Der Brexit und die Angst der Transatlantiker

Jens Berger
Ein Artikel von:

Eine Woche vor dem entscheidenden Referendum vergrößern Umfragen zufolge die Brexit-Befürworter ihren knappen Vorsprung. Es ist also durchaus im Bereich des Möglichen, dass die EU und Großbritannien schon bald in Brüssel die Einzelheiten ihrer Scheidung verhandeln. Was dann passiert, ist vollkommen offen und liegt einzig und allein im Verantwortungsbereich der Verhandlungspartner. Die Welt wird dadurch weder gerettet noch untergehen. Und die Katastrophenszenarien der Freunde der transatlantischen Sache werden auch nicht automatisch eintreten. Der Brexit allein wäre auch kein Grund, eine Träne zu vergießen. Doch was kommt danach? Und warum haben vor allem die Transatlantiker in den Redaktionsstuben derart Angst vor einem Brexit? Von Jens Berger

Wenn ein Wissenschaftler schon heute „weiß“, welche Folgen ein Brexit auf die Volkswirtschaften oder gar einzelne Wirtschaftszweige Großbritanniens oder Resteuropas haben wird, ist er ein Scharlatan. Das hält jedoch fast die gesamte Zunft nicht davon ab, wie ein altes Weib auf dem Jahrmarkt in die Kristallkugel zu blicken und nebulöse Prognosen zu verkünden. Schaden würde der Brexit uns allen – so der Konsens der klugen Herren. Nun ja. Großbritannien ist über rund 14.000 völkerrechtliche Verträge, angefangen bei der UNO-, WTO- und NATO-Mitgliedschaft, über Handels-, Verkehrs- und Patentabkommen, bis hin zu Zoll-, Fischerei- und Postabkommen mit der internationalen Gemeinschaft verbunden. Der Großteil dieser Verträge bleibt auch nach einem EU-Austritt ganz einfach erhalten, da er mit den EU-Verträgen gar nichts zu tun hat. Und der Rest wird dann zur Verhandlungssache. Nach gängiger rechtlicher Bewertung behalten sämtliche EU-Verträge mit Großbritannien erst einmal ihre Gültigkeit, bis sie durch neu verhandelte Verträge abgelöst werden – dasselbe gilt für Verträge Großbritanniens mit Dritten, die auf den EU-Verträgen aufbauen. Oder um es kurz zu machen: Erst einmal ändert sich gar nichts!

Wie Großbritannien, die EU und der Rest der Welt derlei bi- oder multilaterale Fragen im Falle eines Brexit regeln wird, liegt einzig und allein in den Händen der Verhandlungspartner. Vorstellbar ist hier – zumindest theoretisch – so ziemlich alles, angefangen bei der Rückkehr zu den WTO-Regeln, die auch Zölle beinhalten, bis zur vollständigen Übernahme des EU-Freihandels inkl. aller Sonderregeln. Großbritannien würde nach einem Brexit – so viel ist jedoch schon klar – natürlich kein zweites Nordkorea in vollständiger Isolation werden und auch Isolation light á la Schweiz wird kein Modell für die Briten sein. Wahrscheinlicher ist eine weitreichende privilegierte Partnerschaft, wie sie zum Beispiel Norwegen und die EU pflegen. Großbritannien wird sich also im Falle eines Brexit wohl am ehesten die Gesetze und Regeln aus Brüssel diktieren lassen, ohne am Verhandlungstisch mit darüber entscheiden zu dürfen … genau dieses Schicksal haben ja bereits heute Staaten wie die Schweiz, Norwegen oder Island. Ob dies nun die „große Freiheit“ ist, von der die oft rechtspopulistischen Brexit-Befürworter träumen, mag dahin gestellt sein.

Für Resteuropa läge im Brexit sogar eine Chance. Jedoch ist auch dies nur graue Theorie und bei Betrachtung der Interessen der mächtigen Lobbygruppen sehr unwahrscheinlich: Sobald die EU erst einmal vom Moloch der City of London befreit ist, könnte man endlich auch Gesetze und Vorschriften erlassen, die nicht am britischen Veto für den zweitgrößten Finanzplatz der Welt scheitern. Doch die Erfahrung zeigt, dass die Lobbyisten der Hochfinanz nicht nur in Westminister sitzen. Insofern sind auch die möglichen positiven Folgen eines Brexit reine Spekulation und es wäre unseriös, so etwas ernsthaft zu prognostizieren … man will ja kein Scharlatan sein.

Brexit Cover

Wenn der Brexit nun wirklich so belanglos ist, warum kocht dann das Blut der Transatlantiker in den Redaktionsstuben derart hoch? Wie kommt dann der SPIEGEL auf die unverschämte Idee, dem Magazin „Business Spotlight“ das Cover zu klauen und über gefühlte 100 Seiten auf Deutsch und Englisch schmalzig, devot und stellenweise unfreiwillig komisch (Zitat: „Wir brauchen sie, weil der Kontinent sonst in Einfalt, Kleinlichkeit und Lethargie versinken wird.“) an die Briten appelliert „uns nicht zu verlassen“? Die Antwort auf diese Frage dürfte einfacher sein, als die meisten es denken. Großbritannien war und ist spätestens seit der Ära Thatcher auch ein Trojanisches Pferd innerhalb der EU, das sich für die Ideologie des Freihandels, freier Märkte, der Deregulierung und allgemein des Neoliberalismus stark macht. Die Briten vertreten auf internationalem Parkett nicht nur die Interessen der City of London, sie sind zumindest in Europa auch die größten Verfechter der neoliberalen Ideologie. Und nicht zu vergessen: Außen- und sicherheitspolitisch agiert London schon seit langem so, als sei man kein Mitglied der EU, sondern der 51. Staat der USA.

Pro Neoliberalismus, pro NATO-Interventionspolitik, pro Finanzmärkte, pro Freihandel … kein Wunder, dass Großbritannien in den Spitzen der Redaktionen so viele Freunde hat und kein Wunder, dass diese „Großjournalisten“ dafür kämpfen, dass das trojanische Pferd in unseren Stadtmauern bleibt.

Und dann? Wird dann alles besser? Die Probleme liegen auf dem Tisch und sind bekannt. Der Neoliberalismus transatlantischer Prägung hat seinen Glanz verloren und dies- und jenseits des Atlantiks wenden sich die Menschen politischen Alternativen zu; Alternativen, die – das muss man leider auch ganz klar sagen – meist keinesfalls progressiv, liberal oder sozial sind. Dies ist jedoch der Status Quo und es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass die Menschen den Neoliberalismus transatlantischer Prägung wieder lieben und zu den alten Parteien laufen, nur weil die Briten sich für einen Verbleib in der EU entscheiden. Der britische Wunsch, die EU zu verlassen, ist vielmehr eine Folge des allgemeinen Zeitenwechsels und nicht dessen Ursache! Dies vergessen die Leitartikler jedoch gerne. Stattdessen malen sie Horrorszenarien an die Wand.

Was Europa braucht ist eine echte Alternative. Europa braucht eine Vision, eine Rückbesinnung auf die gemeinsamen Werte und ein Fokussieren auf die gemeinsamen Ziele. Europa muss wieder das Europa der Menschen werden und nicht nur eine Freihandelszone zur Mehrung des Reichtums einiger Weniger. Bevor dieses Problem nicht angegangen oder zumindest erst einmal verstanden wird, macht es auch gar keinen Sinn, ernsthaft über das Für und Wider eines Brexit zu debattieren. Ein „Weiter so!“ ist keine Lösung. Der Brexit ist jedoch genauso wenig eine Lösung, da er nur ein Symptom ist und nicht die Ursachen lindern kann, an denen Europa krankt. Die Frage sollte also nicht heißen „Brexit oder nicht“, sondern „Weiter so! oder nicht“. Wenn wir uns für ein Festhalten an der falschen Politik entscheiden, führt dies mit oder ohne Brexit schlussendlich nur dazu, dass über kurz oder lang alle uns bekannten Ordnungsrahmen zusammenbrechen werden. Und das kann ja eigentlich niemand wollen.

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