Die „Montags(gegen)demonstration“ aus dem Chefsessel – eine ganzseitige Anzeige gegen das Volk

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„Auch wir sind das Volk“, unter dieser Überschrift wollen über 60 Firmenvorstände, Aufsichtsräte, Wirtschaftsverbandsfunktionäre, Finanz- und Vermögensberater, Medienbosse und einige Kulturschaffende mit einer teuren, ganzseitigen Anzeige dem Volk, das sich gegen Hartz wehrt, das Maul stopfen. Ein Netzwerk aus Energiewirtschaft, wirtschaftsfreundlicher Presse und Vermögensberatern demonstriert aus ihren bequemen Chefsesseln für einen „radikalen Kurswechsel“ gegen das „gemeine“ Volk. „Die da oben“ beschimpfen „die da unten“.

Mit den für die Überwinder des Sozialstaates üblichen apokalyptischen Phrasen wird in diesem Aufruf Hartz IV als „überlebensnotwendig für den Standort Deutschland“ propagiert. Dieser Standort sei „gepflastert mit den Grabsteinen verblichener Chancen“, so wird gejammert. In einer Bildsprache, die an die Django-Brutalität von Italo-Western erinnert, werden alle, die in der „Stunde der Wahrheit“ die „Einschnitte“ und „schwere Operationen“ in Frage stellen, als „Totengräber“, „Demagogen, die ihre Zukunft hinter sich haben“ oder im glimpflichsten Fall als „Populisten“ beschimpft.
Die Anzeige vom Samstag, den 2. Oktober in der Süddeutschen Zeitung ist ein Musterbeispiel für die hinterhältige Methode, mit der die Vorkämpfer für einen „radikalen Kurswechsel“ arbeiten: Zuerst wird ein Untergangsszenario ausgemalt. Um sein Heil zu retten, muss das unvernünftige Volk durch das Fegefeuer von „Einschnitten“ und „Schmerzen“ geschickt werden, um am Ende des „überlebensnotwendigen“ Purgatoriums in das gelobte Land der ökonomischen „Vernunft“ eintreten zu dürfen.
Diese Methode, erst alles schlecht reden, um damit die „objektiv notwenigen“ Einschnitte in den Sozialstaat überhaupt erst begründen zu können, ist spätestens seit der Begründung für die Agenda-Politik bekannt. Neu ist die Brutalität der Sprache, wenn da etwa von dem von „Grabsteinen gepflasterten“ Standort Deutschland, von den „Totengräbern“, von der „schmerzlichen Stunde der Wahrheit“, von den „schweren Operationen“, von der „gnadenlosen Ausbeutung der Sorgen der Betroffenen“ gesprochen wird. (Ob Günther Grass diesen Text wirklich gelesen hat, bevor er ihn unterzeichnete?)
Den Plakaten der am Tag der Anzeige in Berlin von Sorge auf die Straße getriebenen Demonstranten, wird in hundertausendfacher Auflage die ganzseitige Anzeige entgegen gehalten, so als wären die Unterschriften der etwas über 60 Unterzeicher gewichtiger als wie die Stimmen Zehntausender auf den Protestzügen.
Wir sind das eigentliche Volk wollen die Unterzeichner wohl klarstellen, denn „wir arbeiten in diesem Land, wir bezahlen unsere Steuern in diesem Land, wir bekennen uns zu diesem Land“.
Welch ein Zynismus gegenüber denjenigen, die gerne in diesem Land arbeiten würden, aber keine Arbeit finden und deshalb keine Steuern bezahlen können?
Das „Jammern“ dieses „gemeinen“ Volkes, das von den in diesem Land gezahlten Steuern der Initiatoren dieser Anzeige offenbar nur schmarotzen will, haben die Unterzeichner gründlich „satt“.
Was für Verkehrung von Ursache und Wirkung, wenn gerade diejenigen, die durch ihr „Jammern über Deutschland“ denjenigen, denen sie „Einschnitte“ und „schwere Operationen“ zumuten wollen, vorwerfen, dass diese dann auch noch jammern.

Was für ein Volk steckt hinter der Anzeige?

Es sind Fachanwälte für Wirtschafts- und Steuerrecht und meist gleichzeitig noch Vermögensberater wie Georg Althammer, Jürgen Conzelmann, Thomas Fischer, Walter Klosterfelde, Michael Nesselhauf, Kurt Wessing.

Es sind Geschäftsführer, Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder oder Chairmen von Banken oder Unternehmen wie Hero Brahms, Harald Eschenlohr, der Cabrio-Bauer Wilhelm Dietrich Karmann, Hans-Peter Keitel, Martin Kohlhaussen, Hartmut Krafft, Bernd Laudien, Walter Mennekes, Eberhard Reuther, Albert Speer, Bernd-Georg Spies, Walter Schlebusch, Christoph Walther, Lufthansa-Chef Jürgen Weber oder Porsche-Chef Wendelin Wiedeking.

Es sind Berater oder sog. Consultants oder Werbeleute wie Peter Amberger, Wilhelm Friedrich Boyens (der sich um die Vermittlung von Aufsichtsratsmandaten und Vorstandsposten kümmert und durch einen Mietstreit mit dem Präsidenten der Uni Hamburg ins öffentliche Gerede gekommen ist), Rolf-Dieter Leister, oder der als Berater von Bundesagentur-Chef Gerster in die Schlagzeilen geratene Bernd Schiphorst

Auffälligerweise sind verhältnismäßig viele aus dem Führungspersonal der Montanindustrie vertreten, wie Joachim Fehling, Michael Frenzel, Jürgen Großmann, Walter Klosterfelde, Detlev Kloß, Werner Müller (ehemals Wirtschaftsminister, heute RAG Vorstandsvorsitzender), Dieter H.Vogel (ehem. Thyssen)

Natürlich sind es die Wirtschaftsverbandsfunktionäre Dieter Hundt und Michael Rogowski.

Initiator ist Schröder-Freund und ehemaliger Woche-Chefredakteur Manfred Bissinger. Dieser hat wohl sein Netzwerk von ehemaligen oder noch aktiven Medienleuten meist aus der Wirtschaftspresse aktiviert, wie Wolfgang Kaden (ehem. Chefredakteur des Managermagazins), Werner Funk (ehem. Chefredakteur von Stern und Spiegel), oder
Heiko Gebhardt (Aufsichtsrat des Unterhaltungskonzerns „Senator Entertainment“) oder Michal Jürgs (Kolumnist der Financial Times Deutschland und ehem. Chefredakteur von Stern und Tempo), Klaus Liedtke (Chefredakteur des Gruner + Jahr Joint Ventures National Geographic Deutschland), das Mitglied des Gruner + Jahr Aufsichtsrats Johann C. Lindenberg, der ehem. Bertelsmann Manager und heutige Aufsichtsrat bei der Karstadt AG Thomas Middelhoff, sein Nachfolger bei Bertelsmann Gunter Thielen, der Ex-Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr Gerd Schulte-Hillen, der ehem. RTL-Chef und Clement-Medienberater Helmut Thoma.
Bei dieser Unterzeichnergruppe ist die persönliche oder geschäftliche Verbindung mit Gruner + Jahr und/oder Bertelsmann auffallend.
Bissinger dürfte auch seinen Freund Marius Müller-Westernhagen zur Unterschrift überzeugt haben.
Hinzu kommen dann noch, weil es sich immer gut macht, sich auch noch mit der Kunst zu schmücken, der Künstler Markus Lüpertz, der Starfotograf Jim Rakete, der Theaterregisseur und Kulturmanager Hans-Jürgen Flimm, der Maler und Schriftsteller Uwe Bremer und – man höre und staune (und ist zutiefst enttäuscht) – Günter Grass und der Rechtsprofessor Uwe Wesel.

Vergleicht man diesen Teil des Volks mit dem Teil des Volks, das an den Montagabenden oder am Samstag in Berlin demonstrierte, so passt der Titel der Reportagen von Bernd Engelmann und Günter Wallraff: „Ihr da oben, wir da unten“.

Hinweis: Da die Unterzeichner ihre Funktionen nicht angegeben haben und jedenfalls viele einer größeren Öffentlichkeit nicht bekannt sind, wurden Internetrecherchen herangezogen, sollte es dabei durch Namensgleichheiten oder durch Berufswechsel Verwechslungen oder Irrtümer eingeschlichen haben, so bitten wir um Entschuldigung.

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