Geleakter Giftgas-Bericht: Ließ sich die OPCW für Syrien-Propaganda einspannen?

Geleakter Giftgas-Bericht: Ließ sich die OPCW für Syrien-Propaganda einspannen?

Geleakter Giftgas-Bericht: Ließ sich die OPCW für Syrien-Propaganda einspannen?

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Ein Dokument der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) sorgt für Aufsehen. Von der OPCW wurde das Papier – ein kritischer Zusatz zur OPCW-Analyse des angeblichen Giftgas-Angriffs im syrischen Duma im Jahr 2018 – mutmaßlich unter Verschluss gehalten. Auf dem dadurch „geglätteten“ Bericht wurden schwere Vorwürfe gegen die syrische Regierung aufgebaut. Der Vorgang wirft Licht auf die medialen Verzerrungen zu Syrien und zum Giftgas-Komplex. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Seit einigen Tagen sorgt ein geleaktes Dokument der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) für Aufsehen. Von der OPCW wurde das Dokument – ein kritischer Zusatz zum OPCW-Bericht zum angeblichen Giftgasangriff im syrischen Duma im Jahr 2018 – mutmaßlich unter Verschluss gehalten. In den großen Medien wird es auch nach dem Leak bislang nicht thematisiert. In dem Papier wird die Aussage des offiziellen OPCW-Berichts stark in Zweifel gezogen. Mit der Behauptung, die syrische Armee hätte damals Giftgas eingesetzt, wurden auch Bombardierungen durch NATO-Staaten begründet – als „Reaktionen“. Dieser Text ist eine Ergänzung zum aktuellen Artikel “Syrien-Propaganda bricht zusammen“.

Das von Ian Henderson unterzeichnete OPCW-Dokument wurde von der Initiative „Syrien, Propaganda und Medien“ (WGSPM) veröffentlicht. Laut der australischen Journalistin Caitlin Johnstone wird Ian Henderson zwischen 1998 und 2018 in OPCW-Dokumenten in Führungspositionen aufgeführt. In einem aktuellen Artikel geht auch der Reporter Robert Fisk im britischen „Independent“ auf die Vorgänge ein – es ist aktuell laut Google-News-Suche der einzige Beitrag zu den Vorgängen, der sich in einem großen westlichen Medium findet. Wer das Dokument durchsickern ließ, ist nicht bekannt.

„Giftgas in Duma“ – Späte Entlastung für die syrische Regierung?

Der „Gegen-Bericht“ thematisiert die physikalische Unwahrscheinlichkeit der OPCW-Darstellung der Vorgänge in Duma, wie etwa Stephen McIntire betont. So kommt der kritische Bericht, anders als die OPCW-Analyse, zu dem Schluss, dass die in Duma gefundenen Gas-Zylinder nicht aus der Luft abgeworfen wurden, sondern von Menschen am Boden platziert wurden. Er folgert, dass “die Abmessungen, Eigenschaften und das Aussehen der Zylinder und die Umgebung der Vorfälle nicht mit dem übereinstimmten, was zu erwarten gewesen wäre, wenn einer der Zylinder aus einem Flugzeug abgeworfen worden wäre“. Demnach sei die manuelle Platzierung der Zylinder an den Orten, an denen die Ermittler sie gefunden haben, “die einzig plausible Erklärung für Beobachtungen am Tatort“.

Diese Sicht entlastet die syrische Regierung und nährt den Verdacht, dass die mit Al-Kaida verbundene Gruppe Jaysh Al-Islam das Gas damals in Duma freigesetzt hat. Es gab schon 2018 erhebliche Zweifel an der von der OPCW, westlichen Medien und Politikern befeuerten Darstellung. Diese Zweifel wurden jedoch durch massive Kampagnen übertönt, um „Vergeltungs-Schläge“ rechtfertigen zu können. Das Dokument – seine Echtheit vorausgesetzt – holt die damaligen Zweifel an den Medienkampagnen nun mit Macht zurück. Die damals aktiven Redakteure schweigen bislang beschämt zu der neuen Entwicklung.

Ist das Dokument authentisch?

Doch ist das Dokument authentisch? Die Echtheit des mutmaßlich unter Verschluss gehaltenen „Gegen-Berichts“ scheint durch Reaktionen der OPCW bestätigt, die etwa der britische Journalist Peter Hitchens zitiert. Darin weist die OPCW den Vorwurf der Zensur zurück:

„Das Technische Sekretariat der OPCW bekräftigt, dass die FFM die etablierten Methoden und Praktiken einhält, um die Integrität ihrer Ergebnisse zu gewährleisten. Das FFM berücksichtigt alle verfügbaren, relevanten und zuverlässigen Informationen und Analysen im Rahmen seines Auftrags zur Ermittlung seiner Ergebnisse. (…) Bei der Formulierung des Abschlussberichts über den Vorfall in Douma, Syrien, am 7. April 2018 wurden alle Informationen berücksichtigt, beraten und abgewogen. Am 1. März 2019 veröffentlichte die OPCW ihren Abschlussbericht über diesen Vorfall, der vom Generaldirektor unterzeichnet wurde. (…) Gemäß seinen festgelegten Richtlinien und Praktiken führt das Technische Sekretariat der OPCW eine interne Untersuchung über die unbefugte Freigabe des betreffenden Dokuments durch.“

Die Medien schweigen

Nicht nur Johnstone fordert: „Dies sollte eine wichtige Schlagzeile auf der ganzen Welt sein, aber natürlich ist es das nicht. Zum Zeitpunkt dieses Schreibens schweigen die Massenmedien über das Dokument“. Johnstone betont die Verantwortung und das Versagen der Medien:

„Das Dokument entlarvt nicht nur eine wichtige Nachrichtengeschichte, die militärische Folgen hatte, sie weckt auch Zweifel an einer renommierten internationalen unabhängigen Untersuchungsstelle und untergräbt die grundlegenden Annahmen, auf denen seit vielen Jahren die westliche Berichterstattung zu dem Thema beruht. Die Bürger (…) gehen davon aus, dass, wenn es nicht in den Nachrichten ist, es keine große Sache ist. Das ist eine große Sache, das ist eine große Geschichte, und sie wird nicht berichtet – dadurch wird auch das Schweigen der Medien zu einem Teil der Geschichte.“

“Die anderen Berichte der OPCW zu Syrien müssen jetzt auch als wertlos behandelt werden“

Einige Beobachter betonen nun, dass sich die OPCW durch die mutmaßliche Unterdrückung des kritischen Berichts (endgültig) als unseriös offenbart hat. Und dies nicht nur in Bezug auf Duma, sondern etwa laut Johnstone, „in Bezug auf alles, einschließlich der syrischen Geschichte als Ganzes und des Skripal-Falls im Vereinigten Königreich. Alles, was die OPCW jemals über den vermeintlichen Einsatz von Chemikalien berichtet hat, unterliegt heute einer sehr berechtigten Skepsis.“

Der britische Journalist Jonathan Cook kommt zu einem ähnlich vernichtenden Urteil: “Die anderen Berichte der OPCW zu Syrien müssen jetzt auch als wertlos behandelt werden.“ Die nun geleakte Gegenmeinung der OPCW-Ingenieure würde belegen, „dass der Abschlussbericht aktiv verdeckte Beweise dafür enthält, dass der Chemieangriff in Duma von Dschihadisten und den Weißhelmen inszeniert wurde”, wie Cook twitterte.

Giftgas-Propaganda wirkt bis in die LINKE

Der Duma-Angriff wurde nicht nur von westlichen Medien und NATO-Militärs benutzt – auch in der Debatte innerhalb der Linkspartei diente er dazu, Politik zu machen, wie die NachDenkSeiten berichtet haben. Wird sich also der LINKEN-Politiker Jan Van Aken nun bei den Genossen entschuldigen, die er beim letzten Parteitag mit emotionalen Phrasen und mit, wie es nun scheint, falschen Tatsachen zum Schweigen gebracht hat? Denn um gegen Russland, die syrische Regierung und einen entsprechenden Partei-Antrag Stimmung zu machen, hatte Van Aken auch Duma thematisiert und sich auf dieses Niveau herabgelassen:

„Und dann werde ich richtig wütend: Im Antrag steht, es ist bis heute unklar, ob in Syrien überhaupt Giftgas eingesetzt worden ist. Das ist ein Schlag ins Gesicht von den tausenden von Menschen, die in Khan Scheikun, die in Ghouta, die in Duma ermordet worden sind – nachweislich und, durch die Vereinten Nationen nachgewiesen, mit Giftgas.“

Die Mitschuld der Redakteure

Wie bereits erwähnt, haben viele deutsche Redakteure die Berichte der OPCW für massive und militärisch folgenschwere Anschuldigungen gegen die syrische Regierung genutzt. Etwa haben Medien 2018 in einen damaligen OPCW-Vorab-Bericht bereits falsche Tatsachen hinein-interpretiert, wie die NachDenkSeiten berichtet haben. So hatten etwa die ARD, der „Spiegel“, das ZDF, der „Stern“ und zahlreiche andere Medien im Sommer 2018 behauptet, der Vorab-Bericht der OPCW zu Duma würde Spuren oder gar den militärischen Einsatz von Chlorgas feststellen. Das war damals schon sehr zweifelhaft. Die kritische Stimme, die nun durch das geleakte Dokument bekannt wurde, stützt diese und zahlreiche weitere Zweifel noch einmal erheblich. Werden die damals aktiven Medien nun mit der gleichen publizistischen Energie auf diese Wendung hinweisen?

Weil dazu wenig Hoffnung besteht, hier einige Empfehlungen zum Thema: Weitere aktuelle Hintergründe zu Syrien und zur OPCW finden sich etwa hier oder hier oder hier. Auf den NachDenkSeiten wurde der Komplex etwa hier oder hier oder hier thematisiert.

Titelbild: vladm / Shutterstock