Das Monsterprojekt Stuttgart 21, die Aussagen von Thilo Sarrazin im Verkehrsausschuss am 11. 6. 2018 und das dröhnende Schweigen der Politik

Winfried Wolf
Ein Artikel von Winfried Wolf

Am 11. Juni 2018 gab es im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags eine öffentliche Anhörung mit dem Titel „Ausstieg aus Stuttgart 21“. Thilo Sarrazin war dort als Sachverständiger geladen; er war 2000/2001 Netzvorstand der Deutschen Bahn AG. Laut dem seit Mitte Juli 2018 vorliegenden Wortprotokoll trug er dort in zwei Beiträgen höchst Interessantes vor. Und zwar erstens zu den Kosten von S21, zweitens zur Kapazität von S21 und vor allem zum Vorgang, wie das unwirtschaftlichste aller Bahnprojekte dann doch bevorzugt angegangen wurde. Von Winfried Wolf.

Die Kosten von S21

Zu diesem Thema führte Sarrazin aus: „Wir hatten damals bereits geschätzt, dass die Kosten [von Stuttgart 21; W.W.] nach Endabrechnung – damals gingen wir davon aus, dass das Projekt vielleicht 2015 fertig sein würde – […] sich irgendwo bei dem Doppelten und dem Dreifachen [der ersten Kalkulation; W.W.] einpendeln würden. Diese Zusammenhänge waren natürlich auch bei der Bahn und auch im Bahnvorstand bekannt. Hier begann der Punkt mit den normativen Vorgaben. Von Seiten der Bahnfinanzer wollte man natürlich jetzt nicht für Kosten Raum geben. Von Seiten der Ingenieure wollte man möglichst viel bauen. Von Seiten des Bundes wollte man möglichst niedrige Zahlen sehen. Also waren da (alle) […] dankbar dafür, dass die Zahlen nicht so hoch waren, weil man dann mehr bauen konnte. Diese Abläufe waren allen bekannt […] Insofern haben wir bei Stuttgart 21 etwas, was zeigt, was bei der Bahn üblich war. Nur zeigt es sich hier im besonders extremen Umfang. Denn es war ja ganz unten in allen Prognosen. Es gab damals zu diesem Vorhaben zwei Wirtschaftsgutachten, eins von der Unternehmensberatung Wibera, aus dem Jahr 2001, das sagte: das Vorhaben ist selbst dann, wenn man die Kostenrisiken nicht einbezieht, so nicht wirtschaftlich. Und es gab ein Gutachten von PWC vom Frühjahr 2001, welches unter der Annahme, dass kein Risiko eintritt […] eine knappe Wirtschaftlichkeit errechnete. Das bedeutete für jeden, der Zahlen übersetzte […] dass das Vorhaben unwirtschaftlich sein würde.“

In welcher Rangordnung stand Stuttgart 21?

Im zweiten Statement von Th. Sarrazin stellte dieser das Projekt S21 in einen Kontext unterschiedlicher Bahnprojekte und führte dazu u.a. das Folgende aus:

„Als ich mir das [die Infrastrukturprojekte der Bahn und die begrenzten Mittel; W.W.] damals [2000; W.W.] als der zuständige Netzvorstand anschaute, habe ich gesagt, wir müssen an die Sache anders rangehen. Die Frage [ist], was ist rentabel? Was ist nicht rentabel? […] Wichtig ist, damit wir die Mittel, die immer knapp sind, auch richtig verbauen, müssen wir im System eine Rentabilitätsrangordnung herstellen und müssen dann die jeweils rentabelsten Dinge machen. […] Wo sind die Kapazitätsengpässe? Wo gibt es den meisten Ertrag? Das waren damals ganz eindeutig gewisse Engpassfaktoren im Netz und das war der [notwendige; W.W.] Ausbau des Güterverkehrs. Bei uns standen zum Beispiel der sogenannte Eiserne Rhein [Bahnverbindung aus den Niederlanden nach Deutschland; W.W.] und die Zuführungsstrecke nach Basel ganz vorne. Dann fielen viele Dinge raus. Bei uns fielen damals schon raus die Projekte 8.1., 8.2., das war einfach nicht darstellbar [gemeint ist die Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin – München; W.W.] […] Und ganz tief unten, unter der 8.1., 8.2., stand das Projekt Stuttgart 21, was letztlich keinerlei Kapazitätserweiterung hat. Sondern eigentlich nur eine maßvolle Fahrzeitverkürzung und einen großen städtebaulichen Gewinn für die Stadt Stuttgart. Das stand ganz unten und hätte an sich […] nie in die Rentabilitätsrechnung eingehen können.

Nachdem das alles fertig war und ich das dem Konzernvorstand vorgestellt hatte und er das auch allgemein für sehr gut befand, bekam ich eines Tages den Auftrag – ich habe ihn natürlich auch umgesetzt – letztlich doch die Rahmenvereinbarungen für Stuttgart 21 zu verhandeln. […] Dann hab ich gefragt: Herr Mehdorn […] was ist ihr Motiv? Das ist doch völlig unrentabel. Ja, sagte er, das Motiv ist, dadurch gewinnen wir die Ausschreibung für den Nahverkehr – oder – damals gab es noch keine Ausschreibung – dafür gewinnen wir den ganzen Nahverkehrsvertrag für Baden-Württemberg. Und in der Abwägung ist das für das Unternehmen aus Konzernsicht so wichtig, dass wir das Risiko in Kauf nehmen. […] Das war die Antwort. Und so kam es zur Rahmenvereinbarung [zum Bau von Stuttgart 21; W.W.] und so kam man auf die Schiene. Natürlich sind das äußerst irrationale Systeme, denn es wirken unterschiedliche Kräfte. Bei Stuttgart 21 wirkten die örtlichen politischen Kräfte. […] Hier und da gab es auch eine Wahl und jeder hatte sein Lieblingsprojekt. Dann kam das zustande und irgendwie ist es auch zu erklären, es war nur nicht rational.“

Wie hoch war der widerrechtlich gewährte „Zuschuss“, der S21 möglich machte?

In derselben öffentlichen Anhörung ergänzte der Grünen-MdB Matthias Gastel nach demselben Wortprotokoll, dass das Land Baden Württemberg im Fall dieses „völlig überteuerten Nahverkehrsvertrags […] eine Milliarde Euro zu viel bezahlt“ hat.

Wobei es dabei nicht einmal um Landesmittel geht. Es geht hier um sogenannte Regionalisierungsmittel, die der Bund den Ländern, in diesem Fall Baden-Württemberg, zur Verfügung stellt – und zwar zum Zweck der Bestellung von Schienenpersonennahverkehr. Das Geld, mit dem S21 ermöglicht wurde, stammte nicht einmal aus der eigenen Kasse (die auch nur eine Art „Kasse der Vertrauens“ ist; Geld, das der Staat im Interesse der Steuerzahlenden zu verwalten hat). Indem man für eine mäßige Nahverkehrsleistung massiv zu viel zahlte, wurden gleichzeitig alle Regionen in Baden-Württemberg und die Fahrgäste im Schienenverkehr massiv geschädigt.

Wertung

Grundsätzlich war der Zusammenhang überteuerter Nahverkehrsvertrag – Stuttgart 21 bekannt. Es fehlte jedoch immer ein stichhaltiger Beleg. In einer Zusammenfassung der Thematik schrieb in KONTEXT 170 vom 2. Juli 2014 Jürgen Lessat, es mehrten „sich inzwischen die Indizien, dass die damalige schwarz-gelbe Landesregierung sich mit dem Milliardengeschenk den Tiefbahnhof Stuttgart 21 erkaufte.“ Auch der Bundesrechnungshof monierte 2006, dass „langfristige Zusicherungen von Nahverkehrsbestellungen bei der DB Regio im Gegenzug zur Durchführung und Mitfinanzierung von Bahnhofsprojekten wie Stuttgart 21 oder ICE-Bahnhof Jena-Paradies“ beigetragen haben könnten. Im KONTEXT-Artikel hieß es damals allerdings auch, dass „die Staatsanwaltschaft bislang keinen Handlungsbedarf“ sehe, jedoch „die Diskussion über einen neuen U-Ausschuss des Landtags“ begonnen habe. Zitiert wurde in dem Artikel auch der Grünen-Politiker Andreas Schwarz, wonach sich „eine strafrechtliche Bewertung des Verkehrsvertrags“ aufdränge. Und wörtlich: „Es wäre zu prüfen, ob der Verdacht der Untreue besteht.“ Die Möglichkeiten für eine solche „Prüfung“ haben sich mit der Anhörung vom 11. Juni 2018 offensichtlich wesentlich verbessert.

Damals – 2014 – erklärte eine Sprecherin der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, man habe bislang „keinen Grund tätig zu werden“, schließlich lägen „keine Strafanzeigen vor“. Auch hier haben wir eine neue Situation. Unter Bezugnahme auf die zitierten Sarrazin-Aussagen am 11. Juni 2018 erstatten am 26. Juni 2018 Dr. Eisenhart von Loeper und Dieter Reicherter eine Strafanzeige gegen den Ex-Bahnchef Hartmut Mehdorn „wegen Tatverdacht der Untreue“.

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