SPD: Kampf um die Mitte

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Seit einigen Tagen hat sich in der SPD eine Debatte über die Wirtschaftsfreundlichkeit der Partei entwickelt. Den Auftakt dazu gab der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil mit seinem Aufruf, die Partei solle sich nicht nur um Soziales kümmern, sondern auch um die Erwirtschaftung unseres Wohlstandes – sonst werde sie bei Wahlen im 20-Prozent-Turm gefangen bleiben. ” Die SPD darf sich nicht damit zufriedengeben, sozusagen für das Soziale zuständig zu sein” sagt Sigmar Gabriel dazu. Einen weiteren Akzent in diesem Zusammenhang setzte Jörg Asmussen, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium. Er plädierte in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift “Berliner Republik” dafür, der “arbeitenden Mitte” in Deutschland, “neue und erweiterte Angebote” zu machen. Die Politik der SPD dürfe sich nicht in der Bekämpfung von Niedriglöhnen erschöpfen. Bei seinen Vorschlägen bleibt er allerdings vage.
Mit dem neuen Begriff “arbeitende Mitte” soll offenbar von dem Begriff “Neue Mitte”, der einstigen Wortschöpfung Gerhard Schröders, abgerückt werden. Er gilt in der Sozialdemokratie inzwischen als verpönt. Von Walter Edenhofer

“Mitte – das ist vor allem ein Kampfbegriff, den derjenige verwendet, der an die Macht will,” sagte der damalige Umweltminister Sigmar Gabriel. Mit diesem Begriff seien alle gemeint, die jeden Tag arbeiten gehen, oder das gern wollen, alle Facharbeiter, Handwerker, Wissenschaftler und so weiter, und es sei beinahe aussagelos, daß man für diese riesige Gruppe Politik mache. In seiner Rede auf dem Dresdner Parteitag im November 2009 bezeichnete er die Arbeitnehmerschaft als “soziale Mitte” unserer Gesellschaft.

Die seinerzeitige Strategie Gerhard Schröders, vor allem auf die “Neue Mitte” in der Gesellschaft zu setzen, aber dabei die Interessen der Kernwählerschaft der SPD zu vernachlässigen, stellte sich bei den nachfolgenden Wahlen als weittragender strategischer Fehler heraus. Es zählt zu den Ironien der Geschichte, daß sich Gerhard Schröder von der”Neuen Mitte” erst wählen ließ und sie dann als Kanzler mit Veränderungen konfrontierte, die zu viel Unsicherheit und Abstiegsangst führten.

Eine Studie des Deutschen Instituts der Deutschen Wirtschaft (DIW), zeigt, daß die Mittelschicht in Deutschland nicht gewachsen, sondern geschrumpft ist. Während im Jahre 2000 noch 62 Prozent der Menschen zur Gruppe der Durchschnittsverdiener gehörten, waren es 2006 nur noch 54 Prozent. Das Armutsrisiko hat sich in Deutschland nicht nur für Arbeitslose erhöht, die infolge der Hartz-Reformen auf ein niedrigeres Einkommen angewiesen sind. Auch für die Mittelschicht ist die Gefahr des sozialen Abstiegs und der existenziellen Unsicherheit größer geworden.

Das liegt vor allem daran, daß sich viele Menschen in keinem gesicherten Vollzeitarbeitsverhältnis mehr befinden. So hatten 2012 nur noch 66 Prozent aller Erwerbstätigen einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit mehr als 20 Stunden in der Woche. Zehn Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 72,6 Prozent. Befristete Arbeitsverträge, Niedriglöhne, schlecht bezahlte Teilzeit-und Leiharbeit, Scheinselbständige und Entlohnung auf Honorarabasis – so sieht für immer mehr Beschäftigte, auch für hochqualifizierte, die Arbeitswelt inzwischen aus. Vor allem einem Teil der jüngeren, gut ausgebildeten Generation wird so die Perspektive für berufliche Entfaltung, Selbstbehauptung und soziale Sicherheit genommen.

Auch mit den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen sind die Deutschen nur mäßig zufrieden. Befragt nach der heutigen persönlichen Situation im Vergleich zu der vor fünf Jahren, glaubt die Mehrheit der Deutschen eine Verschlechterung zu erkennen. Nur 26 Prozent der deutschen Bevölkerung gaben an, daß sich ihre Lage sich heute positiver als zuvor gestalte. Die Unzufriedenheit der mittleren und höheren Angestellten mit ihrem persönlichen Einkommen, mit ihren Aufstiegschancen und ihrer Arbeitsplatzssicherheit ist in den 90er Jahren gewachsen. Sorgen im Hinblick auf Abstieg, Arbeitslosigkeit und Einkommensverlust finden sich zwar unter un- und angelernten Arbeitern immer noch bedeutend häufiger als in der gesellschaftlichen Mitte. Dort breiten sie sich aber aus. Von den gehobenen Angestellten äusserten 1988 erst 4,7 Prozent, 1998 schon 13, 4 Prozent die Befürchtung, arbeitslos zu werden oder zumindest die Arbeitsstelle wechseln zu müssen. Unzufriedenheit und Ängste dringen allmählich in die gesellschaftliche Mitte vor.

Unsichere Erwerbsfomen und prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind seit den 90er Jahren zunehmend in die politische und gesellschaftliche Diskussion geraten. Dazu werden Befristungen, geringfügige Beschäftigungen und die sogenannte Scheinselbstständigkeit gezählt. Es sind besonders häufig die jüngeren Mitglieder der gesellschaflichen Mitte, die heute in unsicher geltenden Beschäftigunsarten arbeiten. Der Nachwuchs der Mitte steigt unter denkbar prekären Bedingungen ins Berufsleben ein, trotz akademischer Ausbildung.

Neben dem Risiko der Arbeitslosigkeit berichten Arbeitnehmer der gesellschaftlichen Mitte immer mehr von zunehmenden Druck und sich verschärfenden Arbeitsbedingungen. Die Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen ist im Laufe der neunziger Jahre in nahezu allen Berufsgruppen gesunken. Die gesellschaftliche Mitte verkörpert nicht mehr durchweg die Aufstiegshoffnungen unterer Schichten, wie das nach dem zweiten Weltkrieg einmal war.

Die SPD kennt In ihrem Grundsatzprogramm die Begriffe “Neue Mitte” oder “arbeitende Mitte” nicht. Sie will den gesellschaftlichen Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen und strebt im Programm an, “daß wir über die Zukunft der Sozialdemokratie nicht von oben herab, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus diskutieren.” Mit einer “solidarischen Mehrheit” will die SPD für ihre Positionen in Deutschland und in Europa kämpfen (Hamburger Grundsatzprogramm).

Was wäre zu tun?

Eine Veränderung der Mentalitäten derjenigen Schichten, die sich bedroht fühlen, kann durch Reden und bloßen Appellen allein nicht gelingen. Es kommt vielmehr darauf an, möglichst viele Menschen im Erwerbsleben nach Maßgabe ihrer objektiven Fähigkeiten, ihrer erbrachten Leistungen und ihres Engagements durch entsprechende Maßnahmen zu fördern und Chancengleichheit für sie zu entwickeln. Mit einem neuen Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens könnte die SPD einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen leisten.

Besonders wichtig und vordringlich sind Maßnahmen auf dem Gebiet der Weiterbildung für alle Erwerbstätigen. Gerade im Hinblick auf die Verlängerung der Lebensarbeitszeit gilt es, angemessene Strukturen der beruflichen Weiterbildung – bis hin zum “lebenslangen Lernen” zu schaffen.

Eine Politik für die gesellschaftliche Mitte und für eine solidarische Mehrheit muß eine Politik mit ihr sein, sie darf nicht ohne sie fomuliert werden oder “über” sie bestimmen. Die SPD sollte deshalb einen Ordnungsrahmen schaffen, in dem die Arbeitnehmerschaft mit ihren fachlichen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten Teilhaberechte bekommt und damit auch die wirtschaftspolitische Kompetenz der Partei stärkt.

Alle Parteien umwerben die Mittelschicht. Beim Werben um die Mitte darf die SPD nicht vergessen, wo sie herkommt. Sie ist der sozialen Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität verpflichtet. Solidarität schafft Macht zur politischen Veränderung, das ist die Erfahrung der Arbeiterbewegung. Willy Brandt warnte schon 1981 vor dem Versuch, die Kernwähler der Partei gegen neue Schichten auszuspielen: “Es ist blanke Illusion, in einer Gesellschaft, in der der Arbeiteranteil sinkt, auf neue Schichten verzichten zu können. Und doch bleibt gleichzeitig richtig, daß es nur mit der Arbeiterschaft eine gesunde und kraftvolle Sozialdemokratie gibt.”

Die große gesellschaftliche Mehrheit das ist die arbeitende Bevölkerung: 85 Prozent aller Erwerbstätigen sind Arbeiter, Angestellte, Beamte, Handwerker, auch Selbständige in den verschiedensten Berufen. Deren Interessen zu bündeln und zu einer solidarischen Mehrheit zusammenzuführen und zu einer politischen Kraft zu entwickeln, das wäre die Aufgabe der Sozialdemokratie: Anwältin der Menschen zu sein, die auch unter veränderten Bedingungen auf einen leistungsfähigen Sozialstaat in einer wirklich sozialen Marktwirtschaft angewiesen sind.

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