Ruth Firmenich (BSW), Abgeordnete des Europaparlaments, war als Wahlbeobachterin der Parlamentswahlen in der Republik Moldawien vor Ort. Im Interview mit den NachDenkSeiten berichtet sie von massiven Behinderungen der Wähler aus Transnistrien, Russland und Belarus, ihre Stimmen abzugeben. Während die in der Wahl bestätigte Regierungspartei sowie die Leitung der Wahlbeobachtungskommission die Wahl trotz russischer Manipulationsversuche als fair und demokratisch bezeichneten, vermisst die Europaabgeordnete Kritik an der einseitigen Einflussnahme des Westens. Ihre größte Befürchtung ist, dass eine mögliche zukünftige Diskussion um eine NATO-Mitgliedschaft Moldawiens die Bevölkerung nicht nur weiter spalten, sondern das kleine Land angesichts der Entwicklung in der Ukraine in eine prekäre Situation bringen könnte. Das Gespräch führte Karsten Montag.
Karsten Montag: Frau Firmenich, Sie waren in Ihrer Funktion als EU-Abgeordnete als Wahlbeobachterin in der Republik Moldawien vor Ort. Wie ist das abgelaufen?
Ruth Firmenich: Ich war Teil einer Delegation von sieben Abgeordneten aus dem Europaparlament und war ab Donnerstag in der Hauptstadt Chișinău. Freitag und Samstag fanden ganztägig Vorbereitungs- und Informationsveranstaltungen zusammen mit den Beobachtern der parlamentarischen Versammlung des Europarats und der OSZE statt. Am Sonntag, dem Wahltag, sind dann alle ausgeschwärmt in die verschiedenen Regionen. Die Europaabgeordneten bildeten drei Kleinteams, eins blieb in Chișinău, eines beobachtete die Wahl in der Nähe von Transnistrien, und ich war mit zwei weiteren Abgeordneten in Gagausien im südlichen Teil des Landes.
Transnistrien ist ja der Teil Moldawiens, der sich schon kurz nach dem Ende der Sowjetunion von dem Rest des Landes abgespalten hat und von Russland unterstützt wird. Gab es Wahllokale in Transnistrien selbst?
Nein, aber auf westlicher Seite des Flusses Dnister, der die Grenze zwischen Transnistrien und dem Rest des Landes darstellt. Allerdings ist die Anzahl der Wahllokale für die Wähler aus Transnistrien im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen von 42 auf jetzt nur noch zwölf erheblich reduziert worden. Und von diesen zwölf sind dann in der letzten Woche vor der Wahl aufgrund von nebulösen Sicherheitsbedenken noch fünf umplatziert worden. Das heißt, dass die Möglichkeiten für die Wähler aus der Region Transnistrien von vornherein eingeschränkt waren.
Und ähnlich wie im letzten Jahr bei den Präsidentschaftswahlen wurde der Zugang zu den Wahllokalen letztendlich massiv gestört. Ich habe mir schildern lassen, wie die Brücken von der Polizei kontrolliert wurden und Wähler aus Transnistrien zurückgeschickt wurden, die nicht mit individuellen PKW angereist waren. Im Gegensatz zu früheren Wahlen sollen Busse und nicht einmal Taxis durchgelassen worden sein. Hinzu kam noch, dass – genauso wie im letzten Jahr bei den Präsidentschaftswahlen – aufgrund von Bombendrohungen die Wähler kaum noch über die Brücken gekommen sind. Das heißt, man hat den Zugang zu den Wahllokalen für die Wähler aus Transnistrien, die verdächtigt werden, stärker die Opposition zu unterstützen, von vornherein klar beschränkt.
Ich habe gelesen, dass auch für Auslandsmoldawier in Russland nur zwei Wahllokale in Moskau bereitstanden. Die in Russland lebenden Moldawier mussten also nach Moskau fahren, um zu wählen. Ist das richtig?
Ja. Sehr viele Moldawier haben in den letzten Jahren das Land verlassen. Ein Drittel der wahlberechtigten Moldawier lebt im Ausland. Das Wahlergebnis wird massiv beeinflusst durch die Auslandsstimmen, die am Ende der Auszählung auch den Ausschlag für die absolute Mehrheit der Regierungspartei PAS („Partei der Aktion und Solidarität“) gegeben haben. Es gab etwa 300 Wahllokale im Ausland, von denen sich fast alle im westlichen Ausland befanden, allein in Italien gab es mehr als 70, in Deutschland 36. Ich habe bei einer Podiumsdiskussion während der Vorbereitungsveranstaltungen explizit nachgefragt, warum es in Russland, wo viele der Moldawier leben, nur zwei Wahllokale gibt. Daraufhin hat ein Vertreter der PAS unverhohlen vom Podium aus gesagt, es gäbe dort nur zwei, weil alles andere ja gefährlich wäre.
Gefährlich wofür?
Ich würde ja sagen, das ist gefährlich für die Demokratie. Man muss auch wissen, dass die maximale Anzahl an Wahlscheinen pro Wahllokal bei 5.000 liegt. Auch in Belarus gab es meines Wissens nur ein Wahllokal in Minsk. Der Rest war fast nur im westlichen Ausland. Es ist klar, dass das einen erheblichen Einfluss auf das Wahlergebnis hat. Das sieht man auch, wenn man sich die Wahlergebnisse anschaut. Die Regierungspartei von Maia Sandu hat in Moldawien selbst 44 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht. Bei den Auslandsstimmen waren es 78 Prozent. Wenn man also das Ergebnis beeinflussen will, muss man dafür sorgen, dass dort, wo die Unterstützung größer ist, die Abstimmungsmöglichkeiten erheblich einfacher wahrzunehmen sind. Genau das hat die Regierung gemacht.
Mehrere Medien, zum Beispiel die Berliner Zeitung und Multipolar, haben davon berichtet, dass es in den Wochen vor der Wahl Hunderte Razzien und Verhaftungen bei der Opposition sowie den Ausschluss von Kandidaten gegeben habe. Haben Sie davon etwas mitbekommen, als Sie vor Ort waren?
Die Razzien waren am Wochenende vor der Wahl, es sollen 250 Objekte durchsucht und etwa 100 Menschen verhaftet worden sein, was auf Deutschland umgerechnet einer Größenordnung von etwa 4.000 Verhaftungen entsprechen würde. Ich war da zwar noch nicht vor Ort, aber es wurde mir bei meinen Gesprächen bestätigt und ich habe auch wiederholt nachgefragt. Mir wurde gesagt, dass Menschen mit dem Vorwurf finanzieller Unterstützung und Stimmenkauf aus Russland verhaftet worden seien. Außerdem wurde berichtet, dass Menschen festgenommen wurden, weil sie an Trainingscamps teilgenommen hätten, um Proteste stattfinden zu lassen und einen Umsturz zu planen.
Sind denn auch Kandidaten von der pro-europäischen Regierungspartei ausgeschlossen worden oder nur pro-russische Kandidaten?
Ich habe nicht gehört, dass es irgendwelche Beschränkungen für die Regierungspartei gegeben habe, im Gegenteil, es gab massive Unterstützung, um den Machterhalt der pro-europäischen Regierungspartei zu sichern. Vor der Wahl sind die westlichen Regierungschefs in Chișinău ein- und ausgegangen und haben die moldawische Präsidentin hofiert. Und zwei Wochen vor der Wahl durfte Maia Sandu noch im Europaparlament eine flammende Rede halten, was sicherlich auf die Auslandsstimmen abgezielt war. Das sind eigentlich Dinge, die man normalerweise nicht machen dürfte, wenn man sich neutral verhält.
Sie haben gesagt, dass Sie in Gagausien die Wahl beobachtet haben. Wie sind die Wahlen vor Ort verlaufen?
Am Wahltag selbst ist in den Wahllokalen, wo wir waren, alles ruhig verlaufen. Es gab da keine gravierenden Probleme, auch in den anderen Regionen nicht. Das Problem lag im Vorfeld der Wahl und daran, dass es keine Wahlbeobachtung bei den Auslandsstimmen gab. Es wurde alles getan, um diejenigen Wähler an der Stimmabgabe zu hindern, bei denen man eher eine Unterstützung der Opposition vermutete. Diese Einflussnahme war aber nie Thema. Es ging immer nur um den Vorwurf der Beeinflussung aus Russland. Das wurde uns auch bei den Vorbereitungstreffen vermittelt, die fast vollständig einseitig abliefen. Bei sämtlichen Briefingveranstaltungen war die ganze Zeit die Rede von den Desinformationskampagnen und dem Stimmenkauf, der von Russland aus stattgefunden habe.
Was wäre passiert, wenn die Regierungspartei nicht die 50 Prozent erreicht hätte? Hätten die übrigen Parteien eine Koalition gegen die bestehende Regierung bilden können?
Es war angesichts der geschilderten Beeinträchtigungen im Vorfeld der Wahl unwahrscheinlich, dass eine Oppositionspartei die stärkste Kraft im Land wird. Es ging bei der Wahl vor allen Dingen darum, ob die pro-europäische Regierungspartei die absolute Mehrheit behält oder ob die PAS gezwungen sein könnte, eine Koalition einzugehen, um weiter regieren zu können.
Die EU-Beitrittsbestrebungen sind ja sogar in der Verfassung Moldawiens festgelegt. Der pro-europäische Kurs wäre also höchstens mit Einschränkungen fortgeführt worden, oder?
Mir wurde von manchen Vertretern der Opposition und unabhängigen Kandidaten gesagt, dass sie ursprünglich einer europäischen Perspektive durchaus offen gegenüber waren. Doch seit dem Krieg in der Ukraine hat eine Verhärtung von Seiten der EU stattgefunden: „Wenn ihr mit uns seid, dann müsst ihr alles mit Russland beenden“. Es gibt keinen Weg für eine mittlere Position mehr. Und das ist das grundsätzliche Problem, das das Land gespalten hat.
Diese Abspaltung ist ja auch physisch durch die Abspaltung Transnistriens ersichtlich. Da sind große Parallelen zur Ukraine erkennbar. Sehen Sie die Gefahr, dass in Moldawien eine ähnliche Entwicklung wie in der Ukraine stattfinden könnte?
Es ist ein sehr gewagtes Spiel, wenn man versucht, auf Teufel komm raus die EU-Perspektive als einzige Perspektive gelten zu lassen. Das hat das Land sehr stark gespalten. Die Frage ist, wie man es wieder zusammenführen will. Wenn man alle Oppositionellen oder alle, die diesen absoluten EU-Kurs kritisch sehen, als Agenten Russlands diffamiert, dann ist das für den Zusammenhalt eines Landes wie Moldawien verheerend. Wir Wahlbeobachter hatten vor der Wahl eine kleine Audienz bei Maia Sandu, und da habe ich ihr genau diese Frage gestellt. Wenn sie nach der Wahl weiter regiert, was ist dann die Perspektive, wie die Spaltung im Land überbrückt werden kann?
Und was hat sie geantwortet?
Sie müsse erst einmal gewählt werden. Und dann sei das eben eine Herausforderung. Mehr kann man offensichtlich in so einem Treffen nicht erwarten.
Würden Sie als Wahlbeobachterin im abschließenden Urteil sagen, dass die Wahlen demokratisch abgelaufen sind? Und was sind Ihre Kritikpunkte?
Wenn man ernsthaft Wahlbeobachtung machen will, dann kann man nicht aus einer Wahl wie dieser in Moldawien herausgehen und von einem Sieg der Demokratie reden. Man kann die Beurteilung einer Wahl nicht nur davon abhängig machen, ob am Wahltag in den Wahllokalen die Urnen versiegelt waren. Das ist wichtig, überhaupt keine Frage. Doch man muss auch beurteilen, inwieweit die Wahlberechtigten überhaupt Zugang zu den Wahllokalen hatten. Das gehört auch zu einer fairen und freien Wahl. Mein Kritikpunkt ist, dass man auch mithilfe der Wahlbeobachtung diesen Wahlen die Weihen einer tatsächlich demokratischen Wahl verleihen wollte und die Wahrnehmung der vielen Kritikpunkte beschränken wollte – beispielsweise, dass viele Wähler überhaupt nicht in der Lage waren, an der Wahl teilzunehmen.
Wie war das Abschlussstatement der Wahlbeobachtungskommission?
Es wurde präsentiert, dass alles letztendlich sehr erfolgreich verlaufen sei und die wichtigsten Vorgaben alle eingehalten worden seien. Es wurde auch dabei immer betont, dass es trotz der von Russland ausgehenden Gefahr, die Wahl zu stören und zu beeinflussen, gelungen sei, eine faire und demokratische Wahl abzuhalten. Nach dieser Vorstellung gab es von den anwesenden Journalisten keine einzige Nachfrage. Ich fand das befremdend. Doch dies spiegelte das wider, was bereits in den Vorbereitungstreffen zu sehen war. Es waren ja viele Leute vor Ort, nicht nur die sieben Abgeordneten aus dem Europaparlament, auch große Delegationen von OSZE und Europarat, auch Langzeitbeobachter. Aber de facto ist die Kritik darauf reduziert worden, dass es am Wahltag nur einige wenige Beschwerden gab.
Ich erwarte aber von einer Wahlbeobachtung, dass man, bei aller Berücksichtigung der geopolitischen Lage, in der Lage ist, Kritik zu üben, wo sie hingehört. Natürlich kann man sagen, dass sich das Land in einer schwierigen Situation befindet. Und ganz klar ist auch, dass Russland versucht hat, Einfluss zu nehmen. Das hat aber sicherlich die EU ebenfalls getan – vielleicht anders, aber man kann nicht so tun, als hätte sie es nicht getan. Und man muss thematisieren, in welcher Weise die Organisation der Wahl die Regierungspartei bevorzugt und die Rechte der Opposition beschränkt hat.
Wie wird es in Moldawien aus Ihrer Sicht weitergehen?
Die grundsätzliche Situation im Land wird sich sicherlich nicht dadurch verbessern, dass man die Spaltung weiter vorantreibt und die Hälfte des Landes diffamiert. Moldawien ist ja nur aus dem Grund so interessant für die EU, weil es in der gegenwärtigen geopolitischen Situation eine wichtige Rolle spielt. Ich habe die große Sorge, dass im nächsten Schritt die derzeit noch verankerte Neutralität Moldawiens zugunsten einer NATO-Perspektive geopfert werden soll.
In einer Veranstaltung im Rahmen der Vorbereitung wurde eine Umfrage präsentiert, die zeigte, dass das Thema Geopolitik für 100 Prozent der Befragten große Wichtigkeit hatte. Die geografische Lage ist für das arme Moldawien Chance und Fluch zugleich. Doch sollte es wirklich dazu kommen, dass es zukünftig um eine NATO-Mitgliedschaft Moldawiens oder eine De-facto-Mitgliedschaft des Landes geht, dann haben wir eine höchst gefährliche Situation, die nichts Gutes erahnen lässt, wenn man sich die Entwicklung in der Ukraine ansieht.
Titelbild: Gagarin Iurii/shutterstock.com