Die Elenden, die Schönen, die Armen, Frankreich, Sommer 2023

Die Elenden, die Schönen, die Armen, Frankreich, Sommer 2023

Die Elenden, die Schönen, die Armen, Frankreich, Sommer 2023

Ein Artikel von Frank Blenz

Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen, sagte einst ein Dichter. Auch aus diesem Grund tat ich eine. Ich unternahm eine Rundfahrt durch einen Teil Frankreichs im heißen Sommer 2023. Das Land, die Menschen – öfters schrieb ich bei NachDenkSeiten darüber. Hier nun ein neuer Beitrag. Von Frank Blenz.

Entree

Frankreich ist ein gewichtiges, ein kraftvolles europäisches Land, jedoch auch eines, das von einem Präsidenten regiert wird, als wäre es statt einer Demokratie eine Monarchie und als wäre es normal, dass vom eigenen Land und seinen Errungenschaften nicht seine vielen Menschen wirklich und nachhaltig profitieren, partizipieren, sondern eine wohlhabende bis ausufernd gierige Minderheit. Der Präsident ist bei seinem Volk unbeliebt, er ist der Mann der Reichen, so wird er genannt. Nicht nur er, auch die, für die er einen harten, kalten, arroganteren Job macht, sind unbeliebt. Das Land ist gespalten. Die Strippenzieher, die Einflussreichen, die Reichen und Schönen, die es gepackt haben im Land, sie setzen sich seit Jahr und Tag nicht und/oder ungenügend, ja unwillig für die einfachen Bürger ein. Gerechte Verteilung? Von wegen. Es liegt in ihrer Natur. Sie haben Handlanger, die ihnen ihre Macht, ihren Einfluss, ihr schönes Leben sichern. Dazu gehören der überbordende, regulierungswütige Staat, das Gewaltmonopol von Polizei und Justiz, ein zentralistischer Apparat, der wie am Schnürchen funktioniert. Von wegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Ich mache mich diesen Sommer auf den Weg nach Frankreich. Es wird ein Wiedersehen nach vier Jahren, lange war es mir unmöglich, das Land zu bereisen. Nun will ich mich endlich frank und frei umschauen: Wie geht es den Franzosen in ihrem Land, das vielen von ihnen leider nicht gehört? Bekommt man als Gast etwas vom berühmten Lebensgefühl, von der Kunst zu leben der einfachen Leute trotz ihrer Sorgen mit? Sicher werde ich ebenso Prunk, Protz, der nicht weniger geworden sein soll trotz oder wegen all der Krisen, vorfinden, ahne ich.

So viel vorneweg: Ich erlebte schöne Momente, ich erlebte Situationen ungemütlicher Atmosphäre, ich sah Luxus, ich sah bittere Not und Resignation. Ich bekam sinnlose, heftige Gegensätze mit, die voller (gewollter, kalkulierter) Ungerechtigkeit sind. Jetzt, nach meiner Reise, sind der Sommer, die Ruhe, das Innehalten vorbei. Frankreichs Menschen, die nicht auf der Sonnenseite leben, hat nach den Ferien der mitunter schwere Alltag und der Wille zum Kampf gegen all die Ungerechtigkeiten wieder, mehr noch, es wird gekämpft. Es gibt Grund genug dafür: Präsident Macron und die Obrigkeiten agieren ungeniert unsozial weiter.

Pause vom Straßenkampf

Ich bekomme im August dankbar binnen zweier Wochen einen Hauch französischer Lebensart ab, ich beobachte allerlei freudvolle Szenen, sehe unsere Nachbarn in schönen, aber auch weniger schönen, in bitteren Momenten. Ich spüre, dass sie ebenso wie wir Deutschen mehr und mehr (unverdientermaßen) zu rackern haben, um den einfachen Alltag gerade so bewältigen zu können. Ich spüre trotz allem, dass die Franzosen sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen wollen, schon gar nicht von ihren Reichen und Schönen, ihren besser gestellten Mitbürgern, die das schöne Frankreich lediglich für ihr Ego ausnutzen und die einfachen Leute verachten. Viele teils vergilbte, von Wänden abblätternde Plakate des Protestes (vor allem vs. Emmanuel Macron, den Präsidenten der großen Nation) sind im Sommer in den Städten zu sehen, die ich besuche. Am Seine-Ufer in Paris liest man gesprayte Losungen an Ufermauern: Besteuert die Reichen. Der Herbst naht, und es wird neue Plakate geben, bin ich sicher, der Klassenkampf beginnt erneut. Die „Gelbwesten“ sind wieder da, und im Parlament geht es heiß her.


Wo man singt, da lass Dich nieder

Der Kreisverkehr

Und ein weiteres Mal kurve ich in einen Kreisel, diesen meist durch die dritte Ausfahrt auf meiner Tour zur nächsten Station wieder verlassend. Frankreich ist das Land, das bestimmt die meisten Kreisverkehre in Europa aufweist. Der Straßenverkehr erlebt sich für den Fahrer damit sicherer und flüssiger, man kann den anderen Verkehrsteilnehmer deutlicher wahrnehmen, das Hupen der Ungeduldigen nimmt der entspannt Reisende gelassen hin. Die Kreisverkehr-Anlagen sind berühmt für ihre Funktion als Treffpunkte, als Ausgangspunkte und Brennpunkte der Streikbewegung der „Gelbwesten“ in Frankreich. Nur gut, dass gerade Sommer ist. Keine Posten, keine Sperrung, dafür freie Fahrt. Tatsächlich fühlt sich das Leben in „France“ nach Durchatmen, nach Entspannen, nach Ausruhen an. Schön.

Jungfrau von Orleans und perspektivlose Speise-Kuriere

In Orleans feiern die Bürger in Ruhe und an schattigen Plätzchen zurückgezogen Maria Himmelfahrt. Die Kathedrale der Stadt wird von schwer bewaffneten Uniformierten bewacht, als stünde ein Angriff bevor. Ich sehe auf meiner Tour später immer wieder martialische Auftritte uniformierter Bediensteter. Auf einem idyllischen Platz in der Innenstadt sitzen illusionslose junge schwarze Männer neben ihren Fahrrädern und Rollern, neben ihnen stehen hellblaue Kartons. Die Männer starren auf ihre Mobiltelefone – sie harren als mobile, prekäre Arbeitskräfte eines Essen-Lieferservices aus, hoffen auf Aufträge, vielleicht ein paar Euro zu verdienen. In den Lokalen um den Platz sitzen und genießen betuchte Orleaner die freie Zeit. Die Speisen sind üppig, die Preise auch. Später stehe ich fasziniert vor dem Haus von Jeanne d’Arc, der Jungfrau von Orleans, heute ist das Gebäude ein Museum. Diese mutige Jungfrau befreite einst die Stadt. Ob es der in Frankreich durch alle Klassen und Schichten beliebten und verehrten Jeanne heutzutage gefiele, wie es armen Mitmenschen in ihrer Stadt, in ihrem Land ergeht?

Die Schlösser der Loire

Am Fluss Loire entlangfahrend, stets ausgebremst von auf den Straßen fixierten kleinen Hügeln (Rappels), um eine Begrenzung der Geschwindigkeit zu erreichen, kann man beizeiten aufhören zu staunen – so viele Gebäude der Schönheit und des einstigen Reichtums sind links und rechts der Strecke zu sehen. Einen der größten Prunkbauten besichtige ich mit dem Schloss Chambord – was für eine Opulenz, was für ein Protz, zugegeben überaus elegant und stilvoll wurde damals gebaut und gelebt. Aber auf wessen Kosten? Zum riesigen Schloss gehört ein riesiger Park, ein riesiger Wald – das Areal ist gefühlt so groß wie Berlin-Charlottenburg, und alles ist bestens gehegt und gepflegt.

Der Atlantik und das Leben in der Provinz

Ich wollte den Ozean immer schon einmal sehen. Endlich – am Hafen von Saint Nazaire ist es soweit. Abendhimmel, ein lieblicher Wellengang, flanierende Menschen auf der Promenade. In den folgenden Tagen zeigt mir der Atlantik, dass er etwas mehr Meer ist als die Ostsee, welch‘ Wellen, welch‘ Rauschen. Wundervoll. Schön anzusehen ist, wie die Menschen ins Wasser springen, planschen, am Strand dösen, die Zeit vergessen. Schön ist, dass es nirgends Barrieren gibt, jedem gehört das Ufer, das Wasser, das Meer, der Strand. La mere. Am Meer schlendert es sich im August wunderbar. Monsieur Hilots Urlaubsort am Atlantik gleich um die Ecke liegt bis heute so verträumt da wie einst im so kultvoll gedrehten Film über dessen Ferien.

Die kleine Stadt Saint Nazaire öffnet sich mir langsam mit ihrem urbanen Aufbau, einer schnörkellosen Fußgängerzone, feinen, vielfältigen Geschäften und einem gut sortierten Einkaufzentrum, das es so oder so ähnlich überall in Europa gibt und das doch echt charmant ist. Rege Vitalität herrscht durchaus, obwohl Nazaire eher klein ist; Leute sind am Schauen, Einkaufen, Schlendern, Kaffeetrinken und Croissants Verputzen. Kinder kurven um schöne Spielplatzgeräte, klettern übermütig herum, in der Fußgängerzone drehen Jugendliche mit Mopeds mal richtig auf.

Ich sehe leider auch enormen Leerstand im Ort, aufgegebene Geschäfte, Hotels, Gaststätten, verwaiste Schaufenster, Ausverkauf-Schilder. Die vergangenen Jahre mit all den Verboten und Einschränkungen und Krisen bis heute haben Spuren hinterlassen und die Verlierer alleingelassen. Im Außenviertel nahe des Bahnhofes harren arme Menschen aus. Dort gibt es noch mehr Leerstand, und die Wege und Straßen sind ungepflegt. Der Bahnhof selbst ist eine Schau, pünktlich fahren Züge ein und aus. Im Supermarkt nahe dem Hotel sondiert ein alter Mann in seinem Einkaufswagen, welche Waren er wieder herausnehmen könnte, müsste. Er schaut in seine Geldbörse. Die Preise der Lebensmittel – sie sind hoch, höher noch als bei uns in Deutschland.

Dass dazu noch clevere unverschämte Mogelpackungen in Mode kommen, darüber wird in Medien und unter der Kundschaft geschimpft. Ich lese, dass eine französische Supermarktkette mit Aufklebern auf Lebensmitteln vor diesen versteckten Preiserhöhungen warnen will, die bis zu 40 Prozent betragen sollen. Der Bock macht sich zum Gärtner? Der alte Herr rollt seinen halbleeren Wagen an die Kasse, er kann nicht selbst die Warencodes scannen, eine Verkäuferin hilft ihm und schaut wie er traurig. Abends lese ich auf Internetseiten, dass die französische Tafel in Not sei. Es fehle Geld zur Sicherung des laufenden Betriebes. Über 2.000 Ausgabestellen gibt es in Frankreich. Und da kommt ausgerechnet der Reichste der Franzosen ins Spiel: Bernard Arnault, Gründer des Luxusunternehmens LVMH. Zehn Millionen spendet er. Ihm schlägt Kritik entgegen, besser sollte er gut Steuern bezahlen und sich nicht als Wohltäter in Szene setzen. Auch die Regierung in Paris setzt sich in Szene und lässt sich nicht lumpen. Die rückt nochmal 15 Millionen heraus.

Nie wieder Krieg

Der Besuch einer alten Militäranlage im Hafen von Saint Nazaire am nächsten Tag macht mich erneut nachdenklich. Tatsächlich hatten die Deutschen, also meine, unsere kriegerischen Vorfahren einen Bunker mitten am Ozean hingezimmert, in dem Dutzende U-Boote Unterschlupf fanden. Was für eine Verschwendung von Beton, was für eine Demonstration von Macht, was für ein Wahnsinn. Noch heute kann man ein U-Boot in einer solchen Anlage sehen – dieses ist nun ein altes französisches Gefährt. Wie groß und überbordend waren damals die Anstrengungen, die technologischen, baulichen Leistungen, so eine Anlage zu errichten für böse Zwecke, denke ich mir. Es würde heute erhebliche Mittel verschlingen, wollte man diesen Klotz am Atlantik abreißen. Ich finde gut, dass die Anlage ein Museum und uns allen Mahnung ist. Nie wieder Krieg.

In einem Buchladen stapeln sich gleich am Eingang viele Exemplare des neuen Werks eines alten Präsidenten: „Le temps de combats“ (übersetzt in etwa: Es ist Zeit zu kämpfen). Nicolas Sarkozy widerspricht den Militaristen im Land, er fordert diplomatische Anstrengungen statt die Fortsetzung des Krieges und endlich Realitätssinn, erfahre ich in einer Rezension. Dass er für seine Worte heftig angegriffen wird, lese ich auch. Kriegsmüde sein ist gerade nicht in Mode.

Die Kunst, mutig und frei zu leben, zelebriert von Künstlern

Die Uferpromenade von Saint Nazaire wird am Abend zum Freilufttheater, eine Truppe junger Burschen spielt dem begeisterten Publikum auf einer Bretterbühne mitten im Sand ein fetziges, temporeiches Stück vor, pantomimisch, tänzerisch, akrobatisch, überbordend, fantasievoll. Die Botschaft ist klar: Lebt, haltet zusammen, Schwierigkeiten, Krisen sind überwindbar, wenn man sich wehrt. In den Tagen in Frankreich erlebe ich einige solcher Momente intensiven künstlerischen Schaffens und beeindruckender Lebendigkeit, ich wünschte, diese uns froh machenden Menschen haben ein gutes Auskommen. Mich freut, dass Frankreich in Sachen Förderung von Musikern, Schauspielern, Tänzern, bildenden Künstlern nicht ganz schlecht aufgestellt sein soll…


Theater am Hafen von Saint Nazaire

Dann endlich – Paris, die schöne, die hässliche Hauptstadt

Nach dem Meer folgt die Hauptstadt. Unweit der zentralen Bibliothek von Paris, ein gigantischer Gebäudekomplex mit einer ebenso grandiosen vielstufigen Holztreppe gen Seine, liegt mein Quartier für ein paar Tage. Das Wochenende hat begonnen, die Sonne scheint, der Himmel ist so blau, wie er vielleicht lange Zeit nicht mehr war. An den Ufern der Seine und ihrer Ausläufer tummeln sich viele schöne junge und alte Menschen. Ein Ufer-Abschnitt ist in kleine Theater-Rondelle untergeteilt, in deren Mitte getanzt, geflirtet, diskutiert wird. Salsa, Tango, Rock ‘n Roll. Die Welt wird umarmt. Zwischen den Tanzenden, Verweilenden, Frohen verkaufen traurige junge schwarze Männer eiskalte Getränke. Ein, zwei Euro für ein Wasser, etwas mehr für eine Bierdose oder ein Mixgetränk erbitten und erhalten sie. An den Tanzenden vorbei wiegen sich ausgebuchte Ausflugsschiffe auf der Seine.


Die Menschen umarmen den Sommer, sie tanzen – Paris

Mitten in der Stadt findet wieder das Sommerfest „Strand Paris“ statt. Livemusik, Livemusik, Livemusik und andere Kulturformen inklusive. Kleine Bands spielen auf, Duos interpretieren Chansons. Ein alter Puppenspieler zieht an den Strippen einer kleinen Figur, die die Passanten begeistert. Es gibt Bier, 7, 8, 9 Euro kostet der Spaß. Die, die nicht so viel ausgeben wollen und können, haben alles halt auch so dabei, was den kulinarischen Rahmen für einen magischen Abend an der Pariser Seine perfekt macht.

Ich finde einen festen Imbiss, wo das Bierchen fünf Taler kostet und der Wirt eine richtig coole Socke ist (aber nicht wegen des Preises). Sein Gesicht ist durchfurcht von Falten und grau sein Haar. Er wirkt froh, das Bier und der Wein fließen, seine Mitarbeiter schwitzen, sie bleiben freundlich, und all die Not in Frankreich ist für den Abend weit weg. Bald ist wieder Herbst, dann weht wieder ein anderer Wind, verrät der Wirt mir und schaut stirnrunzelnd hoch auf die Straße, die Stadt, dort wo Menschen wieder ihren Protest austragen werden. Denn nichts ist gerade gut. Die Polizei ist schon bereit, überaus präsent, perfekt ausgestattet.


Nahe des Louvres. Armut 23

Der Gegensatz zu all der Lebensfreude ist die Not. Sie ist in Paris vielfältig und zunehmend in den Straßen und Parks zu sehen. Das Elend ist in der reichen Stadt, dem reichen Land groß. Der Reichtum ist zu sehen, zunehmend, gern heftig oder dezent gezeigt, in exklusiven Innenhöfen, hinter schönen Fassaden versteckt. Die Kulisse Paris ist prächtig. Das Gegenteil davon, die Armut, grassiert, Schmerz erzeugend. Ich war schon oft in Paris, aber so viele Obdachlose unter Brücken und selbst auf der Rue de Rivoli gegenüber dem Rathaus illusionslos sitzend – dort, wo der berühmteste auf Foto verewigte Kuss geschossen wurde – wie dieses Mal im Jahr 2023 habe ich noch nicht gesehen. Am Eifelturm versuchen fliegende, illegale Händler, den Touristen Mini-Eifeltürme zu verkaufen. Sie schauen immer mal um sich: Die Gendarmen könnten schnell um die Ecke kommen und sie verjagen, verhaften, beschimpfen und Stärke zeigen.


Luxushotels, Luxusautos – Paris 23 hat viel davon zu bieten

Das Haus von Victor Hugo

Einer der schönsten Parks von Paris ist der Place de Vosges. Ich besuche das Haus von Victor Hugo, das in dem Quartier steht. Hugo schrieb „Die Elenden“. Im Gebäude befindet sich seine Wohnung, ziemlich originalgetreu eingerichtet und mit zahlreichen Exponaten ausgestattet. Auch ein Originaldruck eines Buches, Manuskripte, Notizen zu „Die Elenden“ und anderen Werken sind zu besichtigen. Auf einem Gemälde ist ein kleiner Junge, im Schnee liegend, zu sehen, blau angelaufen, verloren in der Kälte. Ob er erfriert? Hugo beschrieb in seinem Roman die unwürdigen Lebensumstände der Unterschicht, klagte sie unerbittlich und deutlich an. In diesen Tagen würde er vielleicht einen ähnlichen Roman schreiben müssen über die Menschen, die unter Brücken der Stadt in Zelten hausen. Es sind sehr viele Zelte in diesem Sommer… In einer weiteren musealen Einrichtung, dem Stadtmuseum, sind einige beeindruckende historische Gemälde ausgestellt, die beinah „fotoecht“ ebenfalls notleidende Franzosen zeigen, an Suppenküchen anstehend, im Dreck lebend, das ist so lange her. Und heute? Sind wir im 21. Jahrhundert wirklich nicht weiter?

Der Präsidentenpalast ist hermetisch abgeschirmt

Der gewählte Präsident eines demokratischen Landes wird bewacht, als stünde ein Überfall bevor. Als hätte er Angst. Vor dem eigenen Volk? Vor den Russen? Vor den Afrikanern? Die Straße vor dem Palast, dem Elysee, war früher mal frei zugänglich, zur Freude der Touristen, die einen Blick in den Hof wagen konnten und vielleicht sogar mal den Chef selbst erblickten. Nebenan befindet sich die Botschaft der USA, vor der Boller an Boller und zahlreiche französische Uniformierte schwer bewaffnet Sicherheit erzeugen sollen. Wenn das das Land ist, welches uns allen Frieden, Freiheit und Wohlstand bringt, warum muss es sich dann so verbarrikadieren?

Wieder daheim. Ein Resümee. Ausblick in den Herbst. Gespräch mit Sebastian Chwala

Die Reise neigt sich dem Ende entgegen, noch zwei Stationen lege ich ein, ich passiere Verdun, der Erste Weltkrieg kommt einem in den Sinn, Remarques „Im Westen nichts Neues“, die ganze Sinnlosigkeit, Menschen gegeneinander auf Schlachtfelder und in Gräben zu schicken. In Nancy sehe ich mitten am Tag in der Sonne Pärchen im Park tanzen. Tango. Tanzen, ja, wir sollten viel mehr tanzen. Dann nach 1.000 Kilometern Rückfahrt bin ich wieder daheim.

Frankreich war beeindruckend. Doch die Meldungen über all die gesellschaftlichen Entwicklungen der Grand Nation sind ernüchternd, sie empören. Das Land driftet auseinander, sogenannte Reformen greifen, die vergeblich von vielen Bürgern abgelehnte und heftig bekämpfte Rentenreform, die Reform der Polizei, der Armee. Aufrüstung pur. Und Milliardär Arnault kauft fleißig Aktien, um noch reicher zu werden.

Unruhen in den Vorstädten, Polizeipräsenz und Polizeigewalt, Proteste dagegen

Ich kontaktiere meinen Freund und Frankreich-Fachmann, den Politologen Sebastian Chwala. Er erzählt, dass eine neue Protestwelle Frankreich erfasst. „Zahlreiche Organisationen und soziale Initiativen haben einen Aufruf gestartet. Darauf kam es in mehreren Dutzend französischen Städten zu Demonstrationen gegen die grassierende Polizeigewalt. Es wurden reale soziale Perspektiven für die Menschen in den französischen Banlieues gefordert“, so Sebastian Chwala, der besorgt ist, dass die Übergriffe der Polizei gegen Teile der Bevölkerung zunehmen, der Staat damit sozusagen fortwährend Stärke zeigt. Es ist Schwäche. In Sachen Wahlen berichtet er, dass Teilerneuerungswahlen der zweiten parlamentarischen Kammer, dem Senat, stattfanden. 78.000 sogenannte große Wähler, davon 95 Prozent Kommunalpolitiker, waren dazu aufgerufen. Sebastian Chwala kommentiert: „Die traditionell erdrückende Mehrheit der Rechten wurde bestätigt. Die dominierenden Republikaner gewannen 143 Sitze. Großer Verlierer war die Macron-Partei „Renaissance“, die von 23 auf 16 Sitze schrumpfte. Andere liberale Parteien gewannen Mandate hinzu.


Überall Lieferservice – meist von schwarzen Bürgern geleistet

Macronismus pur

Im Politikalltag nimmt der „Macronismus“ derweil wieder Fahrt auf, neue Projekte, sozial- und wirtschaftspolitische Reformen sind geplant. Ich vernehme von Chwala: „Die sehen schlicht weitere Steuersenkungen für die Kapitalseite vor. Die einfachen Bürger werden damit beglückt, dass die Zuzahlungen für Medikamente steigen. Macron lehnt Forderungen nach Preisstopps und Lohnerhöhungen ab. Ihm scheint die soziale Situation der Geringverdiener egal zu sein.“

Und weiter gehen die Nachrichten aus dem schönen Frankreich. Experte Chwala: „Zum Beginn dieses Schuljahres fehlen in Frankreich über 3.000 Lehrer. Außerdem wurden über 2.000 Grundschulklassen gestrichen. Die strukturellen Ausfälle an Lehrpersonal werden notdürftig durch Menschen gedeckt, die ohne jede Vorerfahrung kurzfristig eingestellt werden und nicht selten nach wenigen Tagen wieder das Handtuch werfen. Man muss noch sagen, dass sie nur einen Bruchteil dessen, was in Deutschland gezahlt wird, verdienen. Unternommen wird dagegen seitens Macrons nichts. Die Lehrer werden alleingelassen.“


Plakate überall – Macron, Präsident der Reichen

Und 2024, Paris und Olympia? Ich frage Sebastian Chwala, was das wohl werden wird. Ich erlebte in Paris im August 2023 einen internationalen Sportwettbewerb, Radfahren in der City, und hatte kein gutes Gefühl – an zahlreichen Punkten standen Polizisten und Militär mit Maschinengewehren im Anschlag. Die Obdachlosen werden 2024 zu Olympia wohl verbannt, sie würden den schönen Anblick einer großen Stadt stören. Die kleinen Buchstände entlang der Seine werden womöglich geschlossen bleiben, aus Sicherheitsgründen. Sebastian Chwala berichtet, dass die Sicherheit in der Stadt durch ein umfassendes Überwachungssystem der Menschen vor Ort gewährleistet werden soll. „Das wird aber gruselig, eine umfassende Gesichtserkennung und Bewachung sind geplant. Der Besuch der Wettbewerbe wird, nebenbei, eine sehr teure Sache, also nichts für normale Leute.“

Schließlich gibt es noch die Information, dass Macron bis Ende des Jahres seine Soldaten, 1.700, aus dem afrikanischen Niger nach Hause holen will. Frankreich, die alte Kolonialmacht, Zeit wird’s.

Der Sommer in Frankreich, in Paris, das Aufatmen war schön. Die Heftigkeit der Lebensfreude verstehe ich angesichts des beginnenden Herbstes und der großen Sorgen umso mehr. Alles Gute, ihr Franzosen!