Russischer Impfstoff – gerechtfertigte Zweifel und zweierlei Maß

Russischer Impfstoff – gerechtfertigte Zweifel und zweierlei Maß

Russischer Impfstoff – gerechtfertigte Zweifel und zweierlei Maß

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Der russische Covid-19-Impfstoffkandidat „Sputnik V“ macht zur Zeit weltweit Schlagzeilen. Vor allem deutsche Kommentatoren übertreffen sich dabei gegenseitig mit teils schrillen Warnungen vor den möglichen Nebenwirkungen und kritisieren einhellig die dramatische Verkürzung der Testphasen. Das ist auch vollkommen berechtigt. Bei all der Kritik scheinen die Kommentatoren jedoch zu vergessen, dass Russland sich hier nur unwesentlich vom Rest der Welt unterscheidet. Auch Deutschland, die EU und die USA haben die Testphasen für „ihre“ Impfstoffkandidaten massiv verkürzt und sich für Milliarden Euro sogar bereits Impfstoffe gesichert, die überhaupt noch nicht in einer größeren Studie auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet wurden. Von Jens Berger.

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So wenig bislang in den wissenschaftlichen Datenbanken über den russischen Impfstoffkandidaten „Gam-COVID-Vac Lyo“ zu finden ist, so professionell ist seine Vermarktung. Alleine dessen neuer Name „Sputnik V“ weckt Erinnerungen an eine Zeit, in der die damalige Sowjetunion in einem geschichtsträchtigen Wettlauf die Nase vorn hatte. Daran will auch die Hochglanz-Internetseite zum Impfstoffkandidaten erinnern, auf der er in verschiedenen Sprachen vollmundig als „weltweit erster registrierter Impfstoff“ gegen Covid-19 gefeiert wird. Das ist natürlich falsch, sind doch bereits sechs andere Impfstoffkandidaten international für die dritte klinische Testphase freigegeben und somit ebenfalls registriert. Der vermeintliche Sputnik-Schock löste in Deutschland vor allem harsche Kritik aus. So kritisierte die Tagesschau die „Zulassung“ des Impfstoffs und die Süddeutsche wetterte sogleich gegen „Putins üble Impfstoff-Propaganda“. Sogleich entflammte ein Streit, ob Russland den Impfstoff nun eigentlich „registriert“ oder „zugelassen“ habe.

Offenbar ist beides der Fall. Laut staatlichen Arzneimittelregister wurde der Impfstoff für die dritte klinische Phase „registriert“, aber auch gleichzeitig für die Verabreichung an „eine kleine Anzahl von Bürgern aus gefährdeten Gruppen“, wie beispielsweise Mitarbeitern des Gesundheitssystems, „zugelassen“ – und zwar bis zum 1. Januar 2021. Erst dann darf der Impfstoff bei positiven Ergebnissen aus den nun folgenden Tests auch regulär und in großem Umfang eingesetzt werden. Die dritte klinische Phase begann übrigens in der letzten Woche und soll sowohl in Russland als auch in Brasilien, Saudi Arabien und Mexiko stattfinden. Ist dieses Vorgehen ungewöhnlich und zu kritisieren?

Ungewöhnlich ist es ganz und gar nicht. In Deutschland nennt sich dieses Verfahren „bedingte Zulassung“ und wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte als Möglichkeit einer vorzeitigen Zulassung unter Auslassung der sonst nötigen Testphasen für Arzneimittel in den folgenden Szenarien genannt:

  • zur Behandlung, Vorbeugung oder ärztlichen Diagnose von zu schwerer Invalidität führenden oder lebensbedrohenden Krankheiten bestimmt sind
  • in Krisensituationen gegen eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit eingesetzt werden sollen
  • zur Behandlung von seltenen Leiden eingesetzt werden

Die ersten beiden Fälle treffen auf Covid-19 zu, eine bedingte Zulassung für „Sputnik V“ wäre also genau so auch in Deutschland oder auf Ebene der EU bzw. in den USA möglich, wo es sehr ähnliche Ausnahmeregelungen gibt. Nur weil die Zulassung nicht ungewöhnlich ist, heißt dies jedoch nicht, dass sie nicht gleichzeitig zu kritisieren wäre.

„Sputnik V“ ist ein neu entwickelter Vektorimpfstoff auf Basis zweier menschlicher Adenoviren. Diese Viren wurden genetisch verändert und sollen Erbmaterial des neuartigen Coronavirus in menschliche Zellen einschleusen, die daraufhin SARS-CoV-2-Antigene produzieren und dem Abwehrsystem präsentieren. Soweit die Theorie. In der Praxis gibt es jedoch keinen einzigen humanen Impfstoff, der nach dieser Methode hergestellt wurde, sich als wirkungsvoll herausgestellt hat und international zugelassen wurde. Und harmlos ist das Verfahren auch nicht. Ganz im Gegenteil. Es kann zu einer Überstimulation, Kreuzimmunitäten und Verstärkereffekten kommen, die zu teils schweren Nebenwirkungen führen. Im schlimmsten Fall können solche Impfstoffe sogar die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Geimpften später erkranken.

So geschehen bei einem Impfstoffprojekt des Pharmamultis Merck (MSD), bei dem auf Basis eines humanen Adenovirus Erbmaterial des HIV-Virus in die Zellen eingeschleust werden sollte, um die Probanden immun gegen AIDS zu machen. Auch hier zeigten 2005 die ersten beiden Phasen der klinischen Erprobung eine „gute Immunantwort“, während der dritten klinischen Phase mussten die Tests jedoch zwei Jahre später abgebrochen werden, da sich keine immunisierende Wirkung zeigte. Doch das war längst nicht alles. Spätere Studien haben gezeigt, dass die Geimpften sogar häufiger an AIDS erkrankt sind als die Placebo-Kontrollgruppe. Besonders pikant ist in diesem Zusammenhang, dass bei der Merck-Studie mit dem Adenovirus 5 das gleiche Trägervirus eingesetzt wurde, das auch die Moskauer Forscher für den „Sputnik-Impfstoff“ für die zweite Impfdosis ausgewählt haben. Weitere Impfstoffprojekte mit diesem Trägervirus gegen Tuberkulose, Ebola und die Vogelgrippe erwiesen sich ebenfalls als erfolglos. Das alles heißt freilich nicht, dass der russische Impfstoff per se wirkungslos oder gar gefährlich sei – er könnte es jedoch sein und ohne weitreichende, sorgfältige Tests ist dies nicht herauszufinden. Wenn der Impfstoff allerdings bereits jetzt in kleinem Umfang an Freiwilligen und in größerem Umfang an Probanden einer dritten klinischen Studie getestet wird, ist dies nicht in dem ambitionierten Zeitrahmen herauszufinden, den sich die Hersteller des Impfstoffs gesetzt haben. Bereits im September soll schließlich mit der Massenproduktion begonnen werden.

Diese Kritikpunkte treffen jedoch ebenso – wenn auch mit leichten Abstrichen – auf die anderen Impfstoffkandidaten zu. So hat die auf einen Monat verkürzte und zusammengefasste erste und zweite klinische Testphase des Vektorimpfstoffprojekts der Universität Oxford und des Pharmamultis AstraZeneca bereits bedenkliche Nebenwirkungen offenbart – Follow-Up-Studien ergaben bei 46% der Probanden einen Verlust der weißen Blutkörper, woraus eine Schwächung des Immunsystems resultiert. Nichtsdestotrotz startete bereits im Juni – vor dem Ergebnis der Follow-Up-Studien – die dritte klinische Testphase des Impfstoffkandidaten in Großbritannien und Brasilien. AstraZeneca hat auch bereits konkrete Schritte für die Produktion und den Vertrieb von zwei Milliarden Impfdosen eingeleitet. So sicherte man Großbritannien 100 Millionen Dosen, der Impfallianz rund um Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden 400 Millionen Dosen und den USA 300 Millionen Dosen zu – die USA bezahlten dafür bereits 1,2 Mrd. US$; wohlgemerkt für einen Impfstoff, der zu diesem Zeitpunkt in der frühen klinischen Testphase war. Besonders interessant ist diesem Zusammenhang das Timing. AstraZeneca sichert den europäischen Ländern die ersten Dosen bereits für „Ende dieses Jahres“ zu – dabei wurde die Laufzeit der dritten klinischen Phase erst jüngst von Juli 2021 auf Oktober 2021 verlängert. Würde Deutschland den Impfstoff also erst nach dem regulären Abschluss der ohnehin schon verkürzten klinischen Testphase erhalten, stünde er erst frühesten Ende nächsten, aber nicht bereits Ende dieses Jahres zur Verfügung. Wie soll das also gehen? Ohne eine „bedingte Zulassung“ nach russischem Vorbild kann der anvisierte Zeitplan gar nicht eingehalten werden.

Und AstraZeneca ist da keine Ausnahme. Die dritte klinische Testphase des deutsch-amerikanischen Impfstoffkandidaten der Firmen BioNTech und Pfizer endet offiziell am 11. November 2021, die des Kandidaten der US-Firma Moderna sogar erst am 27. Oktober 2022. Dennoch haben beide Unternehmen bereits konkrete Verträge mit der US-Regierung unterzeichnet, die einen Einsatz ihrer Impfstoffe zu Beginn des nächsten Jahres beinhalten. Noch dramatischer ist die zeitliche Diskrepanz beim vielzitierten deutschen Projekt des Unternehmens CureVac. CureVac befindet sich zur Zeit noch in der ersten klinischen Testphase und die soll offiziell auch bis zum August 2021 gehen. Dennoch peilt das Tübinger Unternehmen, an dem sowohl der Bund als auch Bill Gates beteiligt sind, nach eigenen Aussagen eine „Zulassung in der ersten Jahreshälfte 2021“ an – der Impfstoff soll also zugelassen werden, bevor nach regulärer Studienpraxis die Ergebnisse der ersten klinischen Testphase ausgewertet sind. Gleichzeitig plant das Unternehmen bereits die Produktion von einer Milliarde(!) Impfdosen pro Jahr. Ist das nicht auch unverantwortlich?

Wir müssen also nicht nach Russland blicken, um eine unverantwortliche Verkürzung der sonst üblichen Zulassungskriterien für die Impfstoffkandidaten festzustellen. Der einzige erkennbare Unterschied zwischen den „westlichen“ Projekten und „Sputnik V“ ist, dass die westlichen Forscher ihre Ergebnisse zumindest vergleichsweise transparent veröffentlichen. Aber das macht die Sache auch nicht besser, da die immense zeitliche Straffung der Studien eine sorgfältige Beobachtung potentieller Nebenwirkungen ohnehin nicht gewährleistet. Nicht nur Russland, sondern die ganze Welt spielt voll auf Risiko; nur dass dies unsere Leitartikler offenbar nur dann interessiert, wenn es um Russland geht. Die Methode kennen wir aus anderen Bereichen: Je schriller man das russische Vorgehen kritisiert, desto besser steht man selbst da. In diesem Fall ist dies jedoch trügerisch und gefährlich.

Titelbild: JHDT Productions/shutterstock.com

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