17. Juni 1953: Propaganda statt Wahrheit auch nach 70 Jahren

17. Juni 1953: Propaganda statt Wahrheit auch nach 70 Jahren

17. Juni 1953: Propaganda statt Wahrheit auch nach 70 Jahren

Ein Artikel von Tilo Gräser

Fotoausstellungen, Konferenzen von Parteien, Bundestagsdebatte, Zeitzeugen- und Politikerreden und mehr – das ganze erinnerungspolitische Propagandaarsenal wird seit Tagen aufgefahren, um in diesem Jahr an den 17. Juni 1953 in der DDR zu erinnern. An dem Tag vor 70 Jahren habe es im zweiten deutschen Staat einen „Volksaufstand für Freiheit und Einheit“ gegen die von der Sowjetunion gestützte Diktatur der SED gegeben, wird verkündet. Der sei von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen worden. Doch es sind auch andere Sichten möglich. Von Tilo Gräser.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Ereignisse vor 70 Jahren werden erneut zurechtgebogen, bis sie in den vorgegebenen Rahmen passen. Es gilt auch hier das Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Und so werden in den meisten offiziellen Darstellungen Hintergründe, Zusammenhänge und Interessen ausgeblendet, weggelassen und verschwiegen. Denn es gilt anscheinend zu zeigen, dass den zweiten deutschen Staat, die DDR, von Beginn an niemand gewollt habe, erst recht nicht die Arbeiter und Bauern, auf die er sich berief. Dabei wird vor allem die Rolle der westorientierten Bundesrepublik und ihrer westlichen Führungsmächte von deren heutigen Erben gern ausgelassen. Darin gleichen sie jenen, die auch in der DDR die Ereignisse verfälschten und die Ursachen und Hintergründe verschwiegen.

„Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR war von Anfang an auch ein Kampfplatz der Geschichtsschreibung in Ost und West. Das dürfte zum 70. Jahrestag des Ereignisses nicht viel anders sein.“ Das vermutet zu Recht die Publizistin Daniela Dahn in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe 12/2023 der Zweiwochenschrift Ossietzky. „Was auf beiden Seiten gern unterschlagen wurde, war der Kontext der Nachkriegsgeschichte, in der es durchaus noch offen war, zu welcher Ordnung sich ein geteiltes oder gar vereintes Deutschland entwickeln würde.“

Wiederbelebte Russophobie

Dahn schreibt auch: „Zu erwarten ist, dass gerade in der jetzigen Russophobie der Mythos vom ‚durch die sowjetische Armee brutal und blutig niedergeschlagenen‘ Aufstand wiederbelebt wird.“ Wie zur Bestätigung wurde am Montag in Berlin Unter den Linden eine Fotoausstellung mit mehreren großen Tafeln eröffnet, auf dem Mittelstreifen direkt gegenüber der russischen Botschaft. Dabei zog laut Berliner Zeitung Anna Kaminsky „Parallelen zwischen den sowjetischen Panzern, die den ‚Aufstand für demokratische Werte in der DDR‘ niederwalzten, und dem heutigen russischen Angriffskrieg in der Ukraine“. Kaminsky ist die Direktorin der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ und findet, solche Parallelen würden das heutige Gedenken „umso wichtiger“ machen.

Aus Platzgründen soll hier nicht weiter auf die konkreten Ereignisse vor 70 Jahren eingegangen werden. Diese sind in zahlreichen Publikationen und auf Webseiten nachlesbar, unter anderem in dem vielbeachteten Buch „Diesseits der Mauer – Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“ der Historikerin Katja Hoyer. Stefan Heym hat das Geschehen in Berlin in seinem Roman „Fünf Tage im Juni“ beschrieben.

Nur so viel dazu: Das Datum 17. Juni „ist das Kennwort für zehntägige Unruhen in der DDR“, schrieb 2003 der Historiker Jochen Černý. Die ersten Kundgebungen habe es bereits am 12. Juni in Weimar und Brandenburg an der Havel gegeben, wo es um versprochene Freilassungen von Häftlingen gegangen sein soll. Am 13. Juni sollen im thüringischen Eckolstädt 250 Menschen den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen gefordert haben, was anderswo erst am 17. Juni verlangt wurde.

Protest in Ost und West

Der Historiker Jörg Roesler stellte 2013 fest: „701 Städte und Gemeinden waren seinerzeit Schauplatz der Proteste. Das klingt gut. Auch dass 1,2 Millionen Menschen auf den Straßen demonstrierten. Allerdings waren das nur etwa sechs Prozent der damals 18,2 Millionen DDR-Bewohner. In annähernd 1.000 Betrieben wurde am 17. und 18. Juni gestreikt! Sicher beachtlich, aber in den übrigen 19.000 Industriebetrieben ging offenbar alles seinen gewohnten Gang.“

Am 17. Juni 1953 „haben sich vor allem die Arbeiter als Hauptbetroffene gewehrt gegen das, was damals Sparpolitik genannt wurde und heute Austeritätspolitik heißt“, so Roesler 2019 in einem Interview. Er verwies auf einen ähnlichen Vorgang im Jahr 1948 in der britisch-US-amerikanischen Bi-Zone, an den jüngst auch die Publizistin Dahn in Ossietzky erinnerte.

Im Oktober 1948 kam es in Stuttgart zur Protestkundgebung der Gewerkschaften gegen die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates unter Ludwig Erhard, mit Zehntausenden. Sie forderten unter anderem, ‚Wirtschaftsdiktator‘ Erhard abzusetzen, der für unsoziale Bestimmungen in der Währungsreform und Verringerung des Realeinkommens verantwortlich gemacht wurde. Die Antwort der Besatzungsmacht USA bestand aus Tränengas, berittener Polizei und Panzern. Dahn dazu: „Am Abend hatte das Zentrum ein ‚kriegsähnliches Aussehen‘, wie die Zeitungen schrieben, Rädelsführer wurden verhaftet und im Raum Stuttgart der Ausnahmezustand verhängt.“

Erinnerungslücken im Westen

Die Publizistin fragt zu Recht, warum sich daran in der Bundesrepublik anscheinend niemand erinnert. Für den Historiker Siegfried Prokop ist der Vorgang gar das Vorbild für den Einsatz sowjetischer Panzer fünf Jahre später gegen die Arbeiterproteste in der DDR. „Man muss dabei berücksichtigen, dass zu dieser Zeit der Kriegszustand noch nicht beendet war“, erklärte Prokop 2020 in einem Interview. „Der Kriegszustand wurde in der DDR erst 1954 für beendet erklärt.“

Er machte auf den von Dahn erwähnten Kontext der Ereignisse aufmerksam: „In der Regel wird vernachlässigt, dass der 17. Juni ein Kulminationspunkt zweier Konfliktstränge war:

  1. einer veränderten Deutschlandpolitik der UdSSR von Ende Mai bis Ende Juni 1953, die auf einen Kompromiss mit dem Westen aus war; die Churchill-Rede vom 11. Mai 1953 bildete dazu den Ausgangspunkt!
  2. der Systemkrise des Ostblocks am Ende der Stalin-Ära, die vor allem für die DDR mit einer Überforderung der Kräfte verbunden war: Reparationszahlung, Kasernierte Volkspolizei KVP (nach Stalin eine Armee in gleicher Stärke wie die deutsche Armee im Westen), Bezirksbildung, LPG-Bildung und ‚Verschärfung des Klassenkampfes‘.“

Prokop wie auch Roesler, beide aus der DDR, widersprachen nicht nur der in dem untergegangenen Land üblichen Bezeichnung der Ereignisse als „faschistischem“ bzw. „konterrevolutionärem Putsch“. Sie wandten sich ebenso gegen das Etikett „Volksaufstand“ wie auch gegen die Vorstellung einer „verdrängten Revolution“, wie sie unter anderem der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk vertritt. Roesler stimmte der Einschätzung des Historikers Dietrich Staritz zu, der frühzeitig von einer „Arbeiterrebellion“ gesprochen hatte.

Dahn erinnert auch an einen anderen vergessenen Fakt: Damals streikten von April bis Juni 1953 auch die Westberliner Bauarbeiter immer wieder für höhere Löhne. Und sie fragt in Ossietzky: „Haben die wiederholten Berichte der Berliner Zeitung darüber womöglich die Kollegen in Ostberlin ermutigt?“

Keine prokapitalistischen Forderungen

Die Arbeiter hätten gegen die Verschlechterung ihrer Lage gekämpft, begründete Roesler das. „Die war eingetreten durch die Verringerung des Lohnes in Folge von Normerhöhungen. Die Normen waren nicht so hart wie im Kapitalismus, sondern ein bisschen weicher. Die SED-Führung entschloss sich dazu in einer schwierigen Situation in Folge der Aufrüstung, zu der die DDR verdammt wurde, nachdem Stalin den Plan aufgegeben hatte, ein gesamtes, neutrales Deutschland zu erreichen, siehe die sogenannte Stalin-Note von 1952. Das war also der Ausgangspunkt: Mit einem Mal sollten die Arbeiter für dasselbe Geld mehr arbeiten. Doch die Arbeiter haben gesagt: „Wir denken nicht daran!“ Sie waren gegen die Normen, weil sie direkt in ihren Lebensstandard eingriffen. Daraufhin wurde verordnet, die Normen sind um so und so viel Prozent zu erhöhen. Dann kriegen sie weniger Geld.“

Das habe die Lebenslage der Arbeiter und ihrer Angehörigen verschlechtert. Hinzu kam eine Kampagne gegen kleine und mittelständische Unternehmen. Und als die Regierung nicht auf die ersten Proteste reagiert habe, „ohne Verständnis für die Lage der Arbeiter“, sei es umgesprungen. „Da wurde dann gesagt: Wenn diese Leute sowas machen, dann müssen sie weg!“ Eine der Losungen sei gewesen, „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille“. Gemeint waren die SED-Politiker Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. „Das hieß: Wir brauchen eine neue, eine andere Regierung. Die Wiederherstellung des Privateigentums und des Kapitalismus ist nicht gefordert worden.“

Roesler erklärte im Interview: „Welche politischen Meinungen die Arbeiter gehabt haben, das wissen wir natürlich nicht. Die hat ja keiner befragen können.“ Es sei nicht anzunehmen, „dass die alle den Sozialismus abschaffen wollten, im Gegenteil“. Er verwies auf Willy Brandt, der 1955 in seiner Schrift „Arbeiter und Nation“ geschrieben habe, dass von den Streikenden nirgends eine „restaurative Tendenz“ ausgegangen sei. Sie hätten dagegen „unzweideutige Vorbehalte“ gegenüber der Politik der Bundesregierung geäußert. „Das stammt immerhin von einem westdeutschen Politiker, der dicht dran war. Deshalb komme ich zu dem Schluss: Es war eine Arbeiter-Rebellion, aber keine Revolution oder ‚Aufstand gegen das Regime‘.“

Sowjetisches Eingreifen als Schlusspunkt

Der Historiker Prokop bezeichnete die Ereignisse vor 70 Jahren als eine „offene, gerechte Rebellion enttäuschter und verbitterter Arbeiter, Angestellter, vor allem in Großbetrieben und Großstädten“. Der Anteil die Intelligenz sei größer gewesen als lange angenommen, betonte er. Und verwies wie andere auf Aussagen des Historikers Arnulf Baring, der bereits 1965 geschrieben hatte: „Die Beteiligung an den Großkundgebungen in einigen Städten kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass der 17. Juni kein Aufstand des gesamten Volkes war. Das zeigen die Augenzeugenberichte ganz deutlich.“

Baring schrieb laut seinen Fachkollegen in seinem damaligen Buch über die Ereignisse von 1953: „Aber man täusche sich nicht: der Aufstand ist nicht durch die sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen aufmarschierten. Ihr Eingreifen war kein Wendepunkt, sondern hat nur einen Schlusspunkt gesetzt: die Streik- und Demonstrationsbewegung hatte sich im Laufe des Tages erschöpft, der Elan war versickert, der Aufstand in seinen Anfängen steckengeblieben.“

Doch solche Details stören anscheinend, wenn heute Propaganda gemacht wird, dass die sowjetischen Panzer einen „Volksaufstand“ niederwalzten. Das sowjetische Militär hatte am 17. Juni 1953 ab 13 Uhr den Ausnahmezustand in 167 der 217 Kreise der DDR verhängt, nachdem es zu zum Teil schweren gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen war. Das war laut dem Historiker Černý nicht nur in Berlin, sondern in den mitteldeutschen Industriegebieten und besonders in ehemaligen Arbeiterhochburgen wie Magdeburg, Leipzig, und Halle/Saale der Fall. Nicht nur in der Hauptstadt rollten sowjetische Panzer in die Städte, die laut Wladimir Semjonow, damals sowjetischer Hoher Kommissar in der DDR, schon am Vorabend dorthin beordert worden waren.

Schüsse in die Luft

Der ehemalige sowjetische Diplomat berichtete in seinen 1995 erschienenen Erinnerungen: „Die Leidenschaften kochten über. Um 11.00 Uhr erhielten wir die Weisung aus Moskau, das Feuer auf die Aufrührer zu eröffnen, militärische Standgerichte einzurichten und zwölf Rädelsführer zu erschießen. Die Mitteilung über die Exekutionen sollten überall in der Stadt ausgehängt werden. Da Sokolowski [sowjetischer Generalstabschef – Anm. TG] und ich aber über außerordentliche Vollmachten verfügten, handelten wir nicht nach dieser Weisung Moskaus und gaben lediglich den Befehl, über die Köpfe der Demonstranten hinwegzuschießen.“

Die Historikerin Hoyer schreibt in ihrem aktuellen Buch, dass die sowjetischen Panzer und Truppen auf die Demonstranten „losgelassen wurden“. Damit folgt sie dem vorherrschenden Narrativ. Der Historiker Baring schrieb 1965: „Überall in der DDR fuhren die sowjetischen Panzer – soweit sie gegen Demonstranten eingesetzt wurden – nur langsam in die Menge hinein, so dass sich die Menschen in Sicherheit bringen konnten; die Panzer sollten (wie der stellvertretende Ministerpräsident Otto Nuschke in seinem Rias-Interview sagte) nur ‚gleichfalls demonstrieren‘. Wo geschossen wurde, zielten die Soldaten in fast allen mir bekannten Fällen in die Luft.“

„Sicher, allein die Präsenz der Panzer war ein einschüchterndes Symbol von Gewalt“, so die Publizistin Dahn dazu. „Stark genug, um den Aufstand zu unterdrücken.“ Das suggerierte Bild sei aber falsch, wonach die friedlichen Demonstranten nach „chinesischer Lösung“ zusammengeschossen worden seien. „Fakt ist: Die sowjetischen Panzer hatten strengen Befehl, nicht zu schießen. Daran haben sie sich auch gehalten.“ Das sei selbst den Demonstranten schnell aufgefallen.

Keine Toten durch Panzer

„Eher sind die in den Luken stehenden jungen Panzerfahrer mit Steinen und Latten angegriffen worden, als dass diese Gewalt angewendet hätten. Ihre einschüchternde Wirkung hatte Grenzen.“ Während des gesamten Aufstandes sei kein einziger Mensch durch die Gewalt eines Panzers ums Leben gekommen, betont Dahn. „Es soll einen Unfall gegeben haben, bei dem ein Panzer in eine Baugrube gerutscht ist und dabei jemanden erdrückt hat.“ Sie habe die Angaben bei einem Faktencheck in der „Stasi-Unterlagenbehörde“ gefunden.

Dennoch gab es den Berichten zufolge Gewalt und neben zahlreichen Verhaftungen auch Todesopfer einschließlich einiger standrechtlich Verurteilter und Erschossener. Historiker Prokop zitierte im Interview aus dem einst streng geheimen sowjetischen Bericht über die Zeit vom 17. bis 20. Juni 1953, wo die Rede von 430.513 Streikteilnehmern und von 336.376 Demonstranten in der DDR gewesen sei. „Diesem Bericht zufolge waren 29 Tote plus elf ermordete Parteifunktionäre sowie sechs zum Tode durch Erschießen Verurteilte, wovon vier Urteile vollstreckt worden seien, als Opfer zu beklagen. Verwundet wurden danach 350 Demonstranten und 83 Parteifunktionäre und Polizisten. 6.521 Personen wurden den Angaben zufolge festgenommen und inhaftiert.“ Heute gilt die Zahl von 55 Todesopfern als belegt.

„Über die genauen Umstände der 55 Todesopfer des Aufstandes ist erstaunlich wenig bekannt“, schreibt die Publizistin Dahn. „Immerhin sind über 250 öffentliche Gebäude erstürmt worden, darunter Dienststellen der Polizei, der Staatssicherheit und der SED. Aus 12 Gefängnissen wurden 1400 Häftlinge befreit. Diese Aktionen waren oft von Demütigungen und gewaltsamen, bewaffneten Prügeleien von beiden Seiten begleitet.“

Moskauer Verantwortung

Die hausgemachte und tiefgehende Gesellschaftskrise der DDR (Prokop), die in die Juni-Ereignisse 1953 führte, war zu großen Teilen verursacht worden durch die Forderungen der sowjetischen Besatzungsmacht. Ohne die lief im Guten wie im Schlechten in der DDR fast nichts. Der Handlungsspielraum der DDR-Verantwortlichen blieb in den frühen 1950er Jahren „sehr begrenzt“, so der frühere Mitarbeiter von SED-Chef Ulbricht, Herbert Graf, 2008 in seinen Erinnerungen. Der sowjetische Diplomat Julij Kwizinskij, seit 1959 in der DDR tätig, sprach in seinen Erinnerungen von dem „Siegersyndrom“ auf sowjetischer Seite. Es habe die Vorstellung gegeben, „dass man sich in der DDR vieles erlauben konnte, was in anderen Ländern Osteuropas niemals geduldet worden wäre“.

Die DDR hatte keine Alternative, so der Historiker Roesler. „Die einzige Alternative wäre gewesen, man hätte versucht, Bestandteil Westdeutschlands schnell zu werden. Aber hier waren die sowjetischen Truppen. Also ich sehe keine Alternative dazu. Es war auch ein bisschen unglücklich für die DDR, dass Nikita Chruschtschow erst gewissermaßen in diesem Moment, nach Stalins Tod Anfang März 1953, in Moskau an die Macht kam, und noch keineswegs als der Herrscher, der er später war. Chruschtschow hatte ein anderes Konzept für die DDR. Das hat sich dann auch im ‚Neuen Kurs‘ ausgezahlt.“

Dieser „Neue Kurs“ war, auch in Folge des Moskauer Kurswechsels, schon vor dem 17. Juni beschlossen worden. Weil aber die Normenerhöhungen nicht gleichzeitig zurückgenommen wurden, konnten damit die Streiks und Demonstrationen nicht mehr verhindert werden. Auf die reagierte die SED laut Roesler mit dem Ende der Sparpolitik und der Normenpolitik. „Sie kann sich das leisten, weil die Sowjetunion das jetzt mitfinanziert. Dazu gehört, dass die Einnahmen der ab 1954 aufgelösten SAG-Betriebe, in sowjetischem Besitz, voll an die DDR gehen. Es sind auch die Besatzungskosten verringert worden.“

Der Historiker stellte klar: „Aber sie konnte es sich dann auch leisten, einsichtig zu sein dank der Hilfe der Sowjetunion, die sie aber erst in diese Situation 1952 gebracht hat.“ Natürlich gehört zu den Folgen auch das massive Vorgehen der in ihrer Macht gesicherten SED-Führung nicht nur gegen Streikende, oftmals Gewerkschafter, sondern auch gegen interne Kritiker.

Westlicher Teilungskurs

Angesichts der Tatsache, dass der 17. Juni in der Bundesrepublik ab 1954 als „Tag der deutschen Einheit“ bis 1990 als gesetzlicher Feiertag galt, noch ein kurzer Blick auf die Reaktionen im Westen:

Natürlich kann bei der Frage nach den Ursachen nicht weggelassen werden, dass längst der Kalte Krieg als Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West tobte. Die westliche Politik gegen das sozialistische Lager, samt „Roll back“, „Containment“ und Sanktionen, hatte Folgen auch für die Menschen in der DDR. In der Bundesrepublik bereitete ein staatlich finanzierter „Forschungsbeirat“ den „Tag X“ zur Übernahme der DDR vor.

Der reichweitenstarke US-Sender Rias wurde offen und indirekt benutzt, um die Stimmung in der DDR zu beeinflussen. „Durchgängig waren alle privaten, parteigebundenen und amtlichen antikommunistischen Organisationen in irgendeiner Weise am Aufstand beteiligt“, schrieb der Historiker Bernd Stöver 2002 nach Studien in US-Archiven. Das alles aber wäre wirkungslos gewesen, wenn es nicht die auslösenden hausgemachten Probleme gegeben hätte, so der Historiker Roesler.

Am 17. Juni trafen die drei westlichen Besatzungsmächte in ihren Berliner Sektoren Maßnahmen, die eine Eskalation vermeiden und eine Ausbreitung der Demonstrationen nach West-Berlin bzw. die Beteiligung von West-Berlinern an den Ereignissen in Ost-Berlin verhindern sollten. „In diesem Sinne vermieden die Westmächte in einem Protestschreiben an den sowjetischen Kommandanten am 18. Juni den Eindruck, dass sie die Aufständischen unterstützten“, schrieb die Historikerin Marianne Howarth 2003.

Die Westmächte hätten sich durch die Juni-Ereignisse 1953 in ihrem Kurs bestätigt gesehen, die Bundesrepublik weiter in den Westen zu integrieren. „Damit war sowohl für den Westen als auch für den Osten der Kurs und die Geschichte der deutschen Teilung bis zum Herbst 1989 bestimmt“, so Howarth. Die auch in der DDR-Bevölkerung vorhandenen Wünsche nach der Einheit des Landes seien „ständige Mahnung“ gewesen, „am bisherigen Kurs festzuhalten, der auf eine Wiedervereinigung Deutschlands nach westlichen Vorstellungen im Interesse aller Deutschen zielte“. Ansätze im Westen für einen Ausgleich mit der Sowjetunion und auch einer möglichen deutschen Einheit nach Stalins Tod im März 1953 waren lange vor dem 17. Juni gescheitert.

Eine der bis heute möglicherweise gültigen Lehren aus den Ereignissen vor 70 Jahren beschrieb Egon Bahr, der das Geschehen in Berlin als Rias-Journalist miterlebte, in dem Buch „Ostwärts und nichts vergessen“: „Mit einer Bewegung von unten kann man nichts machen, alle Versuche, der Sowjetunion ihren Einflussbereich zu entreißen oder zu destabilisieren, waren sinnlos.“ Das habe sich auch später in Ungarn und der ČSSR gezeigt. Das habe ihn überzeugt: „Wir können überhaupt nur etwas ändern, wenn es von oben geschieht, im Einvernehmen mit Moskau. Die waren die einzigen, die die Macht hatten, etwas zu verändern.“ Er sei mit dieser Erkenntnis damals „relativ allein“ gewesen, so der 2015 verstorbene Bahr. Er stünde damit heute wieder ziemlich allein.

Titelbild: © Tilo Gräser

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