Gerhard S. Mittelmaß

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Ich habe mir jetzt die Mühe gemacht, den Auszug aus Schröders Buch im „Spiegel“ zu lesen. Es geht dabei vor allem um die Entstehungsgeschichte der Agenda 2010 und um die Gründe für Schröders Neuwahlbegehren. Wenn ich diesem Rechtfertigungsstück glaube, dann muss ich feststellen, dass wir einen Bundeskanzler hatten, der keine Ahnung von den einfachsten gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen hatte und den Bezug zur Wirklichkeit verloren hatte. Es folgen Anmerkungen zu einzelnen Textteilen.

Vorweg betone ich noch einmal die Anmerkung von oben. Ich tue mal so, als könne man Schröder glauben. Die Ziffern sind übrigens die Seitenangaben im Spiegel.

  1. Der frühere Bundeskanzler glaubt wirklich an den Wirkungszusammenhang von Reformen und Wirtschaftswachstum. Wörtlich heißt es zur Begründung von Strukturreformen im Gesundheitswesen, in der Rentenversicherung und auf dem Arbeitsmarkt: “Effizienz in den sozialen Sicherungssystemen, Subventionsabbau und Steuersenkungen sollten die Zielgrößen sein, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und Mittel frei zu bekommen für Zukunftsinvestitionen des Staates.“ (S. 44) Dieser Glaube ist die Grundlage der falschen Politik von Kohl bis heute. Schröder hat ihn offenbar voll ausgelebt. Dagegen kann man nur die naive Erkenntnis setzen, dass Unternehmen dann investieren und mehr produzieren, wenn sie mehr Umsatz erwarten, wenn die Nachfrage stimmt. Kein rationaler Unternehmer investiert, weil die Steuern gesenkt worden sind oder weil Subventionen abgebaut wurden. Hier kann ich nur wie schon oft den amerikanischen Nobelpreisträger Robert Solow zitieren:

    „Die deutsche Wirtschaft schwächelt nun schon seit einer Dekade. Wenn ich ein Manager wäre, würde ich meine Produktion auch nicht ausweiten, solange die Märkte nicht erkennbar expandieren. Klar, Makropolitik beherrscht vermutlich niemand perfekt. Aber mir scheint offensichtlich: in Deutschland könnte man sie wesentlich besser machen.“ (In der „Wirtschaftswoche“ vom 9.September 2004 auf die Frage nach den Perspektiven für Deutschland)

  2. Das Scheitern von Schröders Reformpolitik wird vollständig ausgeblendet. Schröder setzt offenbar darauf, dass die Gehirnwäsche, die er mit seinem Begehren für Neuwahlen und dem Wahlgang selbst bewirkt hat, nachwirkt. In „Machtwahn“ habe ich den Vorgang selbst ausführlich beschrieben. Ich wiederhole hier Wesentliches und stelle gleichzeitig (nach dem Tagebucheintrag vom 23.10.) einen weiteren Teil aus dem Kapitel II, „Konkursverschleppung“, in die NachDenkSeiten. Siehe auch das Inhaltsverzeichnis. (Im übrigen kann ich nur empfehlen, angesichts der Texte von Schröder die einschlägigen Kapitel von „Machtwahn“ nachzulesen.)
    Beginnend mit dem Herbst 2004 und massiv ab Frühjahr 2005 erschienen in den deutschen Medien, sogar in solchen, die die Reformpolitik stützten, immer mehr Bilanzen des Scheiterns der Reformpolitik. So lautete etwa eine solche Bilanz des Spiegel vom 23.5.2005 „Die total verrückte Reform Hartz IV“. Im Berliner Tagesspiegel zum Beispiel erschien eine ausführliche Bilanz von Hartz I bis III. Am 26. Dezember erschien im Handelsblatt sogar der Bericht über eine von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegebene Studie. Die Hartz-Reformen verpuffen, war der Tenor. Wir haben dazu im kritischen Tagebuch gleich zwei Beiträge platziert:

    Die meisten Reformen nach Hartz I bis III, so Teile der Agenda 2010 sind inzwischen sogar amtlich beerdigt oder total renoviert worden. Schröder nimmt das alles nicht wahr. Er tut so, als sei seine Reformpolitik erfolgreich gewesen. Dass er dafür nicht laut ausgelacht wird, folgt aus dem, was ich eine komplette Gehirnwäsche nenne. Schröder hat es mit der Neuwahl, der Debatte darum, dem dafür notwendigen Prozedere und den vielen Bekenntnissen wichtiger Personen und Einrichtungen zur Reformpolitik (die damalige Opposition, der Bundespräsident, das Bundesverfassungsgericht) geschafft, das Scheitern der Reformpolitik total zu überlagern.
    Er besaß obendrein die Chuzpe, eine Entscheidung des Volkes über die Fortsetzung dieser (gescheiterten) Reformpolitik zu verlangen. Schröder schreibt: „Ich wollte eine Abstimmung über diese Politik – und so neues Vertrauen aufbauen.“ (S. 42)
    Ich nenne das Konkursverschleppung. Eigentlich hätte die neoliberale Ideologie angesichts des Scheiterns ihrer Reformen nämlich Konkurs anmelden müssen. Schröder hat ihr aus der Patsche geholfen. Der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht haben dabei wissend und maßgeblich mitgewirkt. Ich schreibe „wissend“, weil zum Beispiel die extrem schwarz malende Erklärung des Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages nur so gewertet werden kann. Der Bundespräsident wusste, dass er etwas Verfassungswidriges tut und dass er deshalb dem Bundesverfassungsgericht eine Brücke bauen muss. Deshalb das martialische Krisengemälde.

  3. Schröder wendet den üblichen Trick an: Die Reformen bräuchten Zeit, um ihre Wirkung entfalten zu können. (S. 48)
    Das ist ein immer wiederkehrender Trick. Aber so zu argumentieren zieht nicht, wenn das Scheitern offenbar ist. Siehe oben.
  4. Schröder geriert sich als Anwalt der Interessen der SPD.
    In seiner Regierungszeit sind sechs SPD-Ministerpräsidenten abhanden gekommen und nahezu alle Wahlen verloren gegangen. Die Mitglieder liefen scharenweise davon. Und Schröder behauptet, die Agenda 2010 aufzugeben wäre eine Katastrophe für die SPD gewesen. (Seite 42) Das Gegenteil ist richtig.
  5. Schröder behauptet, er habe das Sozialstaatsprinzip unter völlig veränderten weltwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen bewahren wollen. Dazu ist zum einen anzumerken, dass dieser Bundeskanzler offenbar völlig naiv das gängige Gerede von den „völlig veränderten Bedingungen“ übernommen hat – hier ist sichtbar, dass dieser Mann offenbar zu eigenständigen Denken nicht fähig ist, sich seine Gedanken leiht. Zum anderen erliegt er der üblichen Selbsttäuschung der sozialdemokratischen Reformer. Sie reden von Umbau und meinen vielleicht auch, sie hätten den Sozialstaat nur umgebaut. Tatsächlich haben sie den Sozialstaatlichkeit mit ihren Strukturreformen in der Substanz erschüttert:
    • Mit der Riester-Rente, der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67, dem Nachhaltigkeitsfaktor und vielen anderen politischen Maßnahmen zur Minderung der Rente beziehungsweise Erhöhung der Beiträge (versicherungsfremde Leistungen deutsche Vereinigung) wurde die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente und das Vertrauen in sie immer wieder erschüttert. Bis hin zur totalen Erosion des Vertrauens unter jungen Leuten. Da ist nichts erhalten geblieben, nichts von Umbau. Nur Zerstörung.
    • Mit Hartz IV werden nicht nur die direkt betroffenen Arbeitslosen getroffen, Hartz IV hat bei den noch Arbeitenden das Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung total zerstört.
    • Ähnliches geschieht mit der solidarischen Krankenversicherung durch die Fülle von Zuzahlungen und Praxisgebühr und so weiter.

    Das Vertrauen der Menschen in solidarische und damit sozialstaatliche Regelungen unseres Zusammenlebens ist von der Regierung Schröder massiv erschüttert worden. Wenn Gerhard Schröder jetzt das Gegenteil behauptet, dann sagt er nicht die Wahrheit oder er lebt im Bunker. Übrigens ist die Schlichtheit des Denkens unseres ehemaligen Bundeskanzlers schon beachtlich. Ich zitiere einen Kerngedanken von Seite 44:

    „Da sich die Struktur unserer Sozialsysteme seit 50 Jahren praktisch nicht verändert hatte, waren der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung unabweisbar geworden – mit dem Ziel, seine Substanz zu erhalten. Deshalb brauchten wir durchgreifende Neuerungen.“

    Das ist bar jeder Logik. Und im übrigen einer Aussage von Josef Ackermann, Deutsche Bank, beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt 2003 nachgeplappert:

    »Wäre es nicht an der Zeit, nach fünfzig erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen?«

    Immerhin hat Ackermann noch zugegeben, dass die 50 Jahre geltenden Strukturen erfolgreich waren.
    Ich habe beide zitiert, um das Niveau unseres Führungspersonals sichtbar werden zu lassen.

  6. Zur Begründung der Reformpolitik wird auch die außenpolitische Handlungsfähigkeit bemüht. Schröder behauptet, wir müssten zum Wandel im Inneren bereit sein, um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht werden zu können. (S. 44). Da kann man nur feststellen, dass die Reformpolitik mit dem massiven Niedergang der Wahlbeteiligung, dem Anwachsen der Rechtsradikalen und der von außen durchaus erkennbaren Depression unseres Volkes das Gegenteil dessen bewirkt hat, was Schröder sich in seinen Träumen versprochen hatte.
  7. Schröder erweckt an mehreren Stellen den Eindruck, als sei seine Reformpolitik seinen Gegnern zum Opfer gefallen: den Linken in der SPD, den Gewerkschaften, vor allem Peters und Bsirske, den Montagsdemonstranten. Schröder spricht von „geschürter Abneigung der Bürger gegen unsere Reformpolitik“. Abgesehen davon, dass seine Reformen an ihrer konzeptionellen Schwäche und Unsinnigkeit scheiterten, steckt hinter Schröders Schuldzuweisung eine geradezu lächerliche Fehleinschätzung der Macht der genannten Gruppen. Außerdem ist es der übliche Versuch, Vorurteile zu nutzen und im übrigen auf den gleichen Zug aufzuspringen, die Helmut Schmidt und seine Unterstützer schon genutzt haben, um Schmidts Verantwortung und die Verantwortung der FDP für die Wende von Schmidt zu Kohl im September/Oktober 1982 beiseite zu schieben.
  8. Interessant: die Interessenverfilzung Schröders und die Tatsache, dass von ihm viel „reformiert“ worden ist, um Interessen zu bedienen, beschreibt er natürlich nicht.

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