Ludwig Erhards „Formierte Gesellschaft“

Ludwig Erhards „Formierte Gesellschaft“

Ludwig Erhards „Formierte Gesellschaft“

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Der frühere Bundeskanzler, bekannter als Bundeswirtschaftsminister im Kabinett Adenauer, hat in seiner Zeit als Bundeskanzler eine eigenartige Idee in die öffentliche Debatte eingeführt. Die Formierte Gesellschaft. Siehe hier in der Darstellung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Ein Zitat aus diesem Text beschreibt recht gut, um was es dem Erfinder dieser gesellschaftspolitischen Vorstellung ging:

„Er war überzeugt, dass sich arbeitsteilige Wirtschaftsprozesse nur dann reibungslos vollzögen, wenn jede Entscheidung in der Wirtschaft vom Bewusstsein „der schicksalhaften Verbundenheit aller mit allen” getragen werde. Modernes Wirtschaften erfordere Arbeitsteilung und Spezialisierung, und das heiße: Jeder sei vom anderen abhängig; jeder sei darauf angewiesen, dass sämtliche Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehen ihre Leistungen bereitwillig erbringen und anderen zur Verfügung stellen würden. Auf Vorschlag des Publizisten Rüdiger Altmann brachte Erhard die unausweichliche Verbundenheit aller einzelnen in der modernen Wirtschaftsgesellschaft auf den Begriff der Formierten Gesellschaft.“

Ich kann mich noch gut an die Einführung des Begriffs Formierte Gesellschaft erinnern. Die gesellschaftspolitische Vorstellung entsprach ganz und gar nicht dem, was viele der Jüngeren empfunden haben. Die Behauptung von der schicksalhaften Verbundenheit aller mit allen hielten wir für einen ideologischen Trick und für antidemokratisch. Ludwig Erhard hat mit diesem Vorstoß vermutlich die Entstehung der 68er-Bewegung mit gefördert.

Ludwig Erhard hat den Begriff auf dem Düsseldorfer Parteitag der CDU im Jahre 1965 eingeführt. Hier ist die Passage seiner entsprechenden Rede, entnommen dem Protokoll des Parteitages ab Seite 708:

Die deutsche Gesellschaft von heute ist keine Klassengesellschaft mehr. Selbst die Sozialdemokraten mußten sich dieser Entwicklung beugen, dem Klassenkampf abschwören und sich als Volkspartei anpreisen. Die deutsche Gesellschaft hat indessen in den letzten Jahren tiefgreifende Veränderungen und Wandlungen erfahren, die keineswegs selbstverständlich oder gar voraussehbar waren. Die Neuorientierung unserer Gesellschaft wurde vielmehr ganz bewußt vollzogen. Ihr lagen Ideen zugrundel Die „Soziale Marktwirtschaft” brachte die Befreiung unseres Volkes von wirtschaftlicher Not und sozialem Zwang. Das Programm „Wohlstand für alle” wurde Realität. Auch für die Zukunft, meine Freunde, kann kein dürftiger Pragmatismus eine gewollte Ordnung ersetzen. Die moderne Demokratie Ist auf die Mitarbeit aller ihrer Gruppen angewiesen; sie kennt deren Macht, aber sie weiß auch um ihre Grenzen.

Alle diese Gruppen fügen sich heute der Demokratie ein; keine steht mehr im Gegensatz zum Rechtsstaat und zur Verfassung. Diese Gesellschaft von heute ist keine Gesellschaft von kämpfenden Gruppen mehr. Sie ist immer mehr im Begriff, Form zu gewinnen, das heißt, sich zu formieren. Aber auch in dieser „Formierten Gesellschaft” – Ich präge diesen Begriff ganz bewußt — werden die Gruppen die Parteien nicht ersetzen können. Mehr denn Je bedarf unsere Gesellschaft übergreifender politischer Willensträger und Willensentscheidungen. Insofern hat sich in diesem Wandlungsprozeß nicht der Charakter, wohl aber die Aufgabe der Union verändert. Die Union, meine Freunde, ist heute als der ständige Appell an unser Volk zu begreifen, sich zu einer großen Willenseinheit zusammenzuschließen. (Beifall) Zwar Ist die politische Strategie der Union eine solche des Ausgleichs, aber darüber hinaus, meine Freunde, stellt sich ihr auch immer wieder die Aufgabe, Entscheidungseinheit zu sein. Die großen Fragen, die wir im Innern und nach außen zu lösen haben, können nicht nach den Sonderinteressen der einzelnen Gruppen beantwortet werden. Es sind Fragen, die die ganze Nation angehen. Nation verstehen wir in diesem Bezüge nicht mehr im Sinne eines überholten Nationalismus; wir verstehen die Nation in der Perspektive der sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Entwicklung als eine „Formierte Gesellschaft”. Nur diese „Formierte Gesellschaft”, die nicht mehr von sozialen Kämpfen geschüttelt und von kulturellen Konflikten zerrissen ist, deren Leistungsfähigkeit aber auch nicht mehr, wie im Zeitalter des Imperialismus, von der Beherrschung kolonialer Rohstoffquellen und Absätzmärkte abhängig ist, — nur eine solche in den Funktionen gebundene, aber keineswegs in der Form erstarrte Gesellschaft ist in der Lage, dem modernen Staat in seiner wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Entwicklung ein festes Fundament zu geben, das zugleich das Fundament des Friedens unter den Völkern ist.

Die „Formierte Gesellschaft” — und das ist das Gegenteil einer uniformierten Gesellschaft sozialistischer Prägung oder kollektivistischen Geistes — bedarf zu ihrem Funktionieren nicht der imperialistischen Ausbeutung fremder Völker, und noch entschiedener lehnt sie das kommunistische System der Ausbeutung des eigenen Volkes ab. (Beifall) Was heißt also dann: „Formierte Gesellschaft?” Es heißt, daß diese Gesellschaft nicht mehr aus Klassen und Gruppen besteht, die einander ausschließende Ziele durchsetzen wollen, sondern daß sie, fernab aller ständestaatlichen Vorstellungen, ihrem Wesen nach kooperativ ist, das heißt, daß sie auf dem Zusammenwirken aller Gruppen und Interessen beruht. Diese Gesellschaft, deren Ansätze in System der Sozialen Marktwirtschaft bereits erkennbar sind, formiert sich nicht durch autoritären Zwang, sondern aus eigener Kraft, aus eigenem Willen, aus der Erkenntnis und dem wachsenden Bewußtsein der gegenseitigen Abhängigkeit. Ergebnis dieser Formierung muß sein ein vitales Verhältnis zwischen sozialer Stabilität und wirtschaftlicher Dynamik, die Konzentration auf eine fortdauernde Erhöhung der Leistung, die Sicherung einer expansiven Weiterentwicklung der Wirtschaft sowie auch die Förderung und Nutzbarmachung des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Es ist eine Gesellschaft des dynamischen Gleichgewichts. Eine solche Gesellschaft ist nicht autoritär zu regieren, sondern kann ihrem inneren Wesen nach nur demokratisch sein. Aber sie braucht modernere Techniken des Regierens und der politischen Willensbildung. Wir sollten uns darüber klar sein, daß auch unsere politische Ordnung einem natürlichen Entwicklungsprozeß unterworfen ist. Die Formierte Gesellschaft verlangt also neue Impulse unserer politischen Parteien und des Parlamentarismus selber. Die parlamentarische Demokratie darf nicht länger den organisierten Interessen unterworfen sein; im Gegenteil verlangt dieser bewußte Schritt die größere Autonomie unseres Parlamentarismus. Ich nenne als Beispiel die Ausschußarbeiten des Bundestages. Auf ihnen beruht ein wesentlicher Teil der Wirksamkeit des Parlaments überhaupt. Zweifellos ist die Tatsache, daß in diesen Ausschüssen vor allem Fachleute sitzen, hoch einzuschätzen. Aber damit ist offensichtlich auch die Gefahr verbunden, daß sich in diesen Ausschüssen Gruppeninteressen bedenklich verdichten, weil man dort eben allzusehr „unter sich” bleibt. (Beifall) Darunter leiden dann allzuleicht die gesamtpolitischen Aspekte, denen das Parlament als Ganzes verpflichtet sein muß. Vielleicht brauchen wir ein neues Spezialistentum, nämlich Spezialisten für allgemeine Interessen. (Beifall) Ahnliches gilt für die Aufgaben der staatlichen Verwaltung. Unser Bestreben muß dahingehen, die Konsequenzen aus der bisherigen Entwicklung zu ziehen, und zwar planmäßig und entschlossen. Das ist nicht zuletzt auch eine Fragestellung, die unser geistiges Leben, wissenschaftliche Erkenntnis und unsere Kultur angeht. Die „Formierte Gesellschaft” ist auch kein Modell, das etwa nur im Gehäuse des Nationalstaates funktioniert. In ihr kann sich vielmehr das Bild eines geeinigten Europas regen. Sie ist darüber hinaus geeignet, eine Leitidee für die Neugestaltung unseres Erdteils wie auch für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung anderer Völker zu sein. …

Soweit der Auszug aus der Rede des Bundeskanzlers Ludwig Erhard auf dem Düsseldorfer Parteitag der CDU im Jahre 1965. Historisch interessierten Leserinnen und Lesern mit viel Zeit wäre zu empfehlen, in dem Protokoll von über 700 Seiten zu stöbern. Parteitage so umfangreich zu dokumentieren, war damals übrigens üblich.

Noch eine Anmerkung: Ludwig Erhard überlebte als Bundeskanzler die Einführung des Begriffs Formierte Gesellschaft nur um ein gutes Jahr. Im Dezember 1966 war seine Kanzlerschaft beendet und ersetzt durch die erste Große Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger und Vizekanzler Willy Brandt.

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