Brasilien – Wie “post-faktische” Hetze die Ehefrau des Ex-Präsidenten Lula tötete

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Am 5. Februar erlag Marisa Letícia Lula da Silva, die 66jährige Ehefrau des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva, den Folgen einer Gehirnblutung, nachdem sie am vorausgegangenen 24. Januar in ein Krankenhaus São Paulos mit einem Schlaganfall eingeliefert worden war. Frederico Füllgraf hat sich für die NachDenkSeiten Gedanken über den Tod Lula da Silvas gemacht und übt dabei scharfe Kritik an den Medien.

Das „arme Volk“ bei der Beerdigung von Marisa Letícia Lula da Silva

Die ehemalige First Lady Brasiliens entstammte väterlicher- und mütterlicherseits italienischen Einwanderern bescheidener bäuerlicher Herkunft aus der Lombardei und wuchs in der Nähe der Automobilbau-Hochburg São Bernardo do Campo, bei São Paulo, auf, wo auch die deutschen Konzerne VW und Daimler-Benz in den 1950er Jahren ihre ersten Montage-Werke errichteten.

Kaum dreizehn Jahre alt, unterbrach sie ihre Schulausbildung als minderjährige Verpackungs-Arbeiterin der Schokoladenfabrik Dulcora, der sie sechs Jahre lang bis zu ihrer ersten Ehe diente. Gerade zwanzig und schwanger, war sie wegen der Ermordung ihres Ehemannes, einem Taxifahrer, Frühwitwe. Als spätere Schulwärterin im öffentlichen Dienst heiratete sie Anfang der 1970er Jahre den ebenfalls früh verwitweten und aus Nordost-Brasilien zugewanderten Metallarbeiter Luis Inácio Lula da Silva. Der vierzigjährigen Ehe entstammen drei Söhne.

Wegen ihrer Unerschrockenheit zog Marisa Letícia bereits 1980 die Aufmerksamkeit auf sich. Während des historischen, mehr als zweimonatigen Streiks der Metallarbeiter São Bernardo do Campos, der im April 1980 in der Erstürmung der Metallarbeitergewerkschaft durch die Militärdiktatur gipfelte, organisierte sie einen Protestmarsch der Frauen gegen die Verhaftung des Gewerkschaftsvorstands unter Führung Lula da Silvas. Ihre mutige Initiative erinnerte in lebendigen Bildern an die Figur Esperanza Quintero im unvergesslichen Film “Das Salz der Erde” (1954) Herbert J. Biermans, über einen langandauernden Streik in Zinc Town, New Mexiko, USA.

Als historisch gilt der Streik von São Bernardo do Campo deshalb, weil er kurz darauf in die Gründung der Arbeiterpartei (PT) mündete, deren erste Fahne – weißer Stern auf rotem Hintergrund – sie mit eigenen Händen nähte.

Der Empfang der ehemaligen und sich diskret zurückhaltenden Fabrikarbeiterin durch Aristokratie, Staatspräsidenten und Kanzlerinnen, ihre vielfachen, internationalen Auszeichnungen – darunter das Große Verdienstkreuz des norwegischen Königshauses – waren seit Anbeginn der brasilianischen Elite ein Dorn im Auge. Das Mantra ihrer Sklavenhalter-Mentalität besagt, “jeder Affe auf seinen Zweig”. Was man den Lula da Silvas niemals verzeihen wollte, ist, dass sie, mutig, die Spielregeln verletzt und ihren ursprünglichen “Ast “verlassen hatten. Neben einem krankhaften, hinterwäldlerischen Antikommunismus, ist dieser vorurteilserfüllte Klassenhass eine der Triebfedern des neuen brasilianischen Protofaschismus.

Das indifferente, offizielle Deutschland

Während seiner acht Regierungsjahre (2003-2011) unternahm Lula da Silva 252 Auslandsreisen, die Mehrheit davon als Staatsbesuche. Als wiederholter Gast und Gastgeber der deutschen Bundesregierung wurde der brasilianische Präsident von seiner Gattin begleitet, die auf vielfältigen Bildern auch an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sehen war.

Wiederum, glaubt man dem deutschen Programm des Staatssenders Deutsche Welle (DW), ist Marisa Letícia weiter am Leben. Nicht als beherzter Wunsch, sondern als Ausdruck kalter Indifferenz, könnte man vermuten.

Jeder Versuch, ihren Tod auf der Suchmaschine der Online-Präsenz des Senders zu ermitteln, wird mit der lapidaren Mitteilung “0 Ergebnis(se)” beantwortet. Gibt man aber den kurzen Suchbegriff “Lula da Silva” in die gleiche Suchmaschine ein, so verweisen die – Zitat – “besten Ergebnisse” von DW-Online auf eine sinnbildliche Sturzflut tendenziöser Titel, die allesamt das ehemalige Staatsoberhaupt im Zwielicht des Korruptionsverdachts erscheinen lassen.

Der letzte Eintrag stammt vom Oktober 2016, und als vergeblich erweist sich jeder Versuch, die andere Seite, nämlich Lula da Silvas Verteidigung zu den Vorwürfen des mit den Korruptions-Ermittlungen beauftragten “Unternehmens Waschanlage” zu erfahren.

Stattdessen wird der Leser belehrt, “Gefürchteter Richter akzeptiert Anklage gegen Lula” (Eintrag vom 21.09.2016). Gemeint ist Ermittlungsrichter in erster Instanz, Sérgio Moro – Einsatzleiter vom “Unternehmen Waschanlage”, weltweit umstrittener Vortragsreisender und Medienstar – der im vergangenen Dezember eine von Protesten begleitete Rede an der Universität Heidelberg hielt (siehe Richter Sérgio Moro, die USA und der Angriff auf die brasilianische Demokratie).


Trauerfeier mit aufgebahrter Marisa Letícia am Sitz der Metallarbeiter-Gewerkschaft bei São Paulo

Marisa Letícia, ein Opfer politischer Lynchjustiz

Allerdings, während der von zigtausenden Menschen besuchten Trauerfeier um Marisa Letícia, musste sich der Richter die öffentliche Anklage des plötzlich verwitweten Lula da Silva gefallen lassen, wonach seine Ehefrau den seit Jahren andauernden, psychisch zermürbenden und niemals erwiesenen Anschuldigungen gegen ihn und seine Familie zum Opfer fiel.

Weil Moros Vorgehensweise wenig mit dem Recht, umso mehr mit der systematischen Verfolgung durch einen rechtsradikal unterwanderten Justizapparat zu tun hat, veranlasste bereits Mitte 2016 Lulas britisch-australischer Anwalt, Geoffrey Robertson, eine Petition an die UN-Menschenrechtskommission, sie möge die Justizbehörden in Brasilien verwarnen, sich auf das Primat der unabhängigen und nicht vorverurteilenden Rechtssprechung zurückzubesinnen (siehe Video: Geoffrey Robertson, Advogado Esp. Direitos Humanos).

Tugendhafte, doch fromme Wünsche Robertsons, der in dem im Januar bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten Richter Teori Zavascki den einzigen, eher zaghaften Mitstreiter am Obersten Gerichtshof (STF) in Brasília hatte. Wiederholt tadelte Zavascki als zuständiger STF-Berichterstatter in der Causa “Waschanlage” Richter Moro öffentlich vor unzulässigen Übergriffen. Doch so halbherzig, wie Moro sich bei Zavascki entschuldigte, so zeigte er Robertson verächtlich seine kalte Schulter.

Der Hass-Schürer

“Politische Sprache ist dazu geschaffen, Lügen wahrhaft und Mord respektabel klingen zu lassen”, schrieb einst George Orwell, Autor klassischer, literarischer Dystopien wie “1984” und “Farm der Tiere”.

Auf des Richters Konto summieren sich vielfältige Verbrechen. Im März 2016 ließ er illegal ein privates Telefongespräch zwischen der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff und Lula da Silva abhören. Dessen vollen Inhalt hätte der politisch befangene Richter seinem Vorgesetzten Zavascki zustellen müssen, stattdessen leitete er es insgeheim an den privaten, seit 2014 zum Sturz Rousseffs aufrufenden TV-Sender Globo zur landesweiten Ausstrahlung weiter.

Die Handlung Moros war ein Coup, sie verfolgte eine eindeutiges politisches Ziel: die Vereitelung Lula da Silvas als Präsidialamts-Minister der krisengeschüttelten Regierung Dilma Rousseff. Seine Amtsübernahme wurde noch am gleichen Tag durch Richter Gilmar Mendes vom Obersten Gerichtshof außer Kraft gesetzt.

Nicht genug, Moro belog den Obersten Gerichtshof und ließ Familie Lula da Silva weiter abhören.

Mitte März 2016 gab TV Globo ein neues Gesprächsprotokoll bekannt. Diesmal von einem Anruf einer der Söhne Lula da Silvas bei seiner Mutter. Verärgert über die hasserfüllten Aufmärsche der Kochtöpfe trommelnden weißen Minderheit gegen Dilma Rousseff entglitt Marisa Leticia der kernige Satz, “sollen sie sich doch ihre Kochtöpfe in den A… stecken!”.

Wenige Minuten später war der Satz im 8 Millionen Quadratkilometer großen Brasilien landesweit in aller Munde. Die perfide Handlung Moros diente einem zusätzlichen Zweck: dem Aufbau der Familie Lula da Silva zum Feindbild und die Umfunktionierung der von ihm und TV Globo ermunterten Proteste “gegen die Korruption” in Aufmärsche unter dem Motto “Lula in den Knast, Tod der PT!”.

“Lügen-Industrie seit 25 Jahren am Werk”

Der von Moro, seinem “Unternehmen Waschanlage” im Bündnis mit brasilianischen Mainstream-Medien seit Jahren ungestraft geschürte Hass gegen die Familie Lula da Silva fiel auf fruchtbaren Boden.

Ein sich vor wenigen Tagen ereigneter Fall schlägt noch immer Wellen der Empörung im demokratischen Umfeld Brasiliens. Während Marisa Leticia in Koma lag, tippte ein junger Arzt folgende Anleitung zum Mord per Whatsapp: “Einfach die Sauerstoffzufuhr kappen, dann wird sie sofort vom Teufel umarmt!”. Der Arzt soll von seinem Arbeitgeber entlassen worden sein, vor Gericht kam er jedoch bisher nicht.

Die faschistische Szene setzte die wildesten Verschwörungstheorien in den digitalen Netzwerken ab: die Trauerfeier sei “ein politisches Ablenkungsmanöver ohne einen Toten”, Marisa Leticia sei in Italien gesehen worden, verbreiteten die Urheber mit einem echten, jedoch zehn Jahre alten, einmontierten Foto.

“Die post-faktische Wahrheit ist das Bündnis der Lüge mit dem Vorurteil” (“A pós-verdade é a aliança da mentira com o preconceito”), beklagte die Wochenzeitschrift Carta Capital im November 2016, doch dieses Bündnis gegen Lula da Silva ist in- und außerhalb Brasiliens bereits seit 25 Jahren aktiv.

Lula da Silvas erster Versuch als Präsidentschaftskandidat wurde 1989 mit einer üblen Lüge seines damaligen Herausforderers, Fernando Collor de Mello, im Bündnis mit TV Globo vereitelt. Beide nötigten da Silvas uneheliche Tochter Lurian zur später von ihr reuevoll zurückgenommenen Falschaussage, sie sei niemals von ihrem Vater anerkannt worden.

Während Lula da Silvas Wiederaufstellung, vier Jahre später, “prophezeite” Mega-Spekulant George Soros gegenüber der Tageszeitung Folha de São Paulo, eine Regierung Lula “wäre das Chaos” und die USA würden seinen damaligen Herausforderer und gegenwärtig in der illegitimen Regierung Michel Temer amtierenden Außenminister José Serra – so wörtlich – “aufzwingen” (“Soros diz que EUA irão impor Serra e que Lula seria o caos”, 8.06,2002).

Luis Inácio Lula da Silva gewann die Wahl und wurde 2006 wiedergewählt. Unterstützt von einem kurzlebigen Auftrieb der internationalen Rohstoffpreise, erreichte Brasiliens Wirtschaft beneidete Wachstumsraten von 7 Prozent. Während seiner achtjährigen Amtszeit gelang ihm die Befreiung von 40 Millionen Brasilianer von der Armut mit massiven Investitionen, die Wiederbelebung der öffentlichen Gesundheits- und Bildungssysteme und schließlich eine von westlichen Mächten argwöhnisch beobachtete, unabhängige Außenpolitik, zu deren Pfeilern auch das BRICS-Bündnis mit China und Russland gehört.

Lula da Silva übertrug 2010 seiner Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff die Regierungsgeschäfte mit einer Popularitätsrate von 87 Prozent und steht sieben Jahre später wieder als Erster in der Wählergunst der für 2018 geplanten Präsidentschaftskampagne.

Das soll jedoch verhindert werden.

In den Startlöchern lauert der amtierende Außenminister José Serra auf die Erfüllung von Soros´ “Prophezeiung”. Wegen dem Erhalt und der Deponierung von 8 Millionen Euro illegaler Spendengelder auf geheimen Auslandskonten denunziert, wird Serra wie sämtliche seiner wegen schwerer Korruption angezeigten Parteifreunde der konservativen PSDB vom “Unternehmen Waschanlage” “gepanzert”, d.h. von der Anklage ausgenommen.

Das ist die Doppelmoral der Geschichte des Star-Richters Sérgio Moro. Sie kostete Marisa Leticia Lula da Silva das Leben.

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