Eine „Kulturnation“ lässt ihre Kinder im Stich – Die Missachtung des Musikunterrichts ist ein Skandal

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Die musikalische Bildung wird in Deutschland missachtet. Das ist unsozial, kurzsichtig und gesellschaftlich destruktiv: Die Folgen sind soziale Spaltungen und eine verbreitete kulturelle Ödnis sowie der Verlust von „Soft-Skills“ und die Schaffung gesellschaftlicher Einzelkämpfer. Von Tobias Riegel

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Bis zu 80 Prozent des Musikunterrichts an deutschen Grundschulen fallen aus. Bis zu 80 Prozent des stattfindenden Unterrichts werden von fachfremden Seiteneinsteigern ausgeführt. Diese Zahlen des Deutschen Musikrats enttarnen die Lippenbekenntnisse einer sich um Nachwuchs bemühenden wohlhabenden Kulturnation als hohle Phrasen. Ab diesem Mittwoch kommen über 1500 Musikpädagogen aus ganz Deutschland zum 4. Bundeskongress Musikunterricht in Hannover zusammen. Der Präsident des Bundesverbands Musikunterricht Ortwin Nimczik hat zu diesem Anlass erneut vor einer weiteren Abwertung des Schulfachs Musik gewarnt. Man muss ihm zustimmen.

Es ist einerseits Zeichen einer neoliberal dominierten Zeit, dass alles, was nicht direkt verwertbar ist, also auch die Begeisterung für das Musizieren, kurzsichtig vernachlässigt wird – nachdem es als „gestrig“ und „verstaubt“ diffamiert wurde. Andererseits zeigt sich hier eine selbstzerstörerische Ader des Neoliberalismus: Die langfristigen Folgen der Missachtung der Musik sind nicht nur eine kulturelle Ödnis, sondern auch ein Schaden an „liberalen“ Zielen – etwa in Situationen des Wettbewerbs: Die Werke der deutschen Klassik werden zunehmend auch von einer gut ausgebildeten internationalen Konkurrenz dargeboten, mangels Nachwuchs könnte die deutsche Klassik-Elite ins Hintertreffen geraten. Spitzenmusiker werden zwar nicht in der Grundschule ausgebildet – aber genau dort wird vielleicht das eine Kind entflammt, das später auf den großen Bühnen spielt.

Musik wird zur Privatsache: Benachteiligte Kinder haben Pech gehabt

Aber weder in diesem Text noch in der Realität sollte bezüglich des Musikunterrichts zu sehr auf einen elitären klassischen Kanon abgezielt werden. Denn Musik ist neben der Befriedigung durch eine technische Fertigkeit oder ein erfolgreiches Konzert ein wichtiges Kommunikationsmittel für den Alltag: Das Erlernen eines Instruments, das Spielen in der Band oder im Orchester, das Singen im Chor – es schützt vor Vereinsamung und gibt ganz allgemein Sicherheit. Insofern ist das Musizieren Grundlage für zahlreiche klassische „Soft-Skills“, die im Google-Zeitalter angeblich hohe Wertschätzung erfahren, wovon in der Realität neben Sonntagsreden nichts zu spüren ist.

Eher beweist der abwertende staatliche Umgang mit dem wichtigen Kulturgut Musik einmal mehr, dass sich nur Reiche einen armen Staat leisten können, wie Albrecht Müller kürzlich am Beispiel öffentlicher Schwimmbäder festgestellt hat. Denn wer seinem Kind eine angemessene Begegnung mit der Welt der Musik ermöglichen möchte, ist auf eigene Initiativen und private Akteure angewiesen – und auf das nötige Geld, diese zu bezahlen.

„Deutschland geht’s gut!“ – und sabotiert seine Musik-Bildung

Ortwin Nimczik, Professor für Musikpädagogik und Präsident des Bundesverbands Musikunterricht betont: „Das eine kann das andere nicht ersetzen! Also der Klavier-Unterricht, der beste Klavier-Unterricht, den es gibt, kann nicht den allgemein bildenden Musikunterricht ersetzen. Der beste Musikunterricht in der Schule kann nicht leisten, dass er alle Schüler in einem Instrument ausbildet.“ Und er fordert: „Die musikalische Bildung darf nicht zur Privatsache werden.“

Der Generalsekretär des Deutschen Musikrates Christian Höppner bringt im „Deutschlandfunk“ das Missverhältnis zwischen den „Deutschland-geht’s-gut!“-Rufen der Politik und einer sabotierten Musik-Bildung auf den Punkt: “Und ich finde, dass das in der viertreichsten Industrienation der Welt ein Skandal ist, dass wir uns so eine defizitäre Bildung erlauben. Es geht nicht darum, lauter kleine Mozarts heranzuzüchten, sondern es ist einfach die Grundüberzeugung, dass Musik ein ganz wesentlicher Bestandteil ist, mit dem jedes Kind zumindest in Berührung kommen soll.“

Event-Kultur soll neoliberale Defizite überdecken

In Berührung kommen – darum geht es. Angebote machen, Begeisterung schaffen und dann die Kinder selber machen lassen. Es geht auch um Entscheidungsfreiheit, so Höppner weiter: „Wenn es sich für einen anderen Weg entscheidet und sagt: Ich mach lieber Sport oder dies oder jenes. Dann ist das vollkommen in Ordnung, um da nicht missverstanden zu werden. Aber ich muss doch zumindest erst mal diese musikalische Vielfalt, die wir haben, in Ansätzen auch versuchen, den Kindern nahe zu bringen.“ Wie man eine musikalische Grundbegeisterung entfacht, ist zweitrangig: Die Lagerfeuer-Klampfe kann dabei ebenso die Strategie sein wie die Cello-Suite.

Vor allem aber braucht es Kontinuität und einen Abschied vom Glauben an die Event-Kultur: Was passiert, wenn Simon Rattles Zirkus weiterzieht? Es ist beim Musikunterricht wie bei vielen Bereichen, die vom Neoliberalismus attackiert wurden: Punktuelle, im Zweifel private Leuchtturm-Projekte sollen die teure langfristige staatliche Grundversorgung ersetzen und die Sicht auf den alltäglichen Mangel blenden – diese Strategie muss in die geistige Verarmung führen.

Ein altes Problem trifft auf eine blockierte Verwaltung

Das Problem ist uralt, neuen Auftrieb erhielt das Thema 2003, als Ex-Bundespräsident Johannes Rau den „1. Berliner Appell“ für angemessene musikalische Bildung unterstützte. Seitdem wurde der Appell mehrfach aktualisiert – und die Missstände eher drängender. Ein wichtiges Hindernis, das der Verbesserung der Situation im Wege steht, ist die träge föderale Organisation des deutschen Bildungswesens und das destruktive Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen.

Ein Grundsatzpapier des Deutschen Musikrats trägt dem Problem der föderalen Zersplitterung schon im Titel Rechnung: „Musikalische Bildung in Deutschland – ein Thema in 16 Variationen“. Höppner vom Deutschen Musikrat beschreibt sein Leid mit der Selbstblockade der Kultusminister-Konferenz (KMK): “Die KMK ist schon ein besonderes Gebilde und ich ärgere mich einfach über das Tempo. Das ist wirklich ein Schildkröten-Tempo, was die Veränderungs-Fähigkeit betrifft. (…) Da haben wir wirklich ein Systemproblem mit der KMK, die da nicht durchgreifend genug, nicht nachhaltig genug und nicht schnell genug reagiert auf notwendige Veränderungen.“

Fatale „Lebenszeitverdichtung“

Ein zentrales Problem, auf das die KMK reagieren sollte, ist die von neoliberalen Jüngern in Medien und Politik vorangetriebene allgemeine „Lebenszeitverdichtung“, die sich laut Deutschem Musikrat etwa in gestrafften und überladenen sowie von musischem „Ballast“ befreiten Schulkarrieren ausdrückt. Das Phänomen der Verdichtung steht in Zusammenhang mit der musikalischen Bildung, weil die künstlerischen Fächer – einem überholten Setzen von Prioritäten folgend – immer die ersten sind, die den „ernsten“ Inhalten weichen müssen:

„Dahinter verbergen sich prägende Erlebniswelten zum Beispiel gemeinsamen Musizierens mit allen dazugehörenden sozialen Bindungen und Verbindungen, die nun wegfallen. Wenn keine Zeit mehr da ist, weil dieselbe Menge des Lehrstoffs in einem Schuljahr weniger zu bewältigen ist, weil die „Abminderungsstunden“ für die Band, den Chor, das Orchester gestrichen worden sind, dann geht ein Teil jener Erlebniswelt verloren, die Schule ein Alleinstellungsmerkmal verschafft. Sie ist die einzige Institution, die alle Kinder und Jugendlichen erfasst und mit der ganzen Bandbreite der zu vermittelnden Themen die Chance auf eine individuelle Profilbildung hat.“

Eine Gesellschaft von Einzelkämpfern?

Ohne neuen und „unabwendbaren“ Entwicklungen prinzipiell feindlich gegenüberzustehen: Beim Thema „Verdichtung“ des Kinder-Alltags sollte auch die massiv eingeforderte „Digtalisierung des Klassenzimmers“ kritisch diskutiert werden. Denn einerseits müssten zugunsten eines in Maßen sicher sinnvollen und unumgänglichen „IT-Unterrichts“ noch mehr Musik-, Kunst- und Werkstunden gestrichen werden. Andererseits sollte eine Schule der Zukunft – eben um den Folgen einer digitalisierten und dadurch zersplitterten Gesellschaft entgegenzutreten – gerade das Musische, Künstlerische, Handwerkliche und alles Gemeinschaftsbildende stärker fördern, anstatt es abzubauen.

Gerade das Zusammenspiel aus weit verbreiteter Online-Isolation und fehlendem schulischen Ausgleich birgt Gefahren: Werden den Kindern in der Schule nicht viel intensiver als heute Techniken der gemeinsamen Kreativität vermittelt – etwa über die Musik – so könnte sich die Gesellschaft bald dem Problem von massenhaft auftretenden Einzelkämpfern gegenübersehen.