Der neue Krieg in Nahost: Eine vorhersehbare Katastrophe

Der neue Krieg in Nahost: Eine vorhersehbare Katastrophe

Der neue Krieg in Nahost: Eine vorhersehbare Katastrophe

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

Der erneute Krieg in Nahost war eine vorhersehbare Katastrophe, die „im Westen“ politisch zunehmend verdrängt wurde. Um diesen Krieg zu beenden, ist weit mehr erforderlich als ein Waffenstillstand. Spätestens jetzt müssen auch die befreundeten Staaten Israels erkennen, dass die immer wieder geforderte Zwei-Staaten-Lösung nicht nur das Recht der Palästinenser ist, sondern die einzige wirkliche Garantie für die Sicherheit Israels. Von Jürgen Hübschen.

Der Überfall der HAMAS

Über die „Operation Al-Aksa-Flut“, den Überfall der HAMAS auf Israel, wurde und wird in allen Medien ausführlich berichtet, sodass auf die Darstellung der aktuellen Ereignisse in diesem Beitrag bewusst verzichtet wird. Es geht vielmehr um die Konsequenzen für die Sicherheit Israels, die Folgen für die palästinensische Autonomiebehörde und die gesamte Nahmittelost-Region und auch darum, wie ein solcher Überfall, der offensichtlich generalstabsmäßig geplant war, überhaupt möglich sein konnte. Last, but not least muss bewertet werden, was dieser Angriff für das deutsch-israelische Verhältnis bedeutet, weil die Aussage der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel „Die Sicherheit Israels ist Teil der deutschen Staatsräson“ weiterhin Gültigkeit hat.

Die Konsequenzen für die Sicherheit Israels

Der Überfall der HAMAS hat gezeigt, dass die israelische Regierung nicht in der Lage ist, die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Die von Ministerpräsident Netanjahu geführte Koalition ist offensichtlich unfähig, die eigenen Grenzen zu sichern, und die israelische Luftverteidigung konnte einen solchen massiven Raketenangriff nicht vollständig abwehren. Das hat dazu geführt, dass sich die Menschen in Israel in ihrer Gesamtheit, egal, wo sie wohnen, zum ersten Mal nicht mehr sicher fühlen. So bleiben Israel für die Zukunft grundsätzlich nur drei Möglichkeiten.

  1. Die endgültige Zerschlagung und Vernichtung der HAMAS.
    Das kann und wird nicht gelingen, weil eine Trennung/Unterscheidung zwischen den Bewohnern des Gaza-Streifens und der HAMAS nicht möglich ist. Auch die Unterstützung der HAMAS durch den Iran oder auch Katar wird Israel nicht unterbrechen können. Katar hat seit mehr als zehn Jahren eine diplomatische Vertretung in Gaza. Auch die Zusammenarbeit der libanesischen Hisbollah mit der HAMAS kann durch Israel nicht beendet werden.
  2. Ein verstärkter Schutz der Grenzen durch elektronische Installationen wie Kameras, elektrische Zäune, Minengürtel und andere Formen der technischen, auch unterirdischen Absicherung. Ein solches Vorhaben ist letztlich zu 100 Prozent nicht zu realisieren.
  3. Intensive Verhandlungen mit den Palästinensern über eine Zwei-Staaten-Lösung, die unbedingt auch eine Anbindung des Gaza-Streifens an das Westjordanland und eine einvernehmliche Lösung für den Status von Jerusalem enthalten muss.

Es liegt eigentlich bereits jetzt auf der Hand, dass nur die dritte Möglichkeit zielführend sein kann.

Die Folgen für die palästinensische Autonomiebehörde

Die Folgen für die palästinensische Autonomiebehörde, die Fatah und auch für Präsident Abbas sind noch nicht absehbar. Die Fatah-Partei von Abbas und die Hamas hatten nach mehr als zehn Jahren Konflikt am 12. Oktober 2017 in Kairo ein Versöhnungsabkommen vereinbart. Ziel war eine einheitliche Herrschaft im Gazastreifen und im Westjordanland. Dieses Abkommen wurde bislang nicht umgesetzt. Die HAMAS hatte 2006 zwar die Wahlen in Gaza gewonnen, sich danach aber nie mehr Neuwahlen gestellt, vergleichbar mit Präsident Abbas, der seit 2009 die Amtsgeschäfte ohne parlamentarische Legitimierung führt. Anfang Mai 2011 unterschrieb Abbas gemeinsam mit dem damaligen Chef der HAMAS, Ismail Haniyya, ein Versöhnungsabkommen, das eineinhalb Jahre zuvor die ägyptische Führung im Auftrag der Arabischen Liga aufgesetzt hatte. Beide Fraktionen planten, eine gemeinsame Übergangsregierung zu bilden und danach mit zwei Jahren Verspätung Parlamentswahlen durchzuführen. Das ist bis heute nicht geschehen.

Deshalb sieht sich Abbas auch nicht in der Verantwortung für den Überfall der HAMAS, und die palästinensische Autonomiebehörde ist für die israelische Regierung überhaupt kein Ansprechpartner. Gespräche über ein Ende der Kampfhandlungen können also nur mit Mohammed Deif geführt werden, der die aktuelle „Operation Al-Aksa-Flut“ leitet, ergänzend vielleicht noch mit Khalil al-Hayyeh und Zaher Jabareen, die beide im Libanon leben. Al-Hayyeh gehört dem Politbüro der HAMAS an und ist bei der Organisation für die Beziehungen zur islamischen und arabischen Welt zuständig. Jabareen ist stellvertretender Chef der Hamas im Westjordanland und zuständig für das Register der Organisation über inhaftierte Palästinenser in Israel. Auch Ziyad Al-Nakhaleh, Chef des Islamischen Dschihad in Palästina, hat seinen Sitz in Beirut. Der Islamische Dschihad in Palästina ist, wie die HAMAS, vor allem im Gazastreifen aktiv.

Die Bedeutung für die gesamte Nahmittelost-Region

Dieser erneute Nahost-Krieg destabilisiert die gesamte Region in einem noch nicht einzuschätzenden Ausmaß. Bereits jetzt befindet sich Israel de facto in einem Zwei-Fronten-Krieg, nämlich gegen die HAMAS im Gaza-Streifen und die Hisbollah im Südlibanon. Die Arabische Liga ist in ihrem Verhältnis zu Israel völlig zerstritten. Es haben in der jüngeren Vergangenheit zwar immer mehr arabische Staaten die Existenz Israels anerkannt, und Israel hat nach Ägypten und Jordanien auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Botschaft eröffnet, aber andere arabische Staaten lehnen diplomatische Beziehungen mit Israel nach wie vor ab, einige, wie z.B. Irak, Libyen und Syrien, bezeichnen Israel sogar immer noch als Feind. Nur Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate haben mit Israel einen Friedensvertrag geschlossen. Basierend auf dem jeweiligen Verhältnis zu Israel fallen auch die Stellungnahmen der arabischen Staaten völlig unterschiedlich aus. Welche Reaktionen es letztlich geben wird, hängt auch von den Bevölkerungen dieser Staaten ab und ist im Moment noch unkalkulierbar.

Als nicht arabischer Staat in der Region hat sich der Iran auf die Seite der von Teheran generell unterstützen HAMAS gestellt, ignoriert die darauf erfolgten Drohungen „des Westens“ und erklärt auch offen seine anhaltende Unterstützung der Hisbollah im Libanon.

Der offensichtlich für Israel überraschende Angriff der HAMAS

Der breit angelegte und sorgfältig vorbereitete Überfall der HAMAS hat die politische Führung Israels mutmaßlich völlig überrascht, weil es offensichtlich weder durch den israelischen Geheimdienst Mossad noch seitens der in der Region äußerst präsenten CIA entsprechende Warnungen gegeben hat. Das ist in einer Zeit der immer perfekteren Luftraumüberwachung und Fernmeldeaufklärung in einem direkten Nachbarland nicht nachvollziehbar. Auch die Möglichkeit des Einsatzes von Agenten, der sogenannten „human intelligence“, ist in einer Situation wie in Gaza und Israel eigentlich unbeschränkt möglich, zumal ja auch viele Palästinenser aus Gaza in Israel arbeiten.

Wie die Vorbereitungen für einen solchen Militärschlag in Israel unbemerkt bleiben konnten, ist für alle Fachleute ein totales Rätsel. Es gibt eigentlich nur drei theoretische Erklärungen für ein solches geheimdienstliches Desaster: Entweder waren die zuständigen Stellen völlig unaufmerksam, und das über eine ziemlich lange Zeit, oder man hat die gemachten Beobachtungen gänzlich falsch beurteilt. Die dritte Möglichkeit ist, dass die politische Führung zwar über entsprechende Warnungen verfügt hat – z.B. soll es solche aus Ägypten gegeben haben –, diese aber ignoriert hat in dem überheblichen Glauben, man könne einen eventuellen Angriff leicht abwehren. Eine solche erfolgreiche Abwehr hätte für Premierminister Netanjahu den Vorteil gehabt, von den aktuellen, vor allem mit seiner geplanten Justizreform verbundenen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken.

Was immer der Grund für diese „Geheimdienstpanne“ gewesen sein mag, die Zeche bezahlen die Menschen mit und ohne Uniform in Gaza und in Israel selbst.

Der Überfall der HAMAS und seine Bedeutung für das deutsch-israelische Verhältnis

Der Überfall der HAMAS auf Israel könnte auch für Deutschland schwerwiegende Folgen haben. Die damalige deutsche Bundeskanzlerin Merkel hatte öffentlich erklärt, dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei. Der damalige Bundespräsident Gauck hatte dieser Aussage zwar widersprochen, aber für die derzeitige Bundesregierung ist diese Feststellung immer noch verbindlich. Das heißt im Klartext, dass Deutschland Israel unterstützen muss, wenn es dessen Sicherheit bedroht sieht. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu hat kurz nach dem Überfall gesagt, dass sich Israel im Krieg befände, und mittlerweile hat die israelische Regierung offiziell den Kriegszustand erklärt. Nach geltendem Völkerrecht ist Jerusalem befugt, andere Länder zu bitten, Israel bei der Verteidigung zu unterstützen. Sollte Israel eine solche Bitte an Deutschland richten, wäre die deutsche Regierung verpflichtet, das Land ggf. auch militärisch zu unterstützen.

Nach dem Grundgesetz ist die Bundeswehr dafür zuständig, die äußere Sicherheit unseres Landes zu gewährleisten und es zu verteidigen. Wenn die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist, gilt diese Verpflichtung auch für die Unterstützung Israels im Kampf gegen die HAMAS, falls Jerusalem darum bittet. Im äußersten Fall könnte das nicht nur bedeuten, dass die deutsche Luftwaffe, die in der Vergangenheit bereits gemeinsame Manöver mit den israelischen Luftstreitkräften durchgeführt hat, Ziele in Gaza bombardiert, sondern Bundeswehrsoldaten an einer israelischen Bodenoffensive teilnehmen müssten, falls Israel dies beantragen würde. Diese Tragweite hatte der damalige Bundespräsident Gauck wohl gesehen, als er der Aussage von Angela Merkel widersprach.

Bewertende Zwischenbilanz der aktuellen Situation in der Nahmittelost-Region

Die aktuelle Lage ist völlig unübersichtlich und ihre Darstellung in Teilen auch widersprüchlich. Um eine weitere Destabilisierung der Lage und die Ausweitung des Krieges zu verhindern, muss umgehend eine diplomatische Initiative gestartet werden, um zunächst einmal einen Waffenstillstand zu erreichen. Für den Fall einer Bodenoffensive dürften die Verluste auf beiden Seiten immens werden. In Gaza ist der Einsatz schwerer Waffen kaum möglich, sodass eine solche Offensive im Kampf Mann gegen Mann geführt werden müsste. Ein solcher ist in einem dicht bebauten Gelände, ohne auch nur den Ansatz einer Front zu erkennen und gegen einen nicht uniformierten Gegner kaum zu gewinnen, jedenfalls nicht in kurzer Zeit. Hinzu kommt, dass bei einer solchen Entwicklung die Kämpfe in Israels Norden an Intensität zunehmen würden, weil die Hisbollah aus dem Süden des Libanon weiter auf israelisches Territorium vorstoßen würde. Sollten die USA, die einen Flottenverband ins östliche Mittelmeer verlegt haben, aktiv in die Kämpfe eingreifen, müsste Israel mit Angriffen der iranischen Milizen aus Syrien rechnen.

Vor diesem Hintergrund müssen die UNO, die EU und auch die Arabische Liga umgehend aktiv werden, um einen Stopp der Kampfhandlungen zu erreichen. Die von Israel geplante vollständige Blockade des Gaza-Streifens ist mit dem geltenden Völkerrecht nicht zu vereinbaren, weil das letztlich eine Geiselnahme der palästinensischen Bevölkerung ist.

Auf einen Waffenstillstand muss endlich mit der Etablierung einer Zwei-Staaten-Regelung begonnen werden. Dabei muss sich Israel darüber im Klaren sein, dass die Voraussetzung dafür die Umsetzung aller bisherigen UNO-Resolutionen ist – das heißt, dass die Grenzen von 1967 wieder Gültigkeit haben müssen. Dazu gehören eine einvernehmliche Regelung für das Westjordanland, die Rückgabe der völkerrechtswidrig annektierten syrischen Golanhöhen, die Umsetzung des von der UNO geforderten Status von Jerusalem, das Israel ebenfalls völkerrechtswidrig annektiert hat, und das Ende des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus. Für die bestehenden Siedlungen muss eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung gefunden werden. Von palästinensischer Seite muss garantiert werden, dass es keinerlei Gewaltaktionen mehr gegen Israel gibt.

Der Überfall der HAMAS ist ohne Wenn und Aber zu verurteilen, wäre aber aus meiner Sicht vermeidbar gewesen, wenn sich alle Beteiligten in den vergangenen Jahrzehnten ehrlicher und intensiver um die Realisierung einer Zwei-Staaten-Lösung bemüht hätten, anstatt sich mit regelmäßigen Verlautbarungen zu begnügen und zu beruhigen, dass man sich dieser verpflichtet fühle.

Last, but not least hat dieser neue Krieg einen Nebeneffekt für den Ukrainekrieg. Dieser ist nämlich – zum eindeutigen Nachteil für die Ukraine – völlig aus den Schlagzeilen verschwunden, und es stellt sich die Frage, ob die USA willens und in der Lage sind, zwei Verbündete in verschiedenen Kriegen gleichwertig zu unterstützen. Auf der anderen Seite dürfte es in Moskau nicht ungern zur Kenntnis genommen werden, dass Russlands Angriff auf die Ukraine nicht mehr im Fokus der westlichen Medien ist.

Titelbild: Shutterstock / Rokas Tenys

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