Das Bulletin of the Atomic Scientists hat seine berühmte Weltuntergangsuhr gestern auf 90 Sekunden vor Mitternacht umgestellt. Das ist der niedrigste Wert, den das von Albert Einstein gegründete Institut jemals gemeldet hat. Noch nie war die Gefahr eines atomaren Konflikts mit all seinen verheerenden Folgen nach Ansicht der Wissenschaftler so groß. Die NachDenkSeiten teilen diese Sorge, genauso wie die meisten unserer Leser. Anders sieht es offenbar in Politik und Medien aus. Dort scheint man den Verstand an der Wache abgegeben zu haben und sich gegenseitig zum Überschreiten immer neuer Roter Linien anzufeuern … so lange bis die Weltuntergangsuhr zwölf schlägt. Gibt es denn in den Reihen der Politik und in den Redaktionsstuben niemanden, der jetzt Rückgrat zeigt und sich diesem Wahnsinn entgegenstellt? Ein Hilferuf von Jens Berger.
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Es ist nur noch zum Verrücktwerden. Man muss nur den Fernseher einschalten, die Zeitung aufschlagen oder im Internet die großen Nachrichtenportale aufrufen – schon wird man geradezu erschlagen von einer Kriegseuphorie, wie sie unser Land wohl zuletzt im Sommer 1914 miterleben musste. Aus Helmen für die Ukraine wurden erst Drohnen, dann Raketenwerfer, dann Schützenpanzer und nun Kampfpanzer. Eine Rote Linie nach der anderen wird überschritten. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die Rufe nach Kampfjets, Bombern und Langstreckenraketen laut werden; samt dem Personal, das zunächst Ukrainer ausbildet, sie dann vor Ort unterweist und am Ende selbst die Waffen bedient. Ich übertreibe? Keineswegs oder hätten Sie vor zehn Monaten die Lieferung von Kampfpanzern für möglich gehalten? Schritt für Schritt marschiert Deutschland in den Krieg und merkt es noch nicht einmal. Man fühlt sich im Recht und auf der richtigen Seite der Geschichte. Doch das traf bislang in all den tausenden Kriegen der Menschheitsgeschichte zu. Es gab noch nie ein Land, das in den Krieg gezogen ist und sich dabei im Unrecht und auf der falschen Seite der Geschichte sah.
Wenn die Schlachten geschlagen, die Söhne gefallen und die Töchter geschändet worden sind und die Heimat in Schutt und Asche liegt, beginnt dann oft der Prozess der rückwärtsgewandten Selbstzweifel. Warum habe ich damals mitgetrommelt? Ja, warum nur? Natürlich war man niemals der Täter. Man ist immer nur Opfer; Opfer einer grassierenden Kriegshysterie. Man hat sich treiben lassen. Wie konnte es nur dazu kommen? Ja, wie nur?
Wir kennen die Antwort und sie ist noch nicht einmal sonderlich originell. Es kann ja nicht sein, dass jeder Bundestagsabgeordnete der SPD, der FDP und noch nicht einmal der Grünen die Gefahr eines Dritten Weltkriegs nicht sieht und einverstanden mit der Position seiner Fraktion und der Politik der Bundesregierung ist. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich schon was dabei gedacht, als sie postulierten, dass jeder Bundestagsabgeordnete „ausschließlich seinem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“ ist. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, dieses Gewissen einmal zu konsultieren? Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, den Mund aufzumachen, laut Widerspruch zu äußern und den ganzen Wahnsinn zu stoppen? Wer jetzt schweigt, wird womöglich für immer schweigen.
Und wie sieht es eigentlich in den Redaktionen aus? Es kann doch nicht sein, dass es dort nur Kriegstreiber gibt. Dann hätten unser Bildungssystem und die Journalistenschulen epochal versagt. Das kann und will ich nicht glauben. Womit wir beim Berufsethos wären. Auch und gerade Journalisten sollten wissen, dass das Gewissen mehr als eine Plattitüde aus Sonntagsreden ist. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, dieses Gewissen einmal zu konsultieren? Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, den Mund aufzumachen, laut Widerspruch zu äußern und den ganzen Wahnsinn zu stoppen? Wer jetzt schweigt, wird womöglich für immer schweigen. Und diesmal wird es nach Millionen Toten auch keine Gelegenheit für rückwärtsgewandten Selbstzweifel mehr geben. Denkt dran, liebe Kollegen. Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht! Wer noch bei Verstand ist, sollte jetzt aufwachen. Sonst wachen wir nie wieder auf.
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Titelbild: Bulletin of the Atomic Scientists