Abschied von der demokratischen Souveränität

Abschied von der demokratischen Souveränität

Abschied von der demokratischen Souveränität

Oskar Lafontaine
Ein Artikel von Oskar Lafontaine

Die AfD wird immer stärker, weil ihre Gegner ins rechte Lager gewechselt sind. Die etablierten Parteien und Medien sind ratlos. Obwohl sie die AfD mit harten Bandagen bekämpfen, wird diese immer stärker. In Sonneberg im Süden Thüringens wurde jetzt der Rechtsanwalt und AfD-Politiker Robert Sesselmann zum Landrat gewählt. «Sprit teurer, Strom teurer, Gas teurer, Essen teurer – nur die Ausreden werden immer billiger» plakatierte die AfD und forderte «Diplomatie statt Waffen». Mit solchen Plakaten oder Forderungen hätten früher SPD, Grüne oder die Linke Wahlkämpfe geführt. Und sie zeigen schlagartig, warum diese Parteien immer mehr Wähler verlieren. Sie haben die Interessen größerer Teile der Bevölkerung aus dem Auge verloren. Von Oskar Lafontaine. Mit freundlicher Genehmigung der Weltwoche.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Um den Höhenflug der AfD zu stoppen, müssten die Ampelparteien wieder Politik für die Mehrheit machen und der verbliebene Rest der Linkspartei, der grüner als die Grünen werden will, den Befund des Sozialwissenschaftlers Klaus Dörre zur Kenntnis nehmen, dass die Grünen bei den Arbeitern geradezu verhasst sind. Nirgendwo in Deutschland arbeitet ein größerer Teil der Arbeitnehmer für den Mindestlohn als in Sonneberg, und ein geringer Mindestlohn bedeutet auch immer weniger Rente und weniger Sicherheit.

«Respekt für Dich»

Am Tag nach der Wahl des AfD-Politikers zum Landrat gab die Mindestlohnkommission bekannt, dass der Mindestlohn von 12 Euro im nächsten Jahr auf Euro 12,41 und 2025 auf Euro 12,82 steigen soll. Die EU-Richtlinie für angemessene Mindestlöhne empfiehlt eine Höhe von 60 Prozent des Median-Einkommens. Das wären für Deutschland Euro 13,50.

Bei der Bundestagswahl 2021 hatte die SPD-Plakate geklebt, auf denen der spätere Kanzler Olaf Scholz mit dem Versprechen «Respekt für Dich» warb. Man kann sich vorstellen, was die Mindestlöhner im Landkreis Sonneberg gedacht haben, als sie hörten, dass ihr Lohn im kommenden Jahr um 3,4 Prozent und im Januar 25 um 3,3 Prozent steigen soll, nachdem die Lebensmittelpreise um 20 Prozent gestiegen und die Energiepreise geradezu explodiert sind.

Sie fühlten sich sicherlich nicht respektiert, sondern gedemütigt und verachtet. Hätte die Kommission ihren Vorschlag vor der Landratswahl veröffentlicht, dann hätte der AfD-Mann noch besser abgeschnitten.

Jetzt prüft das Landesverwaltungsamt in Thüringen, ob Sesselmann als Landrat geeignet ist, auch weil Thüringens AfD vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Dieses Vorgehen hilft nur der AfD. Je unfairer man diese Partei behandelt, umso eher sind Leute, die ein Gefühl für Fairness haben, bereit, sie trotz inhaltlicher Bedenken zu wählen. Politisch dumm ist es auch, dass der Deutsche Bundestag bis zum heutigen Tage jeden Kandidaten der AfD für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten durchfallen lässt.

Und weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der von den etablierten Parteien beherrscht wird, die AfD unverhältnismäßig benachteiligt, trägt auch er zum Erstarken der AfD bei. Alle gegen einen, das wollen die Leute nicht.

Die Bekämpfung der rechten AfD wird aber vor allem deshalb immer schwieriger, weil ihre Gegner längst selbst ins rechte Lager gewechselt sind. Nicht nur wegen der neoliberalen Wirtschaftsideologie, die die Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD ebenso prägt wie die der Ampelparteien und der CDU. Man denke nur an die Sozialkürzungen in Berlin-Neukölln mit der Reduzierung der Hilfe für Obdachlose, der Einschränkung der Schulreinigung und der Schließung von Jugend-Freizeiteinrichtungen.

Klassisch rechts sind auch die wachsende Kriegsbegeisterung, die Rufe nach einem autoritären Staat und die Verbotskultur – ob sie nun Gasheizungen, Verbrennungsmotoren oder die freie Äußerung nicht regierungskonformer Meinungen trifft. Das Sendeverbot für RT Deutsch ist sicher kein Ausdruck demokratischer Souveränität.

Spätestens seit Einführung der Cancel-Culture, dem Verbot von Veranstaltungen und der Hetze gegen Andersdenkende sind die Parallelen zu autoritären Staaten nicht mehr zu übersehen. Zwar werden keine Bücher verbrannt, und wer sich dem Mainstream entgegenstellt, erhält auch kein staatliches Publikationsverbot, aber er wird von den Leitmedien gemieden und kommt in den Talkshows allenfalls dann noch zu Wort, wenn seine falsche Meinung von drei oder vier Gleichgesinnten gegeißelt werden soll.

Militarismus und Feindbildaufbau

Gäbe es die von den Mainstream-Medien als Verbreiter von Desinformation und Verschwörungstheorien geächteten sozialen Medien nicht, wären die Gleichgesinnten oder Gleichgeschalteten unter sich. Wie verheerend und demokratiegefährdend sich das auswirken kann, haben wir in der Corona-Krise erlebt. Obwohl nach wenigen Monaten deutlich wurde, dass fast alle Aussagen über die Wirkung der neuen Impfstoffe falsch waren, dauerte es zwei Jahre, bis das Lügengebäude zusammenbrach. Zeitweise war die Stimmung so aufgeheizt, dass man befürchten musste, der Deutsche Bundestag beschließe, alle Ungeimpften in Lager zu sperren oder auszuweisen.

Seit dem Ukraine-Krieg triumphieren Militarismus und Feindbildaufbau. Keine der kriegsbefürwortenden Bundestagsparteien könnte, wie die AfD, plakatieren: «Diplomatie statt Waffen», auch die Linke nicht, weil ihre führenden Politiker in Berlin, Thüringen und Bremen durch die Beteiligung an der jeweiligen Landesregierung zur Nato-Treue erzogen wurden.

Und wer mit Verehrern des Nazikollaborateurs und tausendfachen Judenmörders Stepan Bandera problemlos kooperiert und ihnen vorbehaltlos Unterstützung verspricht, hat Glaubwürdigkeitsprobleme, wenn er «Faschisten» wie Björn Höcke bekämpfen will.

Titelbild: nitpicker/Shutterstock