Das „Kursbuch“ dümpelt auf dem „Reform“-Kurs

Ein Artikel von:

Im Kursbuch 157 zum Thema „Die große Entsolidarisierung“ schreibt Peter Ungut darüber, wie der „Darwinismus des Marktes“ zu einer „Agonie des Sozialen“ führt. Paul Nolte sieht dagegen in der mangelnden Akzeptanz der „Reform des Wohlfahrtsstaates“ nur „die große Sprachlosigkeit der Reformen“. Die beiden Aufsätze belegen prototypisch wie einerseits die vorgeschützten Begründungen für die „objektive notwendigen“ Reformen im Widerspruch zu den objektiven Tatsachen stehen(Peter Ungut) und wie andererseits die Reformbefürworter den fehlenden Bezug der Reformrhetorik zur Realität ausschließlich als ein „Sprachproblem“ abtun (Paul Nolte).

Das „Kursbuch“ war, als es noch von Suhrkamp, Wagenbach oder dem Rotbuch-Verlag herausgegeben wurde, einstmals ein literarisches Vierteljahresmagazin das zeitgeistige Entwicklungen für ein linksliberales und kritisch intellektuelles Publikum aufspürte. Das hat sich – erkennbar etwa an der Verteidigung des Irak-Krieges durch den Mitbegründer Hans Magnus Enzensberger – seit geraumer Zeit ziemlich geändert. Enzensbergers positivistische Anpassung an die „Macht des Stärkeren“ ist kennzeichnend auch für die „moderne“ Linie des Magazins: Anpassung an den Mainstream.
Das enttäuschte Publikum reagierte; die Zahl der Abonnenten stürzte von einstmals 50.000 auf 2400, so dass der Rowohlt Verlag Berlin, der die Zeitschrift 1990 übernommen hat, Mitte dieses Jahres erklärte, das “Kursbuch“ abstoßen zu wollen.
Der langjährige Mitherausgeber, Tilman Spengler, begleitet und unterstützt den „Agenda-Kurs“ von Anfang an mit einer Auswahl von mehr oder weniger anspruchsvollen Themen und Beiträgen. Ein typisches Beispiel dafür, dass das „Kursbuch“ den intellektuellen Kurs in Deutschland nicht mehr mitbestimmt, sondern auf der politischen Hauptströmung nur noch hin und her dümpelt, ist die Ausgabe 157 vom September 2004 unter dem Titel „Die große Entsolidarisierung“.

Da findet sich auf der einen Seite ein kritischer Beitrag eines Autors namens Peter Ungut zum Thema „Die Agonie des Sozialen“. Zu Unguts Biografie merkt die Redaktion nur an, dass er in einem Ministerium arbeite. (Muss er deshalb womöglich anonym bleiben?) Er belegt die „Regression“ des Sozialstaates und „das Niederringen und Ausmerzen eines auf Fürsorge ausgerichteten Verständnisses des Sozialen“ äußerst faktenreich.
Diesem Aufsatz folgt eine kritiklose Apologie der „Reform des Wohlfahrtsstaates“ von Paul Nolte, er führt das Akzeptanzproblem auf „die große Sprachlosigkeit der Reformen“ zurück. Nolte ist Professor für Neuere Geschichte an der (zur Ausnutzung von Steuervorteilen in den USA von der Rice University of Houston, Texas, angestoßenen) International University Bremen.
Wer die beiden Beiträge hintereinander liest, dem wird geradezu prototypisch die Spaltung des politischen Bewusstseins (unter den Intellektuellen) in unserer Gesellschaft vor Augen geführt.
Da belegt auf der einen Seite Peter Ungut mit einer Fülle von Fakten, dass die vorgeschobenen Begründungen für die gegenwärtigen „Reformen“ die Wirklichkeit verleugnen oder verdrehen und da erklärt auf der anderen Seite Paul Nolte den schwer vermittelbaren Bezug der Reformrhetorik zur Realität zu einem „Sprachproblem“. Nicht die Begründung für die Reformen sei das Problem, sondern „die große Sprachlosigkeit der Reformen“.

Peter Ungut beschreibt an Hand von Zahlen und Fakten, was der amerikanische Ökonom und New York Times-Leitartikler Paul Krugmann als „race to the bottom“ kritisiert. So etwa den Wettlauf um Steuersenkungen: „Der deutsche Spitzensteuersatz geht schon einmal von 53 auf 42 Prozent herunter, die Körperschaftssteuer wurde von 50 auf 25 Prozent gesenkt, die Vermögenssteuer abgeschafft. Das über die veranlagte Einkommenssteuer Einkassierte fiel binnen drei Jahren von 12,2 auf 4,6 Milliarden Euro, bei der Körperschaftssteuer von 23,6 auf 8,3 Milliarden (2001 hat der Staat der Wirtschaft gar 426 Millionen Euro mehr an Körperschaftssteuer zurückerstattet als eingenommen). Das sind erste Trippelschritte. Und mit der im Frühjahr vom Finanzministerrat nach schier endlosem Fingerhakeln abgenickten Zinsbesteuerung in der EU lässt sich leben. Sie bietet Schlupflöcher groß wie Scheunentore….Die rund 600 Milliarden von Deutschen ins Ausland geschafften Euro werden auch künftig kaum für die Finanzierung des sozialstaatlichen Wildwuchses bluten müssen.“
Die Globalisierung sei „die Königspython, vor der die Staaten halbgelähmt und gefügig hocken wie Kaninchen.“
Ungut konterkariert die „Gestaltungsleistung der Medien im Umgang mit der Realität“:

  • Gewerkschafter gelten als „Betonköpfe“, obwohl die Nettolöhne je Arbeitnehmer seit 1993 5,6 Prozent hinter der Inflation und die Lohnstückkosten 10 Prozent hinter denen der EU lägen.
  • Wir würden als „Freizeitweltmeister“ gebrandmarkt, obwohl deutsche Vollzeitkräfte mit 42,9 Wochenstunden länger arbeiten als etwa die Franzosen, die Holländer, die Italiener, die Finnen, die Dänen und die Norweger.
  • Der frühere Renteneinstieg sei „Schuld an der Misere der Rentenkassen“, obwohl das reale Rentenzugangsalter der Männer in Westdeutschland höher sei als 1960.
  • Selbst der Kanzler insinuiert parasitäres Individualverhalten, obwohl der Anteil der Sozialleistungen am Volkseinkommen (gleichfalls bezogen auf Westdeutschland) niedriger sei als 1980, als es nicht einmal halb so viele Arbeitslose gab.
  • Da würde die Gesundheitsreform mit der „steigenden Vergreisung“ begründet, obwohl der Anteil des Gesundheitssystems am Inlandsprodukt seit 1977 bei 7% verharrte – „auch dank 260 Kostendämpfungsgesetze“.

Der Autor, wohl ein Fachmann für Fragen der Rentenversicherung, verweist auf die Janusköpfigkeit der Einbeziehung der Minijobber in die Versicherungspflicht. Das sei zwar hochgelobt worden, die andere Seite sehe aber so aus: „Damit geht jeder Minijob mit seinen 410 Euro voll in die Berechnung des deutschen Durchschnittslohns ein, und der bestimmt den jährlichen Rentenwert aller Rentner. Pro Million neu erfasster Minijobs dürfte die Rentenversicherung um die vier Milliarden Euro pro Jahr einsparen.“
Die „Minusanpassung“ der Renten ist also durch die massenhafte Lohnsenkungen – siehe Siemens, Karstadt, Opel, VW, Daimler – und das Abdrängen sozialversicherungspflichtiger Arbeit in Minijobs also auf Jahre hinaus programmiert.

Ungut widerlegt aber nicht nur die gängigen Begründungen für den Abbau des Sozialstaates, er stellt gegen das „Zerrbild“ der Globalisierungszwänge seine Forderung nach der „Schaffung einer wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitisch handlungsfähigen EU“. Eine „geschlossene Ökonomie im Sinne von Keynes“ könne – angesichts der Tatsache, dass die EU der 15 gerade mal eine Importquote von etwa einem Zehntel ihrer Wirtschaftsleistung habe – zur „Rettung unseres Wohlstandes“ sehr wohl gesteuert werden.

Ganz anders dagegen Paul Nolte: Die von Ungut gezeichnete Wirklichkeit ficht Nolte nicht weiter an, ihm reicht als Begründung für eine „Reform des Wohlfahrtsstaates“ aus, dass es einen „Konsens der Eliten“ gebe.
An die „Leerstelle“ der naserümpfenden Intellektuellen, sei erfolgreich ein „neuer Intellektuellentypus“, nämlich von „ganz und gar nicht irrlichternden Experten“ vom „Typus etwa eines Paul Kirchhof“ eingetreten. Die Überlegungen dieses neuen Typus von Intellektuellen hätten „gedankliche Brillanz und politische Sprengkraft“. Etwa der Art,
dass „wir“ statt auf „Umverteilungsgerechtigkeit“ auf das „schöne, positive Wort“ der „Teilhabegerechtigkeit“ setzen sollten, dass „wir in Deutschland“ statt eines „konsumtiven Sozialstaats“ eher einen „investiven“ bräuchten.

Für Nolte gibt es schon lange kein Erkenntnisproblem mehr, sondern nur noch ein Umsetzungsproblem. Doch (leider) gebe es „jetzt ein Akzeptanzproblem, ein Problem der Kommunikation“: „Die Bürger wollen nicht verstehen, was die Politiker ihnen nicht erklären können.“ Auf den viel naheliegenderen Gedanken, dass die Bürger nicht verstehen können, was nicht erklärt werden kann, kommt man natürlich nicht mehr, wenn man schon jetzt der Überzeugung ist, dass der Agenda 2010 ein „Platz in den Geschichtsbüchern sicher ist“.

Nolte wirft den Reformvermittlern vor, dass „kaum je zuvor …Reformen so verzweifelt, so masochistisch als Leidenszeit verstanden worden“ seien. Hofft man allerdings darauf, dass Nolte aus dieser „Sprachlosigkeit“ heraus helfen könnte und „positive schöne Worte“ erfinden würde, so wird man bitter enttäuscht. Alles was Nolte am Schluss seines Beitrags bietet, ist ein „Kleines Wörterbuch der Reform-Sprachstörungen“. Der intellektuelle Anspruch dieses Wörterbuchs gereichte jedoch allenfalls den allseits beliebten alphabetisch geordneten Sottisen einer Abschlusszeitung eines Schülertanzkurses zur Ehre.

Aus diesem „Wörterbuch“ nur ein paar Kostproben:

  • „Bsirkse, Peters, Sommer: Neues hochkonservatives Triumvirat der Besitzstandsverteidiger. Zuspätgekommene der siebziger und achtziger Jahre.“
  • Bürger: Schillerndes Objekt der Reformpolitik.
  • „CSU: Sozialdemokratische Volkspartei in Bayern“
  • „Gerechtigkeit: Durch gutgemeintes Dauerkneten implodierter Kernbegriff der gesellschaftspolitischen Reformen, wahrscheinlich auf Jahre hinaus unbrauchbar.“
  • „Intellektuelle, deutsche: Verunsicherte Spezies akademisch gebildeter, gelegentlich das Licht der Öffentlichkeit suchender Brillen- und Bedenkenträger.“
  • Usw. usf.

Auf diesem Sprach-Niveau (eines Intellektuellen, international) wird das Reform-Alphabet durch buchstabiert. Wenn aber das die Sprache sein soll, die den Reformen aus ihrer Sprachlosigkeit verhelfen können sollen, dann gibt Nolte selbst die Antwort auf seine Frage, warum Bundeskanzler Schröder dann lieber „jedwede Sprache, jedwede Erklärung der Reformen von vorneherein und mit ausdauernder Hartnäckigkeit verweigert“.
Dieser Beitrag von Paul Nolte macht sprachlos. Sollte das mit ein Grund sein, warum der Rowohlt-Verleger Alexander Fest das Kursbuch aufgeben will?