Nach dem Verfassungsgerichtsurteil: Der Kampf um die Umsetzung

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Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen nach Hartz IV geht es wie vielen Entscheidungen dieses Gerichts:
Jeder liest heraus, was er will. Jeder interpretiert hinein, was ihm passt. Jeder bekundet dem Gericht seinen Respekt, handelt dann aber nicht danach.
So soll gerade bei Entscheidungen, die ein Handeln des Gesetzgebers verlangen, die Debatte in eine Richtung geführt werden, die der eigenen politischen Vorstellung entspricht. Auch jetzt wird mit aller Raffinesse versucht davon abzulenken, worum es geht: Das, was die Verfassung verlangt, in einfaches Recht umzusetzen. Von Rüdiger Frohn

Zwei Behauptungen sind als Täuschungsmanöver besonders beliebt:

  1. Das Bundesverfassungsgericht habe die Höhe der Regelsätze nicht beanstandet, Verbesserungen seien deshalb weder erforderlich noch zu erwarten.
  2. Das Lohnabstandsgebot verlange, dass Hartz IV – Leistungen in jedem Fall unter den niedrigsten Erwerbseinkünften zu bleiben habe.

Warum sind das Täuschungsmanöver?

Das Gericht hat zunächst einmal klar und eindeutig festgestellt, dass die SGB-Vorschriften „mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art.1 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs.1 unvereinbar“ sind. Im Weiteren legt das Gericht dann dar, dass sich der Umfang des Anspruchs nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten lässt und dem Gesetzgeber ein gewisser Gestaltungsspielraum zusteht. Diesen kann das Bundesverfassungsgericht, wie es seiner Rolle im gewaltengeteilten Staat entspricht nur „zurückhaltend“ prüfen. Dafür hat sich der Begriff der „Evidenzkontrolle“ herausgebildet.
Das heißt, das Gericht ist nur befugt zu prüfen, ob die geltende Höhe „evident“ oder „offensichtlich“ unzureichend und damit fehlerhaft ist.

Daraus zu schließen, dass Gericht halte die Höhe der Sätze für richtig oder gar verfassungsrechtlich geboten, ist eine durch nichts gestützte Behauptung und für Rechtskundige – vorsichtig gesprochen- „unredlich“.

Was das Lohnabstandsgebot angeht, so ist zunächst einmal festzuhalten, dass dieses sozial- und gesellschaftspolitisch so eingängige Gebot bei der Entscheidung keine Rolle gespielt hat – und schon gar nicht in der Weise, dass die untersten Erwerbseinkommen fest gesetzt seien und die Leistungen nach Hartz IV nur durch entsprechenden Abzug zu berechnen seien.

Das Bundesverfassungsgericht ist anders vorgegangen:

Es hat aus der Würde jedes Menschen das Recht/den Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums in physischer Hinsicht( Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit) und auf Mittel zur Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen und Teilhabe an gesellschaftlichen, kulturellen, politischen Leben entwickelt.
Das dafür notwendige Minimum zu unterschreiten, entspräche nicht dem Menschenbild und der Vorstellung des sozialen Zusammenlebens unserer Verfassung. Wer es mit dem Lohnabstandsgebot also ernst meint, wird sich um die Mindestlohnfrage nicht drücken können.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung wahrlich keinen utopischen oder unfinanzierbaren Sozialstaat gefordert. Es hat aber all den Sozialstaatsverächtern die unterste Grenze gezeigt, die einzuhalten ist, wenn unser Staat nicht gegen seine eigenen Prinzipien handeln will.

Der liberale Lord Dahrendorf hat von „sense of belonging“ gesprochen, wenn es um den notwendigen Zusammenhalt einer Gesellschaft geht. Das erfordert Solidarität der Starken mit den Schwachen und nicht deren Ausgrenzung.
Und noch ein Zitat von Lord Dahrendorf mag den einen oder anderen Liberalen zum Nachdenken bringen können:
„keine Gesellschaft kann es sich leisten, 10 Prozent von ihren Chancen auszuschließen, ohne moralischen Schaden zu nehmen… Wenn wir in zivilisierten Gemeinwesen leben wollen, dann müssen wir tun, was wir können, um die Ausgeschlossenen hereinzuholen in die Chancenwelt des sozialen Lebens.“ (Ralf Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung, Seite 89/90.)

Rüdiger Frohn ist ehemaliger Chef des Bundespräsidialamtes und Staatssekretär a.D.

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