsbedingungen nahe an der Sittenwidrigkeit liegen. Es ist sicher auch keine Neuigkeit für Sie, dass Jobcenter die verlängerten Rekrutierungsabteilungen für Personalleasinggesellschaften geworden sind.

In aufwendig organisierten Auswahlevents (“Speeddating” oder “Arbeitgeberbörse” genannt) in den Räumlichkeiten der Jobcenter werden “Kunden” unter Androhung von Sanktionen geladen, um wie auf einem Viehbasar von “Recruitern” der Leasinggesellschaften Jobs angeboten zu bekommen, für die auf dem Markt außerhalb des H4-Kundenkreises niemand bereit ist zu arbeiten. Es handelt sich hier vornehmlich um Großaufträge für nicht selten namhafte Unternehmen, die Hilfskräfte für schwerste körperliche Tätigkeiten suchen. Dabei liegt die Entlohnung selbstverständlich selten über dem Mindesttarif der ZA-Branche. Oft erfolgen die Einstellungen nicht, bevor auch noch ein sogenannter “Bildungsträger” seine Leistungen an das Jobcenter verkauft hat, eine kurze, maßgeschneiderte “Qualifikation”, die aus einem Hilfsarbeiter einen “qualifizierten Hilfsarbeiter” macht. Das geschieht auch deshalb, damit die für Maßnahmen vorgesehenen Mittel im laufenden Haushaltsjahr auch wirklich ausgegeben werden. Die Ansprüche an die Kunden sind stets dieselben:

  • Hohe Motivation
  • 24h telefonisch ereichbar
  • Gesund, zeitlich flexibel (keine Kinder, keine “Muttischichten”)
  • Berufserfahrung

Kurzum, es werden Mitarbeiter gesucht, die von ihren Qualifikationen her durchaus auch in anderen Bereichen außerhalb der Zeitarbeit ein berufliches Zuhause finden und auch höhere Löhne beanspruchen könnten.

Sehr beliebt sind mittlerweile auch sogenannte “Arbeitserprobungen”, das heißt, man gibt Arbeitgebern die Möglichkeit, “Kunden” für 1 – 4 Wochen unentgeltlich zu beschäftigen, damit eine Eignung direkt “on-the-job” abgeklärt werden kann – bei vollem H4-Bezug. Die Ansprüche an derartige “Maßnahmen beim Arbeitgeber” sind in der Realität absolute Makulatur. Maler, die während der Wintermonate arbeitslos geworden sind, werden nach 2-3 monatiger Arbeitslosigkeit “erprobt” (häufig zwischen 1 und 2 Wochen!!!), um ihre Eignung festzustellen. Gerade auf Baustellen stellt sich häufig heraus, dass Firmen Auftragsspitzen mit Praktikanten in sogenannten “Arbeitserprobungen” auffangen – das Ganze auf Kosten der Allgemeinheit. Wenn dann nach der Arbeitserprobung klar ist, dass der Kunde “ins Unternehmen passt” (das heißt also dankbar ist für die Chance, in Kürze einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen zu dürfen, überstundenbereit und stressresistent ist), geht häufig auch noch ein Antrag auf Gewährung eines Eingliederungszuschusses ein, das heißt der Arbeitgeber beantragt für eine fiktive “Minderleistung” des künftigen Arbeitnehmers eine “Aufwandsentschädigung”, die liegt meist zwischen 30 und 50 Prozent des Monatsbruttolohns für 3 – 12 Monate. Von der sogenannten “Nachbeschäftigungspflicht” kann sich jeder Arbeitgeber problemlos befreien lassen, indem er dringende betriebliche Erfordernisse oder Gründe, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, als Kündigungsgründe angibt.

Ein ganz besonders dreister Fall ist mir vor Kurzem untergekommen: Ich erhielt eine E-Mail eines Arbeitgebers, der auf die Bewerbung einer gut ausgebildeten Fachkraft aus dem gewerblich-technischen Bereich bekanntgab, er würde den Kunden ja sehr gern einstellen, aber die von ihm genannte Lohnvorstellung von 17,00€/Stunde sei völlig realitätsfern, er wäre bereit ihn einzustellen, aber für maximal 11,00€ – 12,00€/Stunde. Ich wurde also “motiviert”, für den Segen einer Integration auf den Kunden Druck auszuüben, um ihn von seinen Lohnvorstellungen abzubringen. Wohlgemerkt, das Ganze noch BEVOR der Kunde eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch und somit die Möglichkeit erhalten hat, mit dem Arbeitgeber direkt die Konditionen zu verhandeln. Dabei erscheint es mir unerheblich, ob die Lohnvorstellung tatsächlich “realitätsfern” war (sie lag im oberen Bereich der marktüblichen Konditionen für dieses Berufsbild) oder auf üblichem Niveau gelegen hat, vielmehr zeigt es, dass ALGII-Bezieher in der Betrachtung der Wirtschaft bereits auf den Status von Heloten herabgewürdigt sind.

Vielleicht sind ja diese Hinweise nützlich für Ihre zukünftigen Artikel zum Thema Agenda 2010. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen mit meinen Einblicken neue Ansatzpunkte für Ihre Arbeit geben konnte.“

Siehe zum Widerspruch zwischen „unternehmerischen Öffentlichkeitsarbeit“ und „unternehmerischer“ Leistung der Bundesagentur aktuell Helga Spindler Desinformation und gefährliche Reformvorschläge aus dem Haus der Bundesagentur, in quer 6/2013, Seiten 10 – 13

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