Der Streit ums „Gastrecht“ – Versuch einer Klärung

Jens Berger
Ein Artikel von:

Gestern kommentierte Jens Berger von den NachDenkSeiten im Artikel „Was dem Herrn geziemt, geziemt noch lange nicht dem (Wagen)Knecht“ den innerparteilichen Streit der Linkspartei über ein Zitat der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht. Daraufhin haben wir viele zustimmende aber auch einige kritische Zuschriften bekommen. Stellvertretend möchten wir Ihnen, liebe Leser und Leserinnen, eine Zuschrift als Debattenbeitrag präsentieren, die uns David Goeßmann, Mitbegründer des unabhängigen TV-Nachrichtenmagazins Kontext TV zugesandt hat. David Goeßmann gab übrigens vor einigen Tagen auch Jens Wernicke ein sehr interessantes Interview für die NachDenkSeiten.

Der Streit ums „Gastrecht“ – Versuch einer Klärung

Die Formulierung, die Sahra Wagenknecht benutzt, ist missverständlich und problematisch. Wagenknecht hätte auch sagen können: Die Genfer Konvention und das deutsche Asylrecht gelten! Oder: Wer gegen die Genfer Konvention und das deutsche Asylrecht verstößt, also wer die „nationale Sicherheit“ massiv gefährdet oder aufgrund von schweren Verbrechen zu mindestens drei Jahren Gefängnis rechtskräftig in Deutschland verurteilt wird, der kann durchaus in Deutschland seinen Flüchtlings- und Aufenthaltsstatus verlieren (das gilt im Übrigen auch für Flüchtlinge, die in ihren Ländern verfolgt werden, siehe Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention). Doch das sagt Wagenknecht eben nicht, weil es nicht zum „Kölner Hauptbahnhof“ passt. Sie benutzt daher eine gängige populistische Formel und spricht von „missbrauchtem“ Gastrecht und „verwirktem“ Gastrecht. „Gast“, „Gastrecht“, „Missbrauch“ und „Verwirken“ sind keine juristischen Begriffe, die die Rechtssituation von Flüchtlingen betreffen. Juristische Begriffe sind genau definiert und der politischen Interpretationswillkür entzogen, daher werden sie ja auch in populistischen Formeln vermieden. Ist der Klau von Pizzastücken, das „Danebenbenehmen“ im Gastgeberland nicht auch schon ein „Missbrauch“ des „Gastrechts“, der zum „Verwirken des Gastrechts“ vielleicht sogar zum „Verwirken“ des Rechtsschutzes im Gastland führt? Die Liste von populistischen „Missverständnissen“ ließe sich fortsetzen.

Dass der Begriff „Gastrecht“ missverständlich ist exerziert der Kommentar von ihnen selbst: „Strittig wird es erst bei der Frage, was mit Gästen zu tun ist, die ihr Gastrecht missbraucht haben, aber aufgrund internationaler Rechtsabkommen nicht abgeschoben werden dürfen. In diesem Punkt ist auch die Genfer Flüchtlingskonvention sehr klar und lässt keinen Raum für Rechtspopulismus … aber um diese Frage ging es bei den Äußerungen von Sahra Wagenknecht ja auch gar nicht.“ Wie nun? Ist das „Gastrecht“, also der Schutz und das Aufenthaltsrecht der Flüchtlinge, nun doch nicht verwirkt, wenn das Gastrecht „missbraucht“ wurde? Wie können sich „internationale Rechtsabkommen“ und die „Genfer Flüchtlingskonvention“ über das „missbrauchte Gastrecht“ schützend vor den Flüchtling stellen, wenn sie doch das „Gastrecht“ bilden, das vom „Gast“ „missbraucht“ wurde und damit doch eigentlich für ihn „verwirkt“ ist? Der Widerspruch lässt sich auflösen. Da es keinen Konflikt zwischen deutschem Asylrecht und der Genfer Konvention gibt, bleibt nur eine Lösung. „Gastrecht“ meint hier überhaupt nicht „Genfer Konvention“, „humanitäres Völkerrecht“ oder „deutsches Asylrecht“, sondern „geltendes Recht in Deutschland“, das „Recht im Gastland“. Mit diesem Verständnis von „Gastrecht“ aber macht die politische Formel: „Wer Gastrecht missbraucht, verwirkt eben auch Gastrecht“ keinen Sinn mehr und ist schon gar nicht tautologisch. Denn deutsches Recht oder den international garantierte Flüchtlingsschutz „verwirkt“ kein Flüchtling, wenn er deutsches Recht „missbraucht“, sprich dagegen verstößt. Ein Flüchtling, der ein Pizzastück klaut, wird nach geltendem deutschem Recht bestraft (wie jeder in Deutschland). Sein Recht als Flüchtling ist davon nicht betroffen, nur in extremen Ausnahmefällen, siehe oben.

Diese Bedeutungsambivalenz von „Gastrecht“ als „geltendes Recht im Gastland“ und „international garantierter Rechtsschutz von Flüchtlingen in Gastländern“, die ihnen selbst auf die Füße fällt, ist bewusst in der populistischen, pseudo-juristischen Parole vom „Gastrecht“ eingelassen. Denn mit dem schwammigen „Gastrecht“ kann man diverse Diskussionen ermöglichen. Wie gesagt, der Klau von Pizzastücken, angegrabschten deutschen Frauen, selbst unangemessenes Benehmen des „Gasts“ im „Gastland“ kann als Missbrauch des „Gastrechts“ empfunden werden und dann quasi-automatisch oder „tautologisch“ im Sinne der Parole als verwirktes „Gastrecht“ (sprich: Abschiebung) gefolgert werden. Sicherlich, Sahra Wagenknecht und Sie sehen das nicht so. Aber die Parole bietet diese Möglichkeiten an. Daher ist sie auch populistisch.

Im Übrigen: Kriegsflüchtlinge sind zwar in der Genfer Konvention nicht ausdrücklich genannt. Aber das Verbot, Kriegsflüchtlinge, die in Folge von internationalen und nicht-internationalen Konflikten fliehen, nicht abzuweisen oder abzuschieben, entstammt dem humanitären Völkerrecht und diversen vertraglichen Verpflichtungen, die Kriegsflüchtlinge ausdrücklich unter Schutz stellen. Der UNHCR und die UN-Vollversammlung in Resolutionen haben immer wieder klar gemacht, dass auch in Kriegen Menschen wegen ihrer Zugehörigkeiten und politischen Überzeugungen verfolgt werden. Auch regelt die Genfer Konvention gar nicht, dass Staaten den Flüchtlingen ein dauerhaftes Asyl oder gar Staatsbürgerschaft geben müssen. Das Zentrum der Flüchtlingskonvention ist das Prinzip des „Nicht-Zurückweisens“, das „Non-Refoulement“, das auch für Kriegsflüchtlinge gilt. „Refugee law clarifies the principle that while States have the right to grant durable asylum on a discretionary basis, they are absolutely prohibited from returning individuals to situations in which their basic human rights are at risk. International humanitarian law helps us identify those situations in which the occurrence of war atrocities requires the provision of humanitarian non-refoulement, especially when attempts to stop those atrocities have proven ineffective.” (“Protection against the Forced Return of War Refugees, Jennifer Moore, 2014) Im Artikel 25 Grundgesetz heißt es: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Es stimmt also nicht, dass Flüchtlinge keine „übergeordneten Rechte“ jenseits des deutschen Asylrechts haben und für Kriegsflüchtlinge keine anerkannten Flüchtlingsrechte, also „Gastrechte“, bestehen.

David Goeßmann

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