Paradies und Resterampe. Private Schulen florieren, öffentliche verkommen.

Paradies und Resterampe. Private Schulen florieren, öffentliche verkommen.

Paradies und Resterampe. Private Schulen florieren, öffentliche verkommen.

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Der Trend zur Privatschule ist ungebrochen. Nie gab es mehr freie, kirchliche und kommerzielle Lehranstalten, nie wurden sie von mehr Schülern besucht. Dabei bildet das staatliche Bildungssystem erst den Boden für die Alternativen mit sozial und ethnisch homogenerem Lernumfeld bei besserer technischer und personeller Ausstattung. Gewinner sind ein paar wenige, die Gesellschaft als Ganze verliert. Von Ralf Wurzbacher.

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Auf dem Birklehof im Südschwarzwald gibt es Schule aus dem Bilderbuch. Inmitten malerischer Idylle lernt Kind hier, „menschlich, mündig, mutig“ zu werden. Leitbild des seit über 90 Jahren bestehenden Internats ist ein Ausspruch des Religionsphilosophen Georg Picht, der die Einrichtung in Hinterzarten nach dem Zweiten Weltkrieg zehn Jahre lang leitete: „Gemeinsam mit ihren Schülern begeben sich die Lehrer auf die Suche nach der verlorenen Weisheit, wie man ein Mensch wird.“ Die Voraussetzungen dafür könnten besser nicht sein: Die durchschnittliche Klassengröße beträgt 14, um 200 Schüler kümmern sich 43 Lehrkräfte. Auf dem Lehrplan stehen spezielle Förderlinien in Musik und Naturwissenschaften, es wird viel Englisch gesprochen im Unterricht, es gibt „Erlebnispädagogik“ und „Demokratiebildung“, alle Arten von Sport können praktiziert werden, dazu kommen Dutzende Arbeitsgemeinschaften von Theater über Töpfern, Schreinern bis Backen. Kurzum: „Wir fördern jede und jeden, je nach Bedürfnissen, Potenzialen, Talenten und Interessen.“

Jede und jeder sind freilich längst nicht alle. Zutritt zum Garten Eden erhält nur, wessen Eltern jährlich 45.600 Euro zuzüglich 7.000 Euro Kaution hinblättern – oder besonders „begabte und leistungsbereite“ Kinder, die per Stipendium beziehungsweise mit Sozialnachlässen unterstützt werden. Zum Vergleich: Die Pro-Kopf-Ausgaben pro Schüler an Deutschlands öffentlichen Schulen beliefen sich 2021 (aktuellere Zahlen liegen nicht vor) auf im Mittel 9.200 Euro und damit gerade einmal ein Fünftel dessen, was auf dem Birklehof Standard ist. Natürlich wird an Normalschulen nicht geschlafen (zumindest nicht bei Nacht) und eine Rundumverkostung braucht es auch nicht. Andererseits steuert das Land Baden-Württemberg laut Wikipedia im Rahmen der Privatschulfinanzierung immerhin noch rund 20 Prozent des Gesamtbudgets bei, was rechnerisch pro Kind nahezu besagten 9.200 Euro entspricht. Was bedeutet: Den Insassen wird die übliche Grundausstattung samt fünfmal so teuren Extras zuteil.

Staat übernimmt PR-Arbeit

Aber die staatliche Förderung endet bei Weitem nicht mit den Zuwendungen. Noch viel mehr profitiert die Privatschullobby vom Niedergang des öffentlichen Schulsystems, der in der Verantwortung von Bund und vor allem der Bundesländer unter dem Vorwand von „Sparzwängen“, „Schwarzer Null“ und „Schuldenbremsen“ seit mindestens zwei Jahrzehnten exerziert wird. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie viele Eltern allein wegen des seit mehreren Jahren grassierenden Lehrermangels ihren Nachwuchs an eine Lehranstalt der Sorte Waldorf, Montessori oder Volkswagen (kein Witz) schicken. Eigentlich könnten die Betreiber ihre Werbeabteilung getrost schließen, das Marketing besorgen die Kultusminister – kostenlos und mit höchstem Ertrag.

Die neueste „Erfolgsmeldung“ setzte in der Vorwoche das Statistische Bundesamt ab. Im Schuljahr 2022/23 besuchten demnach 9,2 Prozent der knapp 8,7 Millionen Kinder und Jugendlichen an allgemeinbildenden Schulen eine Privatschule. Vor 20 Jahren hatte der Anteil noch bei sechs Prozent gelegen. Dabei zählte die Behörde 3.784 reformpädagogische, konfessionelle oder kommerzielle Schulen, rund 50 Prozent mehr als Anfang der 2000er-Jahre. Nimmt man die privat betriebenen Berufsschulen hinzu, kommt man auf knapp 6.000 Einrichtungen, ein Aufwuchs von über 80 Prozent in den zurückliegenden drei Jahrzehnten. Allein zwischen 2019 und 2023 sind weit über 100 neue allgemeinbildende Privatschulen aufgetaucht.

Seit 2000 verringerte sich die Zahl der öffentlichen Schulen um 24 Prozent von 38.022 auf 28.882, dabei wurden knapp 2.100 Grundschulen dichtgemacht oder zusammengelegt. Den größten Zulauf mit einem Anteil von 12,3 Prozent aller Schüler haben Privatschulen in Mecklenburg-Vorpommern, gefolgt von Sachsen (11,5 Prozent) und Bayern (11,2 Prozent). Am Ende der Skala liegt Schleswig-Holstein mit 5,6 Prozent. Die Betroffenen lassen sich das viel kosten. 2019 (neuere Daten liegen nicht vor) wurde für knapp 600.000 Kinder in der Lohn- und Einkommenssteuer Schulgeld geltend gemacht. Nach Angaben der Wiesbadener Statistiker legten deren Eltern im Durchschnitt 2.030 Euro jährlich für einen Privatschulplatz hin. Für 30 Prozent dieser Kinder wurden 2.000 Euro und mehr im Jahr fällig, bei 60 Prozent waren es unter 1.500 Euro. Das teuerste Pflaster war der Rhein-Kreis Neuss, wo im Mittel 7.690 Euro pro Platz verlangt wurden, gefolgt von Düsseldorf (7.090 Euro) und dem Hochtaunuskreis (6.840 Euro).

Dauerdepression

Das Bundesamt ordnete die Entwicklung so ein: „Je höher die Bedeutung von Bildung eingeschätzt wird, desto mehr Wert legen Eltern auf eine individuelle Förderung ihrer Kinder.“ Das ist nur ein Teil der Erklärung. In politischen Sonntagsreden erleben Sprüche von „Zukunftschancen“ und „Deutschlands wichtigster Ressource“ einen ungebrochenen Boom, in der Realpolitik steckt Bildung dagegen in der Dauerdepression. Es geht immer mehr Eltern nicht mehr darum, dem Sprössling eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, sondern ihn von den miserablen Zuständen an den öffentlichen Schulen fernzuhalten. Bröckelnde Turnhallen, stinkende Schulklos und Prügelszenen auf dem Schulhof liefern hierfür reichlich Argumente.

Eine große Rolle spielt auch das mit der Demographie begründete Schulsterben, im Speziellen in Ostdeutschland. Wo reihenweise Lehranstalten von der Bildfläche verschwinden, stoßen Alternativen in die Lücke, die die Schule buchstäblich „im Dorf lassen“ wollen. Den Betreibern ist das gar nicht zum Vorwurf zu machen, und Schulen in freier Trägerschaft sind in aller Regel auch nicht auf Gewinnmaximierung aus. Gerade im Bereich Grundbildung ist Deutschland noch weit davon entfernt, ein Eldorado der Bildungsindustrie zu sein, zumal der Profitjagd durch gesetzliche Restriktionen enge Grenzen gesetzt sind. Oft geht die Initiative für eine Neugründung von den Eltern vor Ort aus, weshalb auch immer mehr sogenannte Stadtteilschulen auf den Plan treten. Das Engagement ist in den allermeisten Fällen gut gemeint, auch wenn etwa die Reformpädagogik nach Rudolf Steiner nicht jedermanns Sache sein muss.

Legendäre Ungleichheiten

Oft reicht schon das Versprechen, es besser als die Staatlichen zu machen. Wobei das nicht zwingend in Erfüllung gehen muss. Klar ist die Klientel an Privatschulen „erlesener“, auch wenn das im Grundgesetz verankerte „Sonderungsverbot“ die Entstehung eines Mehrklassenschulsystems eigentlich verhindern soll. Auch den Privaten fehlt es an professionellen Pädagogen, und sozial auffällige, social-media-gestörte, bewegungsfaule Kinder machen um besser betuchte Familien keinen Bogen. Vor fünf Jahren hatte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) durch die Friedrich-Ebert-Stiftung untersuchen lassen, wie die privaten Schulen im Vergleich mit den staatlichen Schulen abschneiden. Ergebnis: Schüler an Privatschulen erzielten „keine besseren Leistungen als solche an öffentlichen Schulen“. Weshalb es Zeit sei, mit der „Legendenbildung“ über die Privaten Schluss zu machen.

Dieses Urteil erscheint jedoch allzu pauschal, denn die Forscher hatten sehr wohl Unterschiede, wenngleich kleine, in den Bereichen Zuhören (Deutsch) und Hörverstehen (Englisch) zugunsten der Privaten ermittelt, während in puncto Leseverstehen (Englisch) am Gymnasium die Staatlichen besser abschnitten. Entscheidender ist jedoch, dass per Studiendesign Einflussfaktoren wie soziale Herkunft und Migrationshintergrund der Schüler ausgeblendet wurden, indem man quasi „statistische Zwillinge“ gegenüberstellte. Das Problem: Laborbedingungen existieren im wirklichen Leben nicht, und bezieht man besagte Parameter mit ein, sind die Privatschulen mit ihrer sozial und ethnisch homogeneren Schülerschaft doch deutlicher im Vorteil. Und dass sich die Schere weiter öffnet, erscheint angesichts von immer mehr verwahrlosten, lernunfähigen Kids, Gewalt, Mobbing, Hilfs- und Burnoutpädagogen vorgezeichnet. Dem ist nicht mit Schönfärberei des öffentlichen Schulwesens, sondern nur mit einer besseren Sozial- und Integrationspolitik beizukommen – vor allem mit der Einstellung zusätzlicher Lehrkräfte und Sozialarbeiter in großem Stil.

Papiertiger Sonderungsverbot

Aber dafür fehlt ja angeblich das Geld, während die Ampelregierung für die Aufrüstung der Bundeswehr, für teure Industrieansiedlungen oder den Import von schmutzigem US-Fracking-Gas Hunderte Milliarden Euro locker macht. Und in die privaten Schulen wird selbstredend auch allerhand investiert. Dass die sich vornehmlich aus Elternbeiträgen finanzieren, ist ein verbreitetes Vorurteil. Was für Eliteinternate wie den Birklehof gilt, ist nämlich die große Ausnahme. Die Regel besagt hingegen, dass die Einrichtungen bis zu einem hohen Grad staatlich alimentiert werden. Eine vor vier Jahren veröffentlichte Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) hat dafür Daten aus den Jahren 2009 bis 2013 ausgewertet. Danach erreichten damals zehn Bundesländer allein über die Zuschüsse einen Kostendeckungsgrad von mindestens 85 Prozent. Nimmt man den Eigenanteil und die Erlöse aus Schulgeldern hinzu, dann konnten die Privatschulen in Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Schleswig-Holstein, Hessen und Hamburg im Schnitt mindestens zehn Prozent mehr Geld ausgeben als ihre staatlichen Pendants. Sachsens Grundschulen kamen gar auf 130 Prozent, die Gymnasien und Oberschulen etwa 120 Prozent.

Was die Sache so absurd macht: Gerechtfertigt werden die Hilfen mit besagtem Verbot der „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“. Dafür muss nach höchster Rechtsprechung ausgerechnet der Staat sorgen, indem er die Privatschulen in einer Weise unterstützt, damit diese keine zu hohen Schulgelder verlangen müssen. Fakt ist aber, dass die Privaten trotz Stipendienvergabe, Einkommensstaffelung bei den Beiträgen oder Härtefallregelungen eine gänzlich anders zusammengesetzte Schülerschaft aufweisen als die öffentlichen Schulen, womit sie systematisch gegen das Sonderungsverbot verstoßen. Das muss nicht einmal an hohen Gebühren liegen, eine entscheidende Rolle spielt der Habitus und damit der Bildungsgrad der Eltern selbst, die um die öffentliche Schulmisere wissen und wissen, wie man sich ihr entzieht. Dagegen landen etwa Kinder aus Hartz-IV-Verhältnissen völlig selbstverständlich auf einer Staatsschule.

So läuft Privatisierung

Das veranlasste selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schon 2018 zur Feststellung, „die soziale Segregation zwischen privaten und öffentlichen Schulen hat in den vergangenen 20 Jahren deutlich zugenommen“. Kinder aus einkommensstärkeren und „bildungsnahen“ Familien würden immer häufiger privat beschult, während sich „Bildungsferne“ in den Einrichtungen immer rarer machten. Man muss davon ausgehen, dass sich der Trend vor dem Hintergrund der verschärften gesellschaftlichen Ungleichheiten sowie des forcierten Substanzverlusts des staatlichen Schulwesens noch verstärkt hat. Bloß was folgert das DIW daraus: „Wenn es auch künftig neben öffentlichen Schulen private Schulen geben soll, müssen jedoch die öffentliche Förderung und andere Regelungen einen fairen Wettbewerb zwischen beiden Schultypen ermöglichen.“ Soll heißen: Private Träger gehören noch stärker gepäppelt als bisher, womit die Öffentlichen endgültig zur „Resterampe“ der gesellschaftlich Abgehängten geraten.

In der Logik von Wirtschaftsliberalen ist das nur konsequent, und natürlich ist die Entwertung von Schule und Bildung kein Zufallsprodukt, sondern politisch gewollt. Wenn Geld über alles geht, muss sich auch alles zu Geld machen lassen, Dummheit inklusive. Wie die Privatschulen boomt in Deutschland die Nachhilfeindustrie, die sich fest in der Hand von Finanzinvestoren befindet.

Wo die Reise hingehen könnte, offenbart ein Blick zu den Hochschulen. Viel mehr als im Schulbereich dominieren auf diesem Feld schon heute rein kommerzielle Anbieter. Binnen 20 Jahren hat sich ihre Zahl von 49 auf 114 mehr als verdoppelt. Damit befindet sich heute bundesweit jede vierte Hochschule in privater Hand, die aktuell von etwa zwölf Prozent der Studierenden bevölkert werden. Anfang der Nullerjahre waren es noch 1,6 Prozent. Und die Staatsunis? Die sind chronisch unterfinanziert. Privatisierung wie im Paradies!

Titelbild: Allik/shutterstock.com