Bundesverfassungsgericht: Eine schallende Ohrfeige, die nicht besonders weh tut

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Das mit Spannung erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist gefällt: Die Regelleistungen nach SGB II (“Hartz IV- Gesetz”) sind nicht verfassungsgemäß. Das Gericht verlangt einen absolut wirkenden Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, beim Umfang dieses Anspruchs bleibt es jedoch vage und lässt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Es hält die derzeitige Höhe der Regelsätze nicht für „evident unzureichend“ und auch das bisherige Berechnungsverfahren sei „grundsätzlich tauglich“. Nur hinsichtlich des Verfahrens bei der Ermittlung der Regelsätze, besonders für Kinder finden die Karlsruher Richter deutliche Worte: die Schätzungen seien „freihändig“ und gingen „ins Blaue“ hinein. Das ist zwar eine schallende Ohrfeige für die sozialpolitische Willkür der Gesetz- und Verordnungsgeber seit Inkrafttreten der Hartz-Gesetze bis heute. Aber bis auf die Kinder und für Hilfsbedürftige mit einem besonderen Bedarf dürfte sich angesichts der politischen Konstellation die Lage der Armen nicht wesentlich verbessern. Der politische Kampf um die konkrete Bestimmung eines menschenwürdigen Existenzminimums wird weiter gehen müssen. Wolfgang Lieb

Das Urteil stellt die Logik der Hartz-Gesetze nicht in Frage
Wer von den Karlsruher Richtern erwartet hatte, dass sie die Grundstruktur der Hartz-Gesetzgebung – nämlich ein Jahr Arbeitslosenversicherung als Alg I, danach Absturz auf das physische und soziokulturelle Existenzminimum – in Frage stellen würden, sieht sich enttäuscht. Die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem einheitlichen Fürsorgesystem für Erwerbsfähige und das System Hartz insgesamt bleiben unbeanstandet. Dass sich durch Hartz IV die soziale Lage von Millionen Menschen deutlich verschlechtert hat, wird völlig ausgeblendet.
Die Entscheidung stellt nicht das Warum von Hartz IV in Frage sondern ausschließlich das Wie der Regelungen.

Das Urteil verlangt einen absolut wirkenden Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum
Andererseits ist das Urteil im Hinblick auf den subjektiven Anspruch eines menschenwürdigen Existenzminimums ein klarstellender Fortschritt: „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind… Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“

Eine Absage an den Almosenstaat und an Erpressung durch Regelsatzkürzungen
Das ist eine an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Absage, an alle diejenigen, die Hilfsbedürftige in unserem Staat als lästige Almosenbittsteller betrachten, denen man je nach Kassenlage eine milde Gabe spenden könnte:
„Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.“ (Rdnr. 136)

Die „Würde des Menschen“, die nach Art. 1 Abs. 1 GG unantastbar ist und zu achten und zu schützen ist, ist ein Grundrecht und nicht nur ein Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates sondern der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen (Rdnr. 134) und durch einen gesetzlichen Anspruch sichern (Rdnr. 136). Ein einfaches Haushaltsgesetz, das die finanziellen Mittel bereitstellt, reicht dazu nicht aus.

Klare Definition eines menschenwürdigen Existenzminimums
Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gewährleistet
„sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.“ (Rdnr. 135) 
„Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ (Rdnr. 137)

Die Würde des Menschen ist unbedingt
Beim menschenwürdigen Existenzminimum geht es somit nicht nur um eine Leistung gegen Gegenleistung und auch nicht um eine bedingte Rangfolge von zuerst „fordern“ und nur dann „fördern“. Hier geht es um einen „absolut“ wirkenden Anspruch, der „unverfügbar“ ist und eingelöst werden muss.

Leider geht der Urteilsspruch mit keinem Wort darauf ein, ob sich auch die geltenden Sanktionsmaßnahmen gegen Hartz IV-Empfänger (§ 31 SGB II) an dem „absolut“ wirkenden Anspruch messen lassen müssen. Es lohnte sich vielleicht wenigstens in diesem Punkt nochmals Karlsruhe anzurufen.

Jedenfalls dürfte der „unverfügbare Anspruch“ eine eindeutige Absage an diejenigen sein, die – wie etwa der Sachverständigenrat mit seinem Vorsitzenden Wolfgang Franz – durch eine Senkung der Regelsätze, einen existenziellen Druck ausüben wollen, jede Arbeit unter jeder Bedingung annehmen zu müssen, um ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erreichen.

Keine Rückgabe der Würde, aber Druck auf den Gesetzgeber
Obwohl das Verfahren zur Ermittlung der Regelsätze von Anfang an verfassungswidrig war, wird der Gesetzgeber nicht dazu verpflichtet, die Leistungen rückwirkend neu festzusetzen, sie gelten sogar bis zum Ende dieses Jahres fort.

Wenigstens setzen die Richter dem Gesetzgeber eine kurze Frist, nämlich bis zum 31.12.2010. Diese 10 Monate müssten für die Durchführung eines erneuten Verfahrens zur realitätsgerechten Bemessung der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums angesichts der lebensbestimmenden Bedeutung der Regelung für eine sehr große Zahl von Menschen ausreichen. (Rdnr. 216)

Bis dahin dürfte dann Frau von der Leyen auch einen neuen Nahmen für Hartz gefunden haben.

Sollten Bundesregierung und Parlament diese Frist „pflichtwidrig“ nicht einhalten, so wäre ein später erlassenes Gesetz rückwirkend zum 1. Januar 2011 in Geltung zu setzen.

Was bleibt ist eigentlich nur der moralische Vorwurf, dass Rot, Grün und Schwarz ein willkürliches und deshalb verfassungswidriges Hartz-Gesetz verabschiedet und 7 Jahre beibehalten haben, das gegen die Würde des Menschen nach Art. 1 GG und gegen das Sozialstaatsgebots nach Art. 20 GG verstieß. Doch davon können sich die Menschen, denen ihre Würde genommen wurde und die verfassungswidrig behandelt wurden leider – sprichwörtlich – nicht viel kaufen.

Die dafür verantwortliche Politik wird nicht einmal zur Umkehr gezwungen, sondern muss allenfalls nachbessern und das Verfahren der Bedarfsermittlung realitätsnäher und transparenter machen

Bedauerlich für die politische Praxis ist dabei auch noch, dass wie schon bei der Durchsetzung der Hartz-Gesetze nun wieder ein monatelanges politisches Hick-Hack stattfinden dürfte und sich die gesamte parlamentarische und öffentliche Aufmerksamkeit auf einen die absolute Not abwehrenden Gesetzgebungsakt konzentrieren dürfte. Die Energien der Politik dürften sich, wie bei der Durchsetzung der Hartz-Gesetze auf das Kurieren am Symptom konzentrieren, statt auf eine Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die Menschen in eine Arbeit bringt und die Not erst gar nicht entstehen lässt.

Besonderer Bedarf kann unmittelbar geltend gemacht werden
Erfreulich und eindeutig ist, dass die bisher bestehende Lücke für einen Anspruch auf Leistungen zur „Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs“ (also etwa bei Behinderungen oder für Medikamente bei einer chronischen Krankheit) schon ab heute unmittelbar aus der Verfassung geltend gemacht werden kann. (4. Leitsatz).
Die Betroffenen sollten also sofort entsprechende Anträge stellen.

Der Gesetzgeber habe künftig wegen dieser Lücke in der Deckung des lebensnotwendigen Existenzminimums eine Härtefallregelung in Form eines Anspruchs auf Hilfeleistungen zur Deckung dieses besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II Leistungsberechtigten vorzugeben. (Rdnr. 209)

Absage an die Einlassungen der Bundesregierung
Das oberste Gericht erteilte allen Einlassungen der staatlichen Seite eine komplette Abfuhr. So sah etwa die Bundesregierung keine „Begründungspflicht“ des Gesetzgebers für die Bedarfsbemessung. Auch dass die Regelleistungen auf „Eigenverantwortung durch Einsatz der Erwerbsfähigkeit orientiert“ seien, haben die Richter nicht gelten lassen, ohne allerdings darauf kritisch einzugehen. Weder sei der Gesetzgeber mit den 100 Euro „Schulgeld“ im Familienleistungsgesetz seiner Nachbesserungspflicht nachgekommen, noch sei die Anpassung der Regelsätze an den aktuellen Rentenwert angemessen.

Der Umfang des menschenwürdigen Existenzminimums bleibt vage
So eindeutig und klar das Gericht bei der Begründung des Leistungsanspruchs formuliert, so vage bleibt es bei der Beschreibung des Umfangs dieses Anspruchs. Der Umfang hänge von „den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab“ und sei danach konkret zu bestimmen.
Der Gesetzgeber habe dabei „die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht“ zu erfassen.

Die hierbei erforderlichen Wertungen kämen jedoch ausschließlich dem Gesetzgeber zu. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichere, bliebe grundsätzlich ihm überlassen. Ihm komme dabei ein Gestaltungsspielraum zu. Dieser Gestaltungsspielraum sei enger, soweit es um die Sicherung der physischen Existenz gehe und er sei weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehe. (Rdnr. 138).

So wie die politische und überwiegend auch die öffentliche Diskussion über die Höhe der Regelsätze in der Vergangenheit gelaufen ist, wird deren Umfang bzw. Höhe ein höchst emotional geführtes Streitthema bleiben, denn die Wertungen über das „Erforderliche“ gingen und gehen auch nach diesem Urteil in der Politik und in der Öffentlichkeit weit auseinander.

Ministerin von der Leyen hat schon Diskussionen über (entwürdigende) Sachleistungen oder ähnliche diskriminierende Zuwendungen angestoßen. Und auch das nirgendwo klar gesetzlich geregelte sog. „Lohnabstandsgebot“ dürfte dabei wieder in die Debatte eingeführt werden.

Das Gericht hält die statistische Methode der Festlegung des Leistungsumfangs an Hand der Verbrauchsausgaben von Haushalten der unteren Einkommensgruppen für verfassungsrechtlich zulässig. Das schließt in seiner Logik sogar eine Senkung der Regelsätze nicht aus, etwa wenn immer mehr Menschen dieser 20% der unteren Einkommensbezieher in immer niedrigere Löhne abrutschen.

Das Abstellen des menschenwürdigen Existenzminimums auf „gesellschaftliche Anschauungen“ und auf „wirtschaftliche Gegebenheiten“ lässt das Pathos über die zu wahrende „Würde“ des Menschen bei der Begründung des Leistungsanspruchs angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit und des Lohndumpings der letzten Jahre als ziemlich hohl erscheinen.

An dieser Stelle wird deutlich, dass einer Kampagne ausschließlich bezogen auf die Erhöhung der Regelsätze – in absehbarer Zukunft jedenfalls – vor Gericht kein Erfolg beschieden sein dürfte. Es kommt vielmehr vor allem auch darauf an, die Ausweitung des Niedriglohnsektors zu stoppen und möglichst einen Mindestlohn durchzusetzen, der so hoch sein müsste, dass damit das (politisch geforderte) Lohnabstandsgebot gewährleistet wäre.

Anhaltspunkte für das künftige Verfahren
Immerhin liefert das Urteil einige Anhaltspunkte über das Verfahren bei der Ermittlung des Umfangs des Leistungsanspruchs.

Bei der Konkretisierung des Anspruchs habe der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, realitätsgerecht zu bemessen (Rdnr. 139). Jedenfalls habe er zunächst die Bedarfsarten und die dafür aufzuwenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen.

Das Gericht verlangt für diese Ermittlung des Bedarfs keine bestimmte Methode. Der Gesetzgeber darf die Ermittlungsmethode im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen und wenn er aber von der gewählten Methode abweicht, muss dies nur sachlich gerechtfertigt sein.

Wichtig für die Zukunft ist der Auftrag, dass das jeweilige Ergebnis „fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln“ ist und dass der Gesetzgeber Vorkehrungen zu treffen hat, um auf Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchssteuern „zeitnah zu reagieren“.
Das bisher übliche Hinausschieben der Anpassung der Regelsätze oder der Festbeträge dürfte also schwieriger werden. Aber ein wirkliches Druckmittel ist das nicht.

Wie nach den früheren Äußerungen des Verfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier nicht anders zu erwarten, räumt der Senat der Politik einen weiten Gestaltungsspielraum ein und beschränkt die gerichtliche Kontrolle darauf, ob die Leistungen „evident unzureichend“ sind.

Die Erwartungen auf eine Erhöhung des Regelsatzes wurden enttäuscht
Zur Enttäuschung vieler Betroffener folgt aus dem Urteil keineswegs unmittelbar eine Erhöhung des Regelsatzes. Das Gericht hält vielmehr die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 10 Abs. 1 Satz 1 SGB II a.F. bzw. § 20 Abs. 1 SGB II n.F.) von 345, 311, und 207 Euro grundsätzlich für „vertretbar“. Diese Beträge seien schließlich jahrzehntelang durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit unbeanstandet geblieben. Auch die Risiken von Krankheit und Pflegebedürftigkeit oder die Übernahme angemessener Kosten für Unterkunft und Heizung seien grundsätzlich sichergestellt. Auch die existenzielle Bedarfslagen von Kindern seien grundsätzlich erfasst. Selbst eine Unterdeckung für einmalige Anschaffungen sei gedeckt und zur Not seien diese über zurückzuzahlende Darlehen vom Hilfsbedürftigen zu finanzieren. Bei einem besonderen Bedarf sei zuerst auf das „Ansparpotential“ zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten sei.
Zumindest bei der Rede vom Ansparpotential muss man den Richtern gleichen Vorwurf wie an den Gesetzgeber machen: Es ist völlig realitätsfern.

Auch der reduzierte Betrag von 311 Euro für erwachsene Partner einer Bedarfsgemeinschaft wird nicht beanstandet, da beide Partner „aus einem Topf“ wirtschafteten.
Plötzlich wird also das „individuelle Grundrecht“ zum Partnerschaftsrecht.

Selbst der Betrag von 207 Euro für Kinder im Alter von 7 Jahren bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres unterschreite „nicht evident“ das zur Sicherung des Existenzminimums Notwendige.

Diese Passagen des Urteils dürften die Hartz-IV-Befürworter bejubeln und die Betroffenen verzweifeln lassen. Keine einzige Silbe der Karlsruher Richter über die um sich greifende Kinderarmut.

Das bisherige Modell der Leistungsbemessung wird grundsätzlich nicht beanstandet
Das Gericht beschränkt sich auf eine Kontrolle „der Grundlagen und der Methoden der Leistungsbemessung“. Die Festsetzungen der Leistungen müssten auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein. (Rdnr. 142)

Das bisherige Verfahren, für die Bemessung des Eckregelsatzes nach dem Sozialhilferecht gem. § 28 Abs. 3 SGB XII sei – so das Urteil – nicht zu beanstanden, soweit sich die festgelegten Sätze auf der Grundlage belastbarer Zahlen und vertretbarer Wertungen verfassungsrechtlich rechtfertigen ließen.

Das bisher zugrunde gelegte Statistikmodell an Hand der Verbrauchsausgaben von Haushalten der unteren 20% der Einkommensgruppen sei eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums für eine alleinstehende Person (Rdrn. 162). Das alternative Warenkorbmodell – also die Berechnung an Hand eines Warenkorbs notwendiger Güter und Dienstleistungen und der dafür zu entrichtenden Preise – sei gegenüber dem Statistikmodell keineswegs vorzugswürdig, weil mit der Einkommensstatistik auch die Aufwendungen zur Gewährleistung eines Minimums an gesellschaftlicher Teilhabe am tatsächlichen Ausgabeverhalten messe. (Rdnr. 166)

Wie schon erwähnt, lässt aber das Statistikmodell die Spirale nach unten offen. Und wenn die unteren 20% eben so wenig haben, dass sie keinen finanziellen Spielraum mehr zu gesellschaftlicher Teilhabe haben, dann ist dies eben der Maßstab. Hier endet das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum im Zirkelschluss.

Der Gesetzgeber sei nur verpflichtet künftig darauf zu achten, dass Haushalte, deren Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau liege als statistische Referenzgruppe ausgeschieden werde. (Rdnr. 169) Nicht einmal, dass die Ausgaben des untersten Quintils nur zu einem bestimmten Prozentsatz in die Bemessung der Regelleistung einfließen, sei zu beanstanden, sofern der jeweilige Abschlag sachlich gerechtfertigt sei.

Selbst den weit gefassten Grundsätzen genügen die geltenden Gesetze nicht
Doch selbst diesen ziemlich weit gefassten Grundsätzen, die das Gericht sozusagen ganz allgemein entwickelt hat, genügen die bisherigen gesetzlichen Regelungen nicht.
Zwar seien die derzeitigen Leistungen nicht „evident unzureichend“ und auch des bisherige Berechnungsverfahren sei „grundsätzlich tauglich“, der Gesetzgeber habe nur dieses Verfahren in verschiedenen Hinsichten nicht eingehalten, ohne dafür erkennbare oder tragfähige Kriterien zu benennen.

Die Kürzungen von Ausgabepositionen in den unterschiedlichen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichproben bedürften zu ihrer Rechtfertigung „einer empirischen Grundlage“. (Rdnr. 171) „Schätzungen „ins Blaue hinein“ laufen jedoch einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.“ Solche Schätzungen seien nachvollziehbar zu begründen, insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber von seiner selbst gewählten Methode abweiche. Es müsse darüber hinaus ein interner Ausgleich der regelleistungsrelevanten Ausgabenbeträge möglich bleiben. (Rdnr. 172)

Die Regelleistung von 345 Euro sei deswegen nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt worden, weil von den Strukturprinzipien des Statistikmodells, das der Gesetzgeber (zulässigerweise) selbst gewählt habe, „ohne sachliche Rechtfertigung abgewichen worden ist“ (Rdnr. 173). Der 2005 festgesetzte regelleistungsrelevante Bereich beruhe nicht auf einer „tragfähigen Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998“. (Rdnr. 174) So seien etwa prozentuale Abschläge für Pelze und Maßkleidung, Sportboote und Segelflugzeuge oder Steuerberatungskosten vorgenommen worden, ohne dass feststand, dass das unterste Quintil überhaupt solche Ausgaben getätigt hat. (Mit Verlaub: diese Passage ist kabarettreif.)

Der Verordnungsgeber habe insoweit „ins Blaue hinein“ geschätzt und abgezogen. (Rdnr. 175). Von einer „schlüssigen Ermittlung des regelleistungsrelevanten Verbrauchs (könne) insoweit keine Rede“ sein. Das sei eine „freihändige Schätzung“ (Rdnr. 176) und darauf hätte der Gesetzgeber verzichten müssen.

Die Abschläge etwa für Wohnen, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe, bei der Ausgabenposition Strom (Kürzung um 15 %) und für Verkehr oder bei der Ausgabenposition Ersatzteile und Zubehör für Privatfahrzeuge (Kürzung um 80 %) seien ebenfalls nicht tragfähig begründet.

Schließlich sei weder aus der Begründung zur Regelsatzverordnung 2005 noch aus anderen Erläuterungen ersichtlich, warum die Ausgaben bei der Bildung des regelleistungsrelevanten Verbrauchs vollständig unberücksichtigt blieben. Gleiches gilt für den „Außerschulischer Unterricht in Sport und musischen Fächern“ (Rdnr. 180).

An dieser Passage wird der Skandal des bisherigen Verfahrens besonders deutlich.

Der Verweis auf die unterbliebene Rentenanpassung ist untauglich
Im Übrigen sei die unterbliebene Heraufsetzung der Regelleistung mit dem Verweis auf die gleichfalls unterbliebene Rentenanpassung (zum 1. Juli 2004) ein „sachwidriger Maßstabwechsel“. (Rdnr. 184) Die Rentenanpassungsfaktoren wiesen keinen Bezug zum Existenzminimum auf und stimmten somit nicht mit den nach dem Sozialgesetzbuch maßgeblichen Richtgrößen des Verbrauchs und der Lebenshaltungskosten überein. Mit dem Statistikmodell eher vereinbar wäre beispielsweise eine Hochrechnung anhand der Preisentwicklung in den Ausgabepositionen.

Diese Verfassungsverstöße seien auch durch die Korrekturen mit den neuen Regelsatzverordnungen der Jahre 2007 und 2009 nicht beseitigt worden, (Rdnr. 199) der Strukturfehler sei letztlich nur fortgeschrieben worden.

Ein schöner Gruß an Frau von der Leyen aus Karlsruhe
Auch der Zuschlag von 100 Euro für schulpflichtige Kinder durch das Familienleistungsgesetz sei „offensichtlich freihändig geschätzt“. (Rdnr. 203)

Wenn schon die Regelleistung verfassungswidrig ist, dann auch alle davon abgeleiteten
Weil nun schon die Ermittlung der Regelleistung (von 345 Euro) nicht verfassungsgemäß ist,
sind logischerweise auch alle davon abgeleiteten Regelleistungen nicht verfassungskonform, also auch die Regelleistungen für in Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Partner in Höhe von 180 % des entsprechenden Bedarfs eines Alleinstehenden. (Rdrn. 188f.)

Verfassungswidrig ist dementsprechend auch das Sozialgeld für Kinder. Allein ein 40%-iger Abschlag von der Regelleistung für einen alleinstehenden Erwachsenen sei keine vertretbare Methode zur Bestimmung des Existenzminimums eines Kindes im Alter bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs.

Der Gesetzgeber habe „jegliche Ermittlungen“, das Existenzminimum eines minderjährigen Kindes festzustellen, unterlassen „obwohl schon Alltagserfahrungen auf einen besonderen kinder- und alterspezifischen Bedarf hindeuten. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“ (Rdnr. 191) Der „vorgenommener Abschlag von 40 % gegenüber der Regelleistung für einen Alleinstehenden beruht auf einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung.“ (Rdnr. 191)

Bei schulpflichtigen Kindern wird das Gericht ausnahmsweise besonders nachdrücklich: „Ein zusätzlicher Bedarf ist vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten. Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existentiellen Bedarf. Ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen, weil sie ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien, wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner, die Schule nicht erfolgreich besuchen können. Bei schulpflichtigen Kindern, deren Eltern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch beziehen, besteht die Gefahr, dass ohne hinreichende staatliche Leistungen ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können.“ (Rdnr. 192)

Die bestehende gesetzliche Regelung bleibt weiter anwendbar
Das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungswidrigen Regelungen nur deshalb nicht für nichtig erklärt, weil damit jede gesetzliche Grundlage zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums fehlen würde und damit ein Zustand geschaffen würde, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der bisherige. (Rdnr. 210)

Da das Gericht sich nicht für befugt hält, selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen und da die derzeitigen Regelleistungen nicht evident unzureichend seien, bleiben die verfassungswidrigen Normen bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber weiterhin anwendbar. (Rdnr. 212)

Jubel ist fehl am Platze
Wie selbst Betroffene und Sozialverbände dieses Urteil als einen Erfolg für die Armen feiern können und warum gerade noch die mitverantwortliche Ministerin von der Leyen von einem „Sieg für die Bildung von Kindern“ reden können, verstehe ich nicht. Ich erkenne in dem Urteil nicht viele Ansatzpunkte dafür, wie sich dadurch die Situation der Armen im Lande verbessern würde.
Außer dass das Berechnungsverfahren für die Hartz-IV-Regelsätze nachgebessert werden muss, ist kaum etwas gewonnen.
Ja, die besonderen Belastungen müssen berücksichtigt werden und der Aufwand für die Schulbildung der Kinder muss nachvollziehbar berechnet werden. Daraus könnte sich aber bestenfalls die Hoffnung auf eine Erhöhung des Sozialgeldes für Kinder speisen. Doch selbst diese Erwartung dürfte sich nicht kampflos erfüllen lassen.

Und was nützt die schönste verfassungsrechtliche Begründung eines individuellen Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, wenn weiter Geringverdiener gegen Hartz-IV-Empfänger aufgehetzt werden und die sog. Leistungsträger Hilfsbedürftige als Schmarotzer abstempeln?

Immerhin müsste die Tatsache, dass nach dem Urteil gegen die Jobcenter nun auch noch die Bemessung der Regelsätze für verfassungswidrig erklärt worden ist, die Politik mit der Nase darauf stoßen, dass die Hartz-Gesetze insgesamt das Grundgesetz strapazieren und endlich eine grundlegende Korrektur erforderlich wäre. Eine Korrektur nämlich, die die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot endlich zu einem konkreten Rechtsanspruch erheben würde, wie das etwa im schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell der Fall ist.

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