Südamerikanische Medien – Nach 50 Jahren wird Punto Final in Chile eingestellt und Jornal do Brasil erlebt Comeback in Rio de Janeiro

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Zwei populäre südamerikanische Medien stehen zu diesem Jahresbeginn im Fokus publizistischen Interesses; die eine als Opfer des Schicksals, die andere als demokratischer Hoffnungsschimmer. Die Rede ist von der linken chilenischen Periodika Punto Final und der liberal-konservativen brasilianischen Tageszeitung Jornal do Brasil. Erstere wird aus finanziellen Gründen im kommenden März nach 50-jährigem Erscheinen definitiv als Druckmedium eingestellt. Umgekehrt und gegen den Strom des weltweiten Zeitungssterbens erlebt die einst hochverschuldete und 2010 aus Druck und Vertrieb genommene, renommierte Tageszeitung aus Rio de Janeiro ihre Wiedergeburt an Kiosken und als Abonnenten-Blatt. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Beide Medien unterschieden sich in ihrer Geschichte durch nahezu gegensätzliche, ideologische Differenzen, doch die drakonische Zensur und Verfolgung von Journalisten machte beide Publikationen in den 1970-ern und 1980-ern zu Opfern südamerikanischer Militärdiktaturen.

Die redaktionelle Ausrichtung der 1965 in Santiago de Chile gegründeten und zweiwöchentlich erscheinenden Punto Final (PF) war von Anbeginn links. Obwohl die Zeitschrift von Mitgliedern der von Che Guevara inspirierten Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) gegründet worden war und zunächst deren politische Positionen vertrat, widmete sich ihre Redaktion – zusammengesetzt aus sozialistischen, kommunistischen, christlichen und unabhängigen Journalisten – bis zum Militärputsch vom 11. September 1973 der kritischen Unterstützung der Regierung Salvador Allendes. Von 1981 bis 1986 erschien Punto Final im mexikanischen Exil und wurde 1989 in Chile neu gegründet.

„Es gibt vielerlei Erklärungen für den Verlust eines so wichtigen und vielfältigen Magazins wie Punto Final. Was jedoch am meisten mutlos macht, ist die Tatsache, dass es unter den ´Chilenen, denen es gut geht´ und die nach eigenen Angaben sich weiterhin zu den Prinzipien des politischen Progressismus bekennen, weder Bemühungen, noch den Willen gab, dieses Magazin zu retten und die Bereitstellung von Ressourcen für die informative Vielfalt vorzuschlagen”, protestierte der renommierte Publizist und Professor Juan Pablo Cárdenas an die Adresse der im kommenden März abdankenden Mitte-Links-Regierung von Präsidentin Michelle Bachelet (Cierre de revista Punto Final: Un nuevo y certero atentado contra la democracia – Radio U. de Chile, 20. Februar 2018).

„Der demokratische Zugang zu korrekter Information und Medien hat sich zu einer Priorität der demokratischen Agenda des Landes entwickelt“, schrieb Ex-Präsident Luís Inácio Lula da Silva am entgegengesetzten, atlantischen Ufer des Kontinents in einem Gastbeitrag für die am 25. Februar wiederbelebte brasilianische Tageszeitung und säte Hoffnungen:

„Ich begrüße die Rückkehr des JORNAL DO BRASIL. Auf dass die Zeitung wieder zur Referenz des Journalismus wird, die sie einmal war und die die brasilianische Demokratie so dringend braucht“.

Paradoxon Jornal do Brasil: Sprachrohr der Diktatur und „Nest“ von Widerstandskämpfern

Jornal do Brasil wurde 1891 vom Journalisten und Politiker Rodolfo Epifânio de Sousa Dantas gegründet, ihr Debüt war jedoch von einem lächerlichen Anachronismus geprägt: Die Zeitung sollte der kurz davor abgesetzten Monarchie als publizistisches Sprachrohr dienen. Trotz inbrünstigstem Widerstands seiner konservativen Herausgeber mauserte sich die Tageszeitung im 20. Jahrhundert unter dem Druck der Öffentlichkeit schubweise zur Tribüne des Liberalismus und der Moderne, was einen großen Umbruch in einem Land bedeutete, das erst 1888, also offiziell als letzter Staat Lateinamerikas, die Sklaverei abgeschafft hatte. Mit der für diese Zeit erstaunlichen Tagesauflage von 60.000 Exemplaren gelang der Zeitung bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Ausweitung des Vertriebs in nahezu alle Landeshauptstädte und die Aufstellung eines kontinentalen Rekords.

Über Jahrzehnte hinweg galt Jornal do Brasil – im Volksmund mittlerweile unter dem Kürzel JB bekannt – schlechthin als populärste Tageszeitung Brasiliens, jedoch schlug sich die Besitzer-Familie Nascimento e Brito während der demokratischen Regierung Präsident João Goularts (1961-1964) auf die Seite der ultrakonservativen, reformfeindlichen Kräfte und begrüßte anschließend die 21 Jahre herrschende Militärdiktatur. Nicht so die Mehrheit ihrer angestellten Journalisten, die die Wochenend-Kulturbeilage Caderno B bald zum subtilen Hort des publizistischen Widerstands ausbauten. Zu ihnen gehörten journalistische Größen wie Jânio de Freitas, Carlos Castelo Branco, Wilson Figueiredo, Amílcar Castro, Hermano Alves, José Carlos de Oliveira, Lúcio Neves und der Dichter Ferreira Gullar. Mindestens die Hälfte von ihnen waren Mitglieder der mal legalen, mal verbotenen Kommunistischen Partei.

Jânio de Freitas, heutiger Kolumnist bei Folha de São Paulo, erinnerte jüngst daran, dass JB mit der Duldung der Diktatur nicht wenige ökonomische und politische Vorteile erzielte. Die Herausgeber hätten sich zur politischen Sprachregelung der Militärs und ihrer rechten Verbündeten mit der kritiklosen Übernahme höchst peinlicher Formulierungen wie „brasilianisches Wirtschaftswunder” oder „Großmacht Brasilien” hinreißen lassen und Bezeichnungen wie „Terroristen“ für selbst unbewaffnete Gegner verwendet.

Ironie der Geschichte: 1969, auf dem repressiven Höhepunkt des Militärregimes, kippten die sprachlosen aristokratischen Besitzer Nascimento Brito – denen die Zeitung seit den 1950-er Jahren gehörte – förmlich aus den Latschen, als ausgerechnet ihr damaliger Angestellter, der JB-Redakteur Fernando Gabeira, als Mitglied eines Stadtguerilla-Kommandos – das den US-Botschafter Charles Burke Elbrick entführt hatte und damit die Freilassung von 15 inhaftierten Oppositionellen forderte – auf dem Titelblatt sämtlicher konkurrierender Tageszeitungen genannt wurde.

Es kam schlimmer. Wie die gesamte Blatt-Konkurrenz, Radio und Fernsehen inklusive, musste JB ein Manifest der Guerilla im Wortlaut abdrucken. Der Offene Brief an die Diktatur und zur Ermutigung der Bevölkerung endete mit der Warnung:

„Der Verhandlungserfolg hängt ausschließlich von offiziellen und öffentlichen Zusagen der Diktatur ab, die unseren Anforderungen entsprechen. […] Wir weisen darauf hin, dass die Fristen unter keinen Umständen verlängert und wir nicht zögern werden, unser Versprechen (den Botschafter zu erschießen) einzuhalten. Schließlich möchten wir diejenigen warnen, die unsere Kameraden misshandeln, foltern und töten: Wir werden die Fortsetzung dieser abscheulichen Praxis nicht weiter dulden. Das ist unsere letzte Warnung. Wer weiter quält, schlägt und tötet, dessen Bart badet bald in der Suppe. Jetzt geht es Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Nationale Befreiungsaktion (ALN) / Revolutionäre Bewegung 8. Oktober (MR-8)“.

Autor des Textes war Franklin Martins, der zwanzig Jahre später als politischer Kommentator bei TV Globo unter Vertrag stand und anschließend als pressepolitischer Minister in der Regierung Lula die Initiative zur Regulierung des Medienmarktes ergriff.

Mit der Re-Demokratisierung Brasiliens büßte die JB ihre Vorteile ein und geriet bald mit dem Umzug in einen Prunkbau und nicht rückzahlbaren Krediten in eine nimmer endende Schuldenkrise, die Anfang des neuen Millenniums in der Verpachtung der Zeitung an den Unternehmer Nelson Tanure gipfelte. Tanure stellte den Druck der JB 2010 ein, da er sich jedoch mit Milliarden-Investitionen im Telefongeschäft einkaufen wollte, musste er laut Gesetz den Besitz an der Zeitung aufgeben, die ihm vor wenigen Jahren der Betreiber von Luxusgaststätten, Omar Resende, abkaufte.

Resende ist in der Medienszene ein „fremder Vogel im Nest“, entdeckte jedoch im landesweiten Protest gegen den von der Gruppe Globo und sieben weiteren Familien beherrschten, ultrareaktionären und konzentrierten Medienmarkt, eine Geschäftslücke, nämlich die Wiederbelebung des Jornal do Brasil als Plattform demokratischer Publizistik, für die er Ikonen des progressiven Journalismus, wie Lulas und Dilma Rousseffs ehemalige Chefin der öffentlichen TV-Anstalt EBC, Tereza Cruvinel, unter Vertrag nahm.

Punto Final: Verbot, Massenerschießung, Exil, Neugründung und das Ende

Die Geschichte der chilenischen Zeitschrift Punto Final (PF) verlief vergleichsweise dramatischer.

„Im Namen des Oberkommandos… Abgesehen von den Maßnahmen in Radio und Fernsehen… ähhh… es werden keine Presseorgane, egal welcher Art, akzeptiert. Ich wiederhole: kein einziges. Jede Publikation wird bei Herausgabe sofort beschlagnahmt und ihre Druckereien zerstört … Noch etwas: Vor allem die Mitarbeiter dort von Punto Final… Alle sofort verhaften! – Ende der Durchsage.“

Dies war einer der Befehle General Augusto Pinochets an seine Soldateska am Morgen des 11. September 1973, während der Militärputsch gegen Salvador Allende auf Hochtouren lief. Der Befehl Pinochets wurde mit einem militärischen Überfall auf die Redaktionsräume von PF akribisch ausgeführt und die anwesenden Journalisten verhaftet. Einige von ihnen wurden zu Tode gefoltert oder standrechtlich erschossen, die Überlebenden retteten sich ins Exil.

Redakteur Jaime Barrios wurde ins berüchtigte Regiment Tacna verschleppt, bevor er am 13. September zusammen mit anderen Gefangenen aus dem Regierungspalast La Moneda in Peldehue erschossen wurde. Autor Máximo Gedda Ortiz wurde 1974 ebenfalls nach einem Verhör ermordet. Er war Dichter, Filmemacher und Aktivist der MIR. Im gleichen Jahr starb die Exil-Brasilianerin und Mitarbeiterin Jane Vanini im Kugelhagel der Marineinfanterie in der Stadt Concepción. Augusto Carmona Acevedo, angesehener Kolumnist und Mitglied des Zentralkomitees der MIR, geriet im Dezember 1977 in einen Hinterhalt der Geheimpolizei DINA und wurde von ihren Agenten umgebracht. Carmona war außerdem Pressesprecher und Gewerkschaftsführer im TV-Sender Kanal 9, damals im Besitz der Universität de Chile.

José Carrasco Tapia – PF-Autor, Redakteur des Magazins Análisis, Vorsitzender der Journalistenvereinigung und ebenfalls Mitglied im Zentralkomitee der MIR – wurde Jahre später, am 8. September 1986, ermordet, nachdem er ein Konzentrationslager in Chile und ein anschließendes Exil in Venezuela und Mexiko durchgemacht hatte. Autor Jaime Faivovich starb im mexikanischen Exil. Als Überlebender der Diktatur und des Exils starb Alejandro Pérez nach Ende der Militärherrschaft in Santiago.

Manuel Cabieses, Mitbegründer und seit der Wiedererlangung der Demokratie alleiniger Herausgeber der Zeitschrift, wurde am 13. September 1973 verhaftet. Zwei Jahre lang verbrachte er als politischer Gefangener hinter Stacheldraht in den strengbewachten Konzentrationslagern Chacabuco, Melinka – in Puchuncaví – und Tres Álamos, bis einer internationalen Kampagne seine Ausweisung aus Chile gelang. Doch nach vierjährigem Exil in Kuba, an der Seite seiner Familie, kehrte Cabieses als Mitglied der politischen Führung der MIR heimlich nach Chile zurück, wo er von der Diktatur unbemerkt als Aktivist im politischen Untergrund lebte und sich ab 1989 der Neugründung von Punto Final widmete.

Zu den Star-Autoren des Magazins zählten unter anderem die verstorbenen uruguayischen Schriftsteller und Dichter Eduardo Galeano und Mario Benedetti, der ebenfalls uruguayische Begründer des venezolanischen Fernsehsenders TeleSur, Aram Aharonian, ferner der brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto und sein Landsmann und Theoretiker der Arbeiterpartei (PT) Emir Sader; jedoch auch der ins deutsche Exil gewanderte, vielfältige Buchautor und emeritierte Professor an der Universität Oldenburg, Fernando Mires.

Als die Erstausgabe von PF im September 1965 konzipiert wurde, erhoben die Gründungs-Redakteure Mario Díaz und Manuel Cabieses die „Entfaltung eines freien Journalismus“ zum redaktionellen Leitmotiv des Magazins, das seine Autoren als Freiraum pluraler Meinungsäußerung nutzen sollten. Der Name Punto Final – „Endpunkt“ – stand für die Idee, Themen so intensiv wie möglich zu recherchieren und die daraus resultierenden Berichte und Reportagen der Leserschaft als Ausklang und hoffnungsweisendes Finale anzubieten.

Generell begriff sich das Magazin als „demokratisch und fortschrittlich”, statuierte jedoch, „die großen Massen (seien) die Protagonisten der Geschichte, die Zeitschrift stellt sich lediglich in ihren Dienst. Doch wird sich Punto Final nicht in künstlichen Grenzen bewegen, weder Kontroversen scheuen, noch davor Angst haben, die Wahrheit zu sagen“.

Manuel Cabieses versuchte auf Biegen und Brechen – im Klartext: seit den 1990-er Jahren bar jeder Unterstützung der regierungsbildenden linken Parteien, und sei es mit Inseraten, die in Millionenbeträgen ohnehin an das gesamte konservative Medienspektrum vergeben wurden – dem legendären Magazin mit aufopferndem Einsatz bei zuletzt schwindenden Abonnements das Leben zu retten. Die politische Öffnung hin zu den neuen sozialen Bewegungen und ihren vergleichsweise jugendlichen Vertretern blieb ihm fremd und die aufgeschobene, jedoch imperative Umstellung auf die Digitalisierung machte Punto Final den Garaus.

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